Die Zeit und ihr „Geist“ ereignen sich in uns: Standen vor 50 Jahren noch der strafende und heilige Gott im Vordergrund der Predigten in den damals noch vollen Kirchen, erinnerten sich noch alle an die Erfahrungen von Tod und Vernichtung, standen der Krieg mit seinen Schrecken noch vor Augen, so wandelte sich dies in den kommenden Jahrzehnten immer mehr: Gottes Angesicht wurde immer freundlicher und netter, am Ende blieb nur noch der liebe Gott übrig, dem gar nichts anderes übrig blieb, als die Menschen zu lieben und zu verstehen.
I.
Der nette Mann aus Nazareth brachte dann als Bruder Jesus die Angelegenheit auf den besagten Punkt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Und für die Menschen, die in Not sind oder leiden, für die wird ja gesorgt. Ein gutausgebautes soziales und diakonisches Netz sorgt dafür, dass keiner aus dem Rahmen fällt. So könnten wir uns zurücklehnen und sprechen: „Lebe dein Leben so einigermaßen anständig! Bringe deine Tage so gut rum, wie es halt geht. Es kann dir doch gar nichts geschehen!“
Aber da erhebt sich Einspruch vom „Heiligen Israels“. Er ist alles andere als harmlos. Als Jesaja in den Tempel geht, ist er der Priester aus der reichen Jerusalemer Oberschicht, dem es gut geht und der weiß, wer Gott ist und wie man ihm zu dienen hat. Ihm begegnet dieser andere, der alles andere als harmlose Gott und er erkennt: „Mein Leben, dass ich so sicher und wohlgefällig und scheinbar tadellos führe, ist im Angesicht Gottes nichts“. Bitte verstehen Sie das nicht moralisch! Sie können davon ausgehen, dass Jesaja ein hochanständiger Mensch war. Einer, der ganz und gar durchdrungen ist von Gottes Gegenwart und das in seinem Alltag auch gelebt hat. Aber genau dieser Jesaja erkennt: Selbst in dem besten Leben, selbst bei der größten Anstrengung und selbst bei bestem Willen, werde ich immer wieder schuldig werden.
Gegenüber dem Gott, der die Welt erfüllt und verändert, sind wird nur schuldige Menschen. Wir drehen uns nur um unsere Belange, unsere kleinen Sorgen, unsere winzigen und eigenmächtigen „Problemchen“. Wir stimmen nicht ein in den Lobgesang der Herrlichkeit Gottes. Wir loben Gott eben nicht von ganzem Herzen, ganzer Seele und allen unseren Kräften. Die Seraphen, diese himmelleichten Wesen im Tempel, haben sich selbst völlig vergessen. Sie leben nur noch für Gott. Sie loben Gott ohne Ende. Das unterscheidet sie von uns Menschen so unendlich weit. Wir sind eben oft genug nicht seine Boten, die seine Nachricht weitersagen, sondern ganz furchtbar mit uns beschäftigt. Und ich frage mich das immer wieder als Mann der Kirche, und damit auch als berufener Diener Gottes, ob ich die Botschaft vom „Heiligen Israels“ auch an die Menschen ausrichte. Ob ich den Menschen sage, worauf es ankommt und was der einzige Trost im Leben und im Sterben ist.
II.
Ist es der „Heilige Israels“, von dem wir sprechen? Ist das der Gott, dessen „Ehre aller Lande voll ist“? Was kommt aus unserem Munde, wenn wir von Gott sprechen? Lautet unser Glaubensbekenntnis nicht vielmehr: „Ich glaube an die Allmacht des Geldes und seine Fähigkeit, alles sich damit zu erkaufen und zu bekommen. Ich glaube an die Macht des schönen Lebens, dass ich für mich haben möchte. Ich glaube an die Macht der Wirtschaftsunternehmen, die sich durchsetzen und die richtigen Regeln für alle aufstellen, gegen die sich kein Mensch wehren kann. Ich glaube an die Pflichten der anderen, dass mein Gehalt oder meine Rente regelmäßig auf meinem Konto zu sein haben. Ich glaube daran, dass es mir gut gehen muss und ich gesund bleiben muss bis ins hohe Alter hinein. Ich glaube daran, dass ich mein kurzes Leben so gut und so intensiv wie möglich zu leben habe. Ich glaube daran, dass der Erfolgreiche auf dem richtigen Weg ist und wenn er sich durchsetzt, das nur recht und billig ist. Ich glaube daran, dass ich immer und zu jeder Zeit versichert sein muss und alle gesundheitlichen Risiken abgefedert werden müssen”.
