Der Gesang der Christen, insbesondere ihr Gemeindegesang, wird häufig mit der Reformation in Verbindung gebracht. Denn der Reformator Martin Luther hat die Bedeutung des Singens wieder erkannt und es auch gezielt genutzt, um die Inhalte unseres Glaubens der ganzen Gemeinde nahe zu bringen. Aber eigentlich ist das Singen – präziser: der Lobgesang – von Anfang an ein zentraler Bestandteil des jüdischen und damit dann auch des christlichen Glaubens. Ich möchte das gern an zwei Beispielen zeigen.
I
Erstens: Das identitätsstiftende Erlebnis des Volkes Israel war die Befreiung aus der Gefangenschaft in Ägypten. Direkt als Erstes nach diesem Befreiungsgeschehen am Roten Meer stimmt Mose mit dem Volk das in 2. Mose / Exodus 15 überlieferte Loblied an.
Zweitens: Jedes Jahr vergegenwärtigen die Juden seither dieses Befreiungs-Ereignis im Passahfest. Zur Liturgie der Passahfeier gehören einige Lieder. Als Jesus mit seinen Jüngern das letzte Passahmahl gefeiert hatte, heißt es: „Als sie den Lobgesang gesungen hatten, gingen sie hinaus an den Ölberg“ (Matthäus 26,30). Jesus singt den Lobgesang und geht in die Passion und in den Tod am Kreuz.
Diese beiden Beispiele zeigen nicht nur die Bedeutung des Lobgesangs, sondern auch noch eine beachtenswerte Verknüpfung, die uns auch im Predigttext begegnen wird: Lobgesang und Freiheit. Die Befreiung aus Ägypten führte beim Volk Israel zum Lobgesang, und mit einem Lobgesang auf den Lippen geht Jesus in das Leiden, durch das er die befreit, die an ihn glauben.
Das Singen geistlicher Lieder richtet mental auf den lebendigen Gott aus. Und das nicht nur über den Text, sondern umso mehr, als die Musik und das Singen ihren eigenen Zugang zur Seele und damit ihre ganz besondere Kraft haben, uns zu erreichen und zu beeinflussen. Ein biblisches Beispiel für die Kraft der Musik finden wir bei Saul, von dem der böse Geist wich, wenn David die Harfe spielte (1. Samuel 16,14-23). Deshalb finden sich in der Bibel, besonders in den Psalmen, dem Gesangbuch der Bibel, immer wieder Aufforderungen wie: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“ (Psalm 103,1) oder „Alles, was Odem hat, lobe den Herrn“ (Psalm 150,6). Gott loben hilft uns, die Verbindung mit dem ewigen Gott lebendig zu halten. Der Beter von Psalm 119 sagt: „Ich lobe dich des Tages siebenmal um deiner gerechten Ordnungen willen“ (Vers 164). Von Daniel berichtet die Schrift, dass er dreimal am Tag das Gebet pflegte. So halten es die Juden bis heute.
Die Christen, die ganz am Anfang ja auch alle Juden waren, haben regelmäßige Gebetszeiten in ihren Alltag übernommen. Alte Kirchenordnungen aus der apostolischen Zeit nennen solche Gebetszeiten, dabei ist auch ein Gebet um Mitternacht, das Hippolyt von Rom, der um 200 n. Chr. lebte, in seiner Kirchenordnung erwähnt. In vielen Ordensgemeinschaften wird dieses sogenannte Stundengebet bis heute gepflegt.
II
Im Predigttext zum heutigen Sonntag begegnet uns vermutlich das Stundengebet zur Mitternacht. Hören wir den Text aus der Apostelgeschichte des Lukas, Kapitel 16, die Verse 23-34.
