Gott – unsere Mutter

Muttertag

Predigttext: Daniel 9,4-5; 16-19
Kirche / Ort: Aachen
Datum: 09.05.2021
Kirchenjahr: Rogate (5. Sonntag nach Ostern)
Autor/in: Pfarrer Manfred Wussow

Predigttext: Daniel 9,4-5; 16-19 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)

Ich betete aber zu dem Herrn, meinem Gott, und bekannte und sprach:

Ach, Herr, du großer und schrecklicher Gott, der du  Bund und Gnade bewahrst denen, die dich lieben und deine Gebote halten! Wir haben gesündigt, Unrecht getan, sind gottlos gewesen und abtrünnig geworden; wir sind von deinen Geboten und Rechten abgewichen.

Ach, Herr, um aller deiner Gerechtigkeit willen wende ab deinen Zorn und Grimm von deiner Stadt Jerusalem und deinem heiligen Berg. Denn wegen unserer Sünden und wegen der Missetaten unserer Väter trägt Jerusalem und dein Volk Schmach bei allen, die um uns her wohnen.

Und nun, unser Gott, höre das Gebet deines Knechtes und sein Flehen. Lass leuchten dein Angesicht über dein zerstörtes Heiligtum um deinetwillen, Herr!

Neige deine Ohren, mein Gott, und höre, tu deine Augen auf und sieh an unsere Trümmer und die Stadt, die nach deinem Namen genannt ist. Denn wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.

Ach, Herr, höre!
Ach, Herr, sei gnädig!
Ach, Herr, merk auf und handle! Säume nicht – um deinetwillen, mein Gott! Denn deine Stadt und  dein Volk istnach deinem Namen genannt.

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Ach, Ach

Darf ich Ihnen Daniel vorstellen? Er kommt heute ein wenig überraschend. Gerechnet habe ich mit ihm nicht. Meine Gedanken waren eher in Richtung Muttertag unterwegs. Ein bisschen mehr Frühling, dachte ich. Wo wir doch schon so viel mit Corona zu tun haben, hin- und hergerissen sind und sehnsüchtig auf Lockerungen warten. Vielleicht kommt Daniel aber genau richtig. Es klingt so schwermütig, dunkel, bedrängend bei ihm: Immer wieder „Ach“, „Ach Herr“. Tue, mache, höre. Seufzer, immer wieder. Die  Übersetzer haben da zwar ein wenig nachgeholfen, aber der Tenor ist schon klar. Von Gnade und Treue ist die Rede, von Schuld und Sünde, von Zorn und Grimm – und von Ruinen. Da scheinen Heilige Orte sehr mitgenommen zu sein, um nicht zu sagen, in Schutt und Asche zu liegen. Und mit den Heiligen Orten auch viele kleine Geschichten, Traditionen und Träume. Langsam werde ich sogar neugierig.

Der Sonntag heute heißt ganz offiziell „Rogate“ – Bittet, Betet. Nach den letzten Sonntagen, die dem Jubeln und dem Singen gewidmet waren, eine weitere Bitte, eben die Bitte, zu beten. In der Reihenfolge passt das auch. Dass heute – auch – Muttertag ist, ist nicht einmal ein Widerspruch.

Im Briefkasten hatte ich schon Prospekte und im Internet dezente Hinweise. Bilder von glücklichen Menschen sind schön. Was davon gestellt, geschönt oder  käuflich ist, will ich lieber nicht fragen. Doch was Liebe ist, habe ich bei meiner Mutter erfahren. Von den ersten tapsigen Schritten an. Sie war immer da. Bis zuletzt. Da war so manche durchwachte Nacht dabei. Und auch ein Sorgenkind. Richtig danken konnte ich ihr nicht. Jetzt, wo sie nicht mehr lebt, würde ich ihr gerne noch so vieles erzählen, manches auch fragen. Manchmal höre ich sie noch lachen. Dann streife ich mit ihr durch die Wiese, das Gras höher als ich. Die Kindheit ist schnell vergangen. Für meine Bitten hatte sie immer ein offenes Herz, erfüllen konnte sie nicht alles. Dass sie auf vieles verzichtete, habe ich erst viel später gemerkt.