Jesaja erkennt in einer letzten Klarheit: eine Gesellschaft, die sich dem Erfolg und der Macht verschrieben hat, eine Gesellschaft, die darüber Gott vergessen hat, die ihm zutiefst gleichgültig gegenübersteht, ist letztlich dem Untergang geweiht. Und der beginnt nicht irgendwo draußen bei den Menschen in der Welt. Das Gericht Gottes beginnt mitten in der Kirche. Hier bei uns. Es ist wie bei einem Baum, erst ist ein Ast krank dann ein paar Äste und dann wird der Baum von innen hohl. Und wir würden ihn vielleicht von außen noch als gesund einstufen. Aber der Schaden ist schon so groß, dass der Baum gefällt werden muss.
Jesaja ist kein Unbeteiligter, der kaltschnäuzig die Schuld seines Volkes feststellt und dann sagt: Weg mit ihnen! Er steht mitten unter ihnen „Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin selbst unreiner Lippen und lebe unter einem Volk, das unreine Lippen hat“. Er steht in der Gemeinschaft der Schuldigen mittendrin, nimmt sich nicht heraus, sondert sich nicht ab. Er weiß um die tiefe Verflochtenheit in das Leben seines Volkes hinein. Vielleicht wäre es in unserer Kirche und in unserem Land leichter, wenn nicht immer eingeteilt würde, in Schuldige, Unschuldige und Betroffene. Wenn auch dem Reinsten und dem Besten die Erkenntnis dämmern würde: „Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und lebe unter einem Volk mit unreinen Lippen“. Wenn das Schuldbekenntnis das Erste wäre, was über unsere Lippen käme, das Erste und Wichtigste in der Kirche und dann auch in unserem Land. Wenn nicht immer mit Fingern gezeigt und Steine geworfen würden, aber stattdessen wir an die eigene Brust schlagen würden. Dann könnte uns auch dies andere widerfahren, dass uns unsere Schuld vergeben wird, wir einen neuen Anfang wagen dürfen auf sein Wort hin.
III.
Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen. Damit die Vergebung der Schuld auch geschieht, haben wir die Beichte in unseren Gottesdiensten. Wir bekennen unsere Schuld, damit wir frei werden und neu anfangen können im Angesichte Gottes. Und die Vergebung der Schuld wird uns von außen zugesprochen. So wie dieser Seraph eine glühende Kohle vom Altar nimmt und Jesajas Lippen von außen reinigt. Unsere Schuld kann ich eben nicht mit mir und meinem Gewissen ausmachen. Vielleicht ist deswegen die Beichte in unserer Kirche verloren gegangen und müsste neu wiedergewonnen werden, weil wir alles mit uns selbst ausmachen. Aber wenn wir alles mit uns selbst ausmachen, bleibt auch der Trost aus. Und wie viel an Schuld bleibt ungeklärt, bleibt bei uns selbst hängen. Und wie erschütternd ist es, wenn es angesichts des Todes oder in schwierigen Lebenslagen dann an den Tag kommt.
Aber das ist doch die frohe Botschaft Gottes: Dass Gott uns ernst nimmt in unserer Schuld, indem er sie uns vergibt. Gott nimmt uns ernst darin. Er schafft einen neuen Anfang und der will uns zugesprochen werden. Und wie befreiend ist das, wenn uns da jemand zuspricht: „Geh hin in Frieden, dir geschehe, wie du glaubst“. Darin liegt das Geheimnis des Glaubens, dass wir ganz und gar selbst vergessen und ganz und gar ihn hören, und dann neu sprechen lernen. Seine fröhlich machende Heiligkeit begleite uns und schenke uns ein offenes Herz und offene Ohren.