(Lesung des Predigttextes)
Versetzen wir uns in die Situation von Paulus und seinem Begleiter Silas: Der Beginn der zweiten Missionsreise des Paulus war von einem Zerwürfnis überschattet. Er konnte sich mit seinem Mit-Missionar Barnabas in einer Personalfrage nicht einigen, und sie gingen deshalb getrennte Wege. Mit seinem Begleiter Silas durchzog er verschiedene Gegenden in Klein-Asien, der heutigen Türkei. Sie spürten, dass sie wiederholt durch den Heiligen Geist gehindert wurden, dort zu missionieren, wo sie es eigentlich vorhatten. So passten sie ihre Reiseroute an und gelangten heraus aus dem Binnenland nach Troas, das an der Mittelmeerküste liegt, an der Ägäis. Dort hatte Paulus nachts die Erscheinung eines mazedonischen Mannes, der sie nach Mazedonien rief. Sie verstanden diesen Ruf als eine Weisung Gottes, nach Mazedonien aufzubrechen, und damit erstmals nach Europa. Mit dem Schiff gelangten sie dorthin und suchten Philippi auf, eine Stadt mit zentraler Bedeutung, etwa 15 km im Landesinneren gelegen.
Eine jüdische Gemeinde finden sie dort nicht, wohl aber gottesfürchtige Frauen, die sich am Sabbat zum Gebet treffen. Sie suchen sie auf, und ihre Worte fallen bei Lydia auf fruchtbaren Boden. Sie kommt mit ihrem ganzen Haus zum Glauben, lässt sich taufen und so entsteht die erste europäische Gemeinde. Als Paulus aber eine Frau von ihrem Wahrsagegeist befreit, kommt es zum Aufstand gegen sie, und die Richter lassen sie ohne Gerichtsverhandlung schlagen und ins Gefängnis werfen. Es war bis hierher eine Reise mit mancher Enttäuschung, einigen Hindernissen und einer guten Portion Gegenwind. Auch wenn wir in anderen Umständen leben: Enttäuschung, Hindernisse und Gegenwind kennen wir auch.
Nachdem der Gefängniswärter die Missionare sehr sicher weggesperrt hat, kommen sie zur Ruhe. Und da heißt es dann: „Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und lobten Gott“. Uns kommt dies Verhalten eher unnatürlich vor. Wir denken, dass man sich in einer solchen Situation doch eher leidtut, dass man überlegt, wie man da rauskommt, was man vielleicht noch zu befürchten hat und dass man sich um Hilfe von außen bemüht. Aber Paulus und Silas beten, sie wenden sich an Gott, und sie loben ihn. Um das zu verstehen, helfen uns vielleicht drei Gedanken:
Als Erstes, dass sie die Situation aus ihrem sehr frischen und lebendigen Glauben heraus anders einordneten, als wir es heute täten. So wie die Apostel, von denen es in Apostelgeschichte 5 heißt, dass sie fröhlich von dem Hohen Rat fortgingen, weil sie würdig gewesen waren, um Seines Namens willen Schmach zu leiden. Wir sehen, dass bei ihnen eine tiefgreifende Umkehrung der verfolgten Ziele und Prioritäten stattgefunden hatte. Dies beraubte die Gegner des Evangelium ihrer Machtmittel. Die feindlichen Angriffe liefen so ins Leere. Durch Misshandlung konnten die Apostel und die ersten Christen nicht mundtot gemacht werden. Im Gegenteil: Durch ihre authentische freudige Annahme des Leidens gaben sie Zeugnis, wodurch andere Menschen die Kraft des Glaubens erkennen konnten und selbst auch zum Glauben fanden. So wie dann der Spruch entstand: "Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche". Diese über-natürliche Art zu leiden, war ein Zeugnis für ihren Glauben an den lebendigen Gott.
Als Zweites denke ich, dass dieser für uns ungewohnte Umgang des Paulus und Silas mit der leidvollen Situation vielleicht auch darin liegt, dass sie das biblische Wort „Fürchtet euch nicht“ wirklich durch den Glauben tief verinnerlicht hatten und es ihren Zugang auch zu solchen schwierigen Lebensumständen völlig veränderte.
Als Drittes vermute ich außerdem, dass sie gewohnheitsgemäß das Stundengebet verrichtet haben, zu dem das Singen von Psalmen gehört. Um Mitternacht war Zeit für das Stundengebet. Auch durch die widrigen Umstände ließen sie sich nicht davon abhalten.
