Gott lässt dem Leiden nicht das letzte Wort
Das Kreuz Jesu darf nicht ignoriert werden
Predigttext: Johannes 18, 28-19,5 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
Da führten sie Jesus von Kaiphas zum Prätorium. Es war früh am Morgen. Und sie gingen nicht hinein, damit sie nicht unrein würden, sondern das Passahmahl essen könnten.
Da kam Pilatus zu ihnen heraus und fragte: Was für eine Klage bringt ihr gegen diesen Menschen vor?
Sie antworteten und sprachen zu ihm: Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten ihn dir nicht überantwortet.
Da sprach Pilatus zu ihnen: So nehmt ihr ihn hin und richtet ihn nach eurem Gesetz. Da sprachen die Juden zu ihm: Wir dürfen niemand töten.
So sollte das Wort Jesu erfüllt werden, das er gesagt hatte, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde.
Da ging Pilatus wieder hinein ins Prätorium und rief Jesus und fragte ihn: Bist du der König der Juden?
Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus, oder haben andere dir’s über mich gesagt?
Pilatus antwortete: Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan?
Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde. Nun aber ist mein Reich nicht von dieser Welt.
Da fragte ihn Pilatus: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin es. Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.
Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit?
Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm.
Es besteht aber die Gewohnheit bei euch, dass ich euch einen zum Passahfest losgebe. Wollt ihr nun, dass ich euch en König der Juden losgebe?
Da schrien sie wiederum: Nicht diesen, sondern Barrabas! Barrabas aber war ein Räuber.
Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln.
Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt und legten ihm ein Purpurgewand an.
Und traten zu ihm und sprachen: Sei gegrüßt, König der Juden! Und schlugen ihm ins Gesicht.
Da ging Pilatus wieder hinaus und sprach zu ihnen: Seht, ich führe ihn heraus zu euch, damit ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm finde.
Und Jesus kam heraus und trug die Dornenkrone und das Purpurgewand. Und Pilatus spricht zu ihnen: Seht, welch ein Mensch!
Zum Predigttext
Zur Veranschaulichung der Brutalität des uns bereits so Vertrauten, aber doch ungeheuer Brutalen, können im Gottesdienst, wo möglich, Bilder aus Otto Pankok, Die Passion, gezeigt werden. Otto Pankok, Maler, Grafiker und Bildhauer (1893 – 1966) schuf in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts 60 Bilder zur Passion von einer ungeheuren Expressivität und Eindringlichkeit. Auch heute sind manche der Werke kaum erträglich in ihrer überscharfen Deutlichkeit. Dem Geschehen in Joh 18 -19 allerdings sind sie sehr angemessen. Selbstverständlich konnten die Bilder in der damaligen Zeit, im Nationalsozialismus, nicht gezeigt werden, galten als „entartet“. Die SS- Wochenzeitung „Das Schwarze Korps“ schrieb dazu kurz vor Beschlagnahme der Werke: „ Bewusst ist hier Christus als Jude mit allen rassischen Merkmalen dieser Rasse dargestellt… Der mit Vorliebe angewandte aszetische Ausdruck gleicht Beispielen praktischen Anschauungsunterichts aus einer Schwachsinnigenanstalt, wo körperliche Missgestaltung und idiotische Körperverrenkung die verheerenden Wirkungen erbkranken Nachwuchses aufzeigen.“ (zitiert nach: Otto Pankok, Die Passion, Vorwort von Rainer Zimmermann, 2. Aufl. 1975) Pankok sah sich in der Nachfolge Matthias Grünewalds und anderer alter Meister.
Die Verfasserin dieser Predigtarbeit arbeitet als Pfarrerin in einer großen Einrichtung der Eingliederungshilfe, der Johannes-Diakonie Mosbach, und erkennt das Diabolische und Drohende der SS-Ideologie bei der Verurteilung der Werke Pankoks. Leidenschaftlich nahm Pankok Partei für die Entrechteten und Gequälten und stellt somit ein deutliches „Ecce homo“ gegen Gewalt und Brutalität in der Moderne. Nebenbei bemerkt, Pankok lebte längere Zeit mit und bei Sinti und Romafamilien, die er als Opfer der Faschisten erkannte und in seinen Bildern darzustellen versuchte. Eine Wiederentdeckung seiner Bilder lohnt.