Daniel aber ist heute glücklich. Endlich kommt er auch einmal in einem Gottesdienst vor! Es hat lange gedauert. Alle möglichen Texte sind an ihm vorbeigezogen und haben das Rennen im Kirchenjahr gemacht. Schönere? Edlere? Daniel freut sich, bei uns zu sein. Dass wir Muttertag haben, hat er nicht gewusst. Aber, wer weiß – vielleicht ist sein Besuch der richtige, der beste am Muttertag.

Ruinen

Daniel hat ein Buch geschrieben, das er uns vorstellen möchte. Eine Neuerscheinung. Mal aramäisch, mal hebräisch. Eine Epoche hat es ihm angetan: die Zeit in der babylonischen Gefangenschaft. Ein Volk wird aufgelöst. Was das mit Menschen macht, passt in keinen Roman. Über Nacht ist alles anders. Israel wird in unendlichen Trecks in die Verbannung geführt. Vorher schon wurde der Tempel in Jerusalem in Brand gesteckt. Gottes Wohnung! Hier wohnt doch sein Name. Wohnte … jetzt ist er vertrieben. Auch vertrieben. Wie sein Volk. Der letzte Blick zurück – eine Ruine. Eigentlich ist jetzt alles Ruine. Auch das menschliche Leben. Die Namen der Menschen – verraucht. Die Hoffnung – verraucht. Daniel hat keine Distanz mehr zu der alten Geschichte. Man könnte die Stecknadel fallen hören. Die Stimme Daniels ist leise geworden.

Und dann liest Daniel sein Gebet vor. Ach, Gott, du bewahrst denen, die dich lieben, Bund und Gnade – wir haben gesündigt, wir haben Unrecht angehäuft, wir sind von deinen Geboten abgewichen. Du – wir. Was war denn vorgefallen? Gab es einen Grund für das Desaster in Jerusalem? Was müssten wir jetzt wissen und wissen es nicht?

Ich frage Daniel. Er holt weit aus. Ich merke, dass die Zeit, die er beschreibt, lange vorüber ist. Vier Jahrhunderte etwa. Aber die Wunden sind immer noch nicht verheilt. Neue sindhinzugekommen. Daniel sieht Unrecht und Hass wuchern, Ängste, Verschwörungstheorien und Schuldzuweisungen. Die Menschen wissen nicht, wie es mit ihrer kleinen Welt weitergeht und mit der großen Geschichte schon gar nicht.Wie alles ausgeht. Wie alles gut werden kann. Die Menschen fühlen sich aufgerieben, wie Spielbälle in einer fremden Hand. Da ruht der Blick schnell auf andere Menschen, auf die da – die Fremden, die Anderen, die, die alles schuld sind. Daniel aber liest wieder sein Gebet vor:

„Wegen unserer Sünden und wegen der Missetaten unserer Väter trägt Jerusalem und dein Volk Schmach bei allen, die um uns her wohnen.“  – Schmach bei allen, die um uns her wohnen… Ob Schmach auf Missverständnissen beruht, möchte ich von ihm wissen. Daniel zögert. Nein, schau doch, wie wir dastehen bei den anderen. Als seien wir von Gott verlassen und verstoßen. Als seien wir verloren. Als könne man mit uns alles machen … als seien wir ganz allein.

Daniel möchte, leidenschaftlich, sehen, wohin sich alles entwickelt und wann das Elend endlich verschwindet.  Die alte Geschichte, die er von früher erzählt, ist ja alles andere als alt – sie taucht wie eine Ruine aus dem Nebel auf. Wir sehen sie jetzt. Vielleicht jetzt erst richtig.

Und warum betest du, frage ich ihn? Das ist doch in einem Buch eher ungewöhnlich. Und dann auch noch vor Publikum. Dass es mir fast schon zu intim ist, wollte ich nicht so offen sagen. Daniel schaut mich nur an. Soll ich etwas fordern? Beschwören? Ich habe doch nur das Gebet. In im ruht mein Herz. Ich muss keinen anklagen. Ich muss mich nicht verteidigen. Ich kann sogar die ganze Geschichte in Gottes Hand legen. Und dann sagt er noch: „Wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit.“ Aus Gerechtigkeit wird Selbstgerechtigkeit, aus Barmherzigkeit ein neuer Anfang.