III
Symeon, ein Kirchenlehrer, der um das Jahr 1000 lebte, überliefert, dass Psalm 118 Bestandteil des mitternächtlichen Stundengebets war. Hören wir einige Verse aus diesem Psalm, den Paulus und Silas beteten: Verse 5.6 „In der Angst rief ich den Herrn an; und der Herr erhörte mich und tröstete mich. Der Herr ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht; was können mir Menschen tun?“ Verse 13.14: „Man stößt mich, dass ich fallen soll; aber der Herr hilft mir. Der Herr ist meine Macht und mein Psalm und ist mein Heil.“ Vers 17: „Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herrn Werke verkündigen.“ Der Psalm endet mit den Worten: „Du bist mein Gott, und ich danke dir; mein Gott, ich will dich preisen. Danket dem HERRN; denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich.“ Diese Worte, die aus der Angst und Not ins Gotteslob führen, klangen durch das Gefängnis. Wie viele Psalmen mit Klage anfangen und den Beter ins Lob Gottes führen. Darin liegt die Kraft, die verändernde Kraft der Psalmen. Bis heute. Von Albert Schweitzer stammen die Worte: „Die Musik ist Abbild einer unsichtbaren Welt...“
Vielleicht haben Paulus und Silas auch noch Psalm 40 gesungen, wo es heißt: „Er hat mir ein neues Lied in meinen Mund gegeben, zu loben unsern Gott. Das werden viele sehen und sich fürchten und auf den Herrn hoffen“ (Vers 4). Denn genau das erleben sie dann: In dieser prekären Situation in den ersten Tagen der europäischen Kirche geschieht ein großes Erdbeben. Damit bekennt sich Gott sehr beeindruckend zu der Lage und zeigt an, dass er bei allem Widerstand gegenwärtig ist und dass grundlegende Änderungen stattfinden und er Neues bewirkt. Dieses Neue manifestiert sich in Freiheit. In von Gott geschaffener, lebensdienlich genutzter Freiheit. Das ist für den jüdischen und den christlichen Glauben charakteristisch: In dieser Freiheit sollen die, die zu Gott gehören, ihm und den Menschen dienen. Wir hatten eingangs schon den biblischen Zusammenhang von Loblied und Freiheit gesehen, hier finden wir ihn wieder.
Von allen Gefangenen fallen die Fesseln ab und die Gefängnistüren öffnen sich. Wäre es eine menschlich erreichte Freiheit gewesen, z.B. durch eine Revolte, wären sofort alle Gefangenen fort gewesen. Aber es war göttlich geschaffene Freiheit. Sie ist nicht zum Missbrauch da, sondern um dem Leben zu dienen.
Keiner der Gefangenen flieht, der Kerkermeister kann das nicht fassen. Das übersteigt seine Logik und Erfahrung. Was er hier erlebt, führt ihn spontan zur Erkenntnis, dass der wahre Gott mit Paulus und Silas im Bunde ist. Ihm wird schlagartig klar, dass sich in dieser Situation die Machtverhältnisse verkehrt haben. Er steht auf der Seite der weltlichen Macht, die eindeutig die schwächere ist. Ihre Werkzeuge, die dicken Mauern, die starken Türen und Ketten, sind hinfällig gegenüber der göttlichen Macht, die auf der Seite von Paulus und Silas ist. In dieser Konstellation ist er verloren und muss gerettet werden. Paulus sagt ihm, wie er gerettet werden kann, und dieses Wort gilt seither allen Europäern bis heute: „Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!“
Wer sich darauf einlässt, dem wird es ergehen, wie es in Psalm 106 heißt: „Sie glaubten an seine Worte und sangen sein Lob“ (Vers 12). Und er wird die Erfahrung machen, die Psalm 18 besingt: „Du gibst meinen Schritten weiten Raum“ (Vers 37). Denn Lobsingen führt in die Freiheit.