Wochenspruch:
Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diesen und
gebe sein Leben als Lösegeld für Viele.
Ältere und neue ungewohnte (Passions-)Lieder passen zur Predigtarbeit:
"Nun gehören unsere Herzen" (Fritz Bodelschwingh) (EG 93)
"Nun sich das Herz von allem löste" (Jochen Klepper) (EG 532 )
Im neuen Anhang zum EG „ Wo wir dich loben, wachsen neue Lieder“, Ausgabe Baden 2018:
"Du für mich, wie so groß ist die Liebe" (127, zitiert in der Predigt)
"Verraten, verspottet" (203)
Gedicht von Lothar Zenetti (1926 – 2019):
Ich kenne einen-
Der ließ sich die Suppe versalzen
Der ließ sich die Chancen vermasseln
Der ließ sich von uns das Handwerk legen
Der ließ sich für dumm verkaufen
Der ließ sich einen Strick drehen
Der ließ sich an der Nase herumführen
Der ließ sich über’s Ohr hauen
Der ließ sich von uns nicht kleinkriegen
Der ließ sich von uns in die Pfanne hauen
Der ließ sich von uns auf’s Kreuz legen
Der liße sich von uns Nägel mit Köpfen machen
Der ließ sich zeigen, was ein Hammer ist
Der ließ sich von uns festnageln auf sein Wort
Der ließ sich seine Sache was kosten
Der ließ sich sehen am dritten Tag
Der konnte sich sehen lassen.
Die Bibel, aufgeschlagen vor meinen Augen! Sie erzählt, berichtet. Sie hält wach, was wir von Jesus wissen. Seit 2000 Jahren haben Menschen gesammelt und aufgeschrieben, was unbedingt der Nachwelt aufbewahrt bleiben soll. Sie berichtet von dem schrecklichen Geschehen der Verhaftung Jesu, von den Abgründen der Menschen, denen Jesus ausgeliefert wurde, dem Quälen, der Folter, dem Leid, der Häme, die er erdulden musste. Nichts wird beschönigt! Alles wurde bewahrt für spätere Generationen, für uns!
I.
Es wäre ja kaum auszuhalten, wenn nicht weiterginge, nachdem so Schreckliches berichtet wird: In meiner Bibel, natürlich auch in Ihrer, ist auf derselben aufgeschlagenen Seite im Johannes-Evangelium der Bericht über den Prozess Jesu bei Pilatus, die Folter, die Kreuzigung, Jesus Sterben, seine Grablegung und auch – Gott sei Dank!! – am Ostermorgen seine Auferstehung zu lesen. Wie könnte die Welt sonst aushalten, was dem Sohn, in dem ja Gott selber erschienen ist, angetan worden ist! „ O große Not, Gott selbst ist tot!“, in einem alten Kirchenlied aus dem 17. Jahrhundert wurde so gesungen. Friedrich Spee von Langenfelds Lied, überarbeitet von Johann Rist, heißt in der jetzigen Version: „O große Not, Gotts Sohn liegt tot. Am Kreuz ist er gestorben …“. Ist die alte Aussage fast nicht auszuhalten? Wurde hier zu radikal gedacht? – Ohne Ostern müssten wir verzweifeln. Alle! Das Dunkel der Welt, die Abgründe der menschlichen Seele führten in ein drohendes Nichts!