Barmherzigkeit

Gottes große Barmherzigkeit! Wenn wir von Gott und seiner Barmherzigkeit reden, finden wir seine mütterlichen Seiten. In dem Wort  „Barmherzigkeit“ steckt in der hebräischen Sprache der Mutterschoß: in ihm wächst das Leben, in ihm wächst die Liebe. Ein Bild der Geborgenheit. In ihm steckt auch, dass wir alle von ihm geboren werden. Gott – unsere Mutter. Dass er auch Vater ist, gehört zu seinen Geheimnissen. Da mögen Männer sich nichts Falsches einbilden. Und Frauen sich nicht klein machen lassen. Gott passt nicht in unsere Rollen. In unsere Gottesbilder schon gar nicht.

Schauen wir doch einmal mit seinen Augen heute besonders auf Mütter. Was für ein Glück, ein Kind im Arm zu haben, es an die Hand zu nehmen und es in sein Leben zu begleiten. Davon zeugen Fotoalben, gemalte Kinderbilder, Erinnerungsstücke. Manche Mutter ist aber, wie es so heißt, „alleinerziehend“.  Sie hat schon eine eigene Geschichte hinter sich und ein Armutsrisiko vor sich. Viele Mütter sind selbst noch Kinder.In Coronazeiten, oft in kleinen Wohnungen, haben es auch die Kinder und Jugendlichen schwer, ihrem Leben eine Struktur zu geben.

Heute denken wir auch die Mütter, die ihre Kinder schon verloren haben. Im Krieg. Auf der Flucht. In der Dürre. Und wenn sie sie noch haben: wie wird ihr Leben aussehen? Viele Kinder sind schon vom Leben gezeichnet. Viele von ihnen haben sogar schon den Tod gesehen. So manche Liebe muss durch harte Prüfungen. Wenn Kinder krank werden, wenn sie auf die schiefe Bahn geraten, wenn sie alle Kontakte abbrechen. So diskret Mütter sind, manche Verletzung heilt nie.

Die Geschichte, die Daniel erzählt, ist so viel anders nicht. Manches ist traumatisch, manches unheilbar. Aber hat die Geschichte, die Daniel uns erzählt, nicht einen offenenSchluss? Einen offenen Ausgang? Daniel sagt jetzt: Darum bete ich – Gott hält nicht nur den Ausgang offen, er beginnt mit uns immer neu. Wie anders könnte ich davon reden? Wie anders eine Hoffnung erzählen?

„Wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit. Ach, Herr, höre! Ach, Herr, sei gnädig! Ach, Herr, merk auf und handle! Säume nicht – um deinetwillen, mein Gott! Denn deine Stadt und  dein Volk ist nach deinem Namen genannt.“

Haben Sie gemerkt? Gott soll seinetwillen für uns eintreten. Seinetwillen! Denn wir sind nach ihm benannt. Gingen wir verloren – Gott würde mit uns untergehen. Tritt Gott für uns ein – dann ist alles Leben in seiner Barmherzigkeit geborgen. Was immer geschieht: „Lass leuchten dein Angesicht über dein zerstörtes Heiligtum um deinetwillen, Herr!“ Dass Daniel heute zu uns kommt, ist ein Lichtblick.

Aufbewahrer des Abgerissenen

Nelly Sachs, eine jüdische Dichterin, hat Daniel ein Denkmal gesetzt, ein Denkmal mit Worten und Bildern. Das ganze Gedicht mag ich Ihnen jetzt nicht vorlesen, zu geheimnisvoll ist manche Formulierung. Aber ein paar Zeilen, eine schöner als die andere:

„Dort, wo die Zeit heimisch wurde im Tod
erhob sich Daniel,
der hohen Engel Scherbeneinsammler,
Aufbewahrer des Abgerissenen,
verlorene Mitte zwischen Anfang und Ende
setzend…
Daniel, der das verweinte Labyrinth zwischen
Henker und Opfer durchwandert hat,
Daniel hebt seinen Finger
aus der Abendröte
in Israel.“

Scherbeneinsammler. Aufbewahrer des Abgerissenen. Der das verweinte Labyrinth durchwandert.
Das sind Bilder für Gottes Barmherzigkeit.
Gespiegelt im menschlichen Leben.

Der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.

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