Was wusste Jesus selber vom Fortgang der Passion, als er vor Pilatus geführt wurde? Hatte er selber die Hoffnung, dass ja noch alles gut werden würde? Oder müssen wir uns tatsächlich vorstellen, dass Jesus so sehr Mensch wurde, dass er nicht nur dem Anschein nach litt, was ihm angetan wurde, sondern in völliger Verzweiflung und Ausgeliefertsein sterben musste? Wie oft wurde versucht, die Passion Jesu irgendwie zu beschönigen, die Schuld von den Menschen abzuwaschen, so wie Pilatus sich theatralisch (im Matthäusevangelium 27,24, nicht bei Johannes) die Hände wäscht. „Iiiich war das nicht! Iiiich habe ja keine Schuld, das waren die Anderen. Iiiich halte mich raus!“, in dieser Versuchung stehen doch alle.
Wenn Jesus Gott selbst war, könnte er sich doch auch im tiefen Inneren rausgehalten haben, nur so tun, als ob er leiden müsste. In Wirklichkeit sei Jesus gar nicht gestorben, kurz vor der Hinrichtung wurde er ausgetauscht gegen einen, irgendeinen anderen, der an seiner Stelle all das erleiden musste. Diese Botschaft vertraten nicht wenige christliche Gruppierungen (z. B. auch die Anthroposophen und die Christengemeinschaft sowie andere esoterische Gruppen) in der Zeit nach Jesus. Da wird das Radikale der Passion nicht ausgehalten, das ja Fragen an das Menschsein an sich stellt. Doch: Wir müssen das aushalten: Gott selber ist gestorben – für uns – wegen uns! Die ganze Bitterkeit, ohne Hintertürchen, hat Jesus erlitten. Unwidersprochen! Damit hat er Zeugnis abgelegt für die Wahrheit, die auch die bittere Wahrheit über den Mensch selbst ist.
Pilatus, der von nichts eine Ahnung hat und nicht versteht, wessen Spiel er da spielen soll, fragt ihn: „Was hast du getan?“ Und Jesus antwortet: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“. Pilatus ist verwundert: „ So bist du dennoch ein König?“ Jesus spricht, was Pilatus nicht verstehen kann, weil er es nicht verstehen will: „ Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren, und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme”.
II.
Nur wer begreifen kann, dass Jesus die absolute Tiefe und Schuldverflochtenheit der Menschen ernst nimmt, begreift, dass er genau dafür in den Tod gehen wird! Für den Menschen, für die Menschheit! Für mich! Er stirbt den Tod, den der Mensch sterben sollte. Ich und Du! Weil er mich und Dich, jeden Menschen nicht allein lassen will damit. Nicht, dass er es hätte tun müssen. Aus absoluter Freiwilligkeit wurde Gott Mensch, der Mensch Jesus, mein Bruder. Sagen wir es mit einem anderen Wort: aus Liebe! Wer könnte das jemals begreifen! Pilatus schon gar nicht. Der näselt leichtfertig daher: „Was ist Wahrheit?“ In seiner Welt gibt es diese eine Kategorie nicht: Liebe. Er versteht nur Macht und Machterhalt. Darum spielt er das Spiel der Intriganten mit. Soll doch lieber einer unschuldig sterben, als dass ein Aufruhr entsteht. Soll sich doch die Masse der aufgepeitschten Volksseele austoben, bis wieder „Ruhe im Karton“ ist! Peng! Sollen doch die frustrierten Soldaten einen haben, an dem sie ihren Hass auf sich und die Mitmenschen auslassen können. Besser, als wenn sie alle eine Revolte gegen Rom anzetteln.
Pilatus ist der brutale Zyniker der Macht. Er lässt einen Justizmord zu, sehenden Auges, obwohl er um die Unschuld Jesu weiß. Er tut noch so, als er gnädig sein könnte! Er spielt mit zwei Menschenleben: Die Menge darf noch auswählen, welchen er töten lassen soll: den Räuber Barrabas oder Jesus, den König, „nicht von dieser Welt“? Ob Pilatus sich an diesem Spiel hämisch gefreut hat? Sich mächtig fühlte? Wie brutal uns doch die biblische Überlieferung die Abgründe des Menschseins in der Passion vor Augen führt. Und für all diese schrecklichen Menschen ist Jesus gestorben! All diese furchtbaren Wesen liebt er. Ich wäre ein Zyniker wie Pilatus, wenn ich mich selber herausnähme aus dieser Schuldverflochtenheit. Jesus führt auch mir selber die Wahrheit vor Augen. Er ist die Wahrheit und spiegelt sie für mich.
III.
Aus der Verspottung und Quälerei, der Folter der Soldaten wird ein Bekenntnis: „Seht, welch ein Mensch“, so lässt Pilatus Jesus der geifernden Menge vorführen. Mit einem Gewand aus Purpur, einer Krone aus Dornen soll Jesus verhöhnt werden. Aber genau das ist er: Ein Mensch! Der vermutlich einzige Mensch in dieser Menge an diesem Tage, der diesen Titel verdient, ein König in Demut und Verspottung. Auch hier: Weder Pilatus noch die Soldaten, noch die Menge weiß, was sie tun: dass sie den wahren Menschen zeigen. So soll der Mensch sein! Und es ist aus Liebe geschehen, was Jesus mit sich tun lässt! Kaum zu verstehen, mit welcher Passivität Jesus all das geschehen lässt. Auch seinen Tod. In Gott ergeben. All das wäre auch heute nicht auszuhalten, wenn wir nicht von Ostern wüssten. Ostern relativiert die Passion nicht. Es gibt kein lächerlich lachendes: „April, April! Das war alles gar nicht so schlimm“. Doch, es war schlimm, schrecklich! Aber Gott lässt dem Schrecklichen nicht das letzte Wort. Nicht die Verzweiflung bleibt. Gott sei Dank! Von Ostern her begreifen wir die Liebe, die uns geschenkt wurde. Trotz allem. An der Tür der Gefängnisseelsorge, wo ich einige zeitlang gearbeitet habe, steht der gute Spruch. „Ein Freund ist einer, der dich liebt, obwohl er dich kennt!“ So ist Gott.
In einem Lied von Kathi Stimmer-Salzeder heißt es: „Du für mich, wie so groß ist die Liebe, du für mich, deine Arme so weit. / Du am Kreuz, das ist mehr, als ich fassen kann, eine Quelle der Gnade, und so ziehst du mich an. / Du am Kreuz, das ist Ohnmacht, die stärker ist als der Hass und das Dunkel. Welch ein Licht du doch bist! / Du am Kreuz, das ist Kraft zur Versöhnung hin. So wie du zu vergeben, alle Hoffnung darin. / Du am Kreuz, das ist Weg und ist Ziel zugleich, will das Leben ich finden in der Armut so reich.“
Zum Beginn der eigentlichen Passionszeit verfasst Pfarrerin Lallathin eine so eindringliche Predigt über Jesu Leiden, dass sie schon an Karfreitag erinnert. Die Bilder vom Maler Pankok empfiehlt sie in der Betrachtung. Sie beginnt damit, dass im Predigttext nichts beschönigt wird an Jesu Leiden, aber auch auf Ostern wird schon kurz und tröstlich hingewiesen. Was wusste Jesus selbst vom Fortgang der Passion? Für einige christliche, esoterische Gruppen und Moslems ist Jesus garnicht wirklich gestorben. Wir müssen es aushalten, dass Jesus unter Folterqualen für uns gestorben ist. Pilatus und die Soldaten verstehen Jesus nicht. Pilatus will nur ohne Gewissen für Jesus die Volksmassen beruhigen. Jesus lässt sich aus Liebe zu uns kreuzigen. Für unsere Sünden. So kann er bei uns in unserem schlimmsten Leiden ganz nahe sein. Ganz gleich was ich jetzt leide, Jesus ich gehöre zu Dir! Erst von Ostern her ist das ganze Leid Jesu zu ertragen und zu verstehen. Das wird immer wieder eingeflochen in die Predigt. Mit einem sehr tröstlichen Gedicht schließt die aufrüttelnde Predigt über Jesu Qualen hoffnungsvoll und tröstlich ab. Selten habe ich eine so ergreifende Predigt gelesen. Ich hätte nicht den Mut, die Gemeinde so mit der Wahrheit über Jesu Leid zu konfrontieren.