„Gott weckt mich alle Morgen …“

Innige persönliche Gottesnähe

Predigttext: Jesaja 50, 4-9 (10+11)
Kirche / Ort: Dortmund
Datum: 14.04.2019
Kirchenjahr: Palmsonntag (6. Sonntag der Passionzeit)
Autor/in: Pfarrer Johannes Gerrit Funke

Predigttext: Jesaja 50,4-9 (10-11), Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017

4 Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören.

5 Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.

6 Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.

7 Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.

8 Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir!9 Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen.

11 Siehe, ihr alle, die ihr ein Feuer entfacht und Brandpfeile entzündet, geht hin in die Glut eures Feuers und in die Brandpfeile, die ihr angezündet habt! Das widerfährt euch von meiner Hand; in Schmerzen sollt ihr liegen.

Exegese zum Predigttext

Das dritte der vier „Gottesknechtslieder“ bei DtJes spitzt einen Konflikt aufs Äußerste zu. Er entsteht zwischen dem Wort, das von Gott kommt und Leben weckt auf der einen Seite und auf der anderen einem tödlichen Anschlag auf den ungehinderten Lauf dieses Lebens, bis es die erreicht, die bereits wie vom Tod gezeichnet sind. Alles drängt auf eine finale Entscheidung dieses Konfliktes zu.

Die innige persönliche Nähe zwischen Gott und seinem Auserwählten (vgl. Jes 42, 1) wird im Bild einer Lehrer-Schüler-Beziehung geschildert. Damit wird die enge Vertrautheit betont. Diese Nähe bleibt auch dort, wo ihr und mit ihr auch dem Lauf des von Gott aufgeweckten Lebens ein Anschlag gilt, der ihr jegliche (Rechts-)Grundlage streitig zu machen versucht. Am Ende wird der Auserwählte Gottes aber das von Gott aufgeweckte Leben sogar durch solche tödliche Bedrohung hindurch zu denen tragen, die in Dunkelheit leben. Von V. 10 geht dann an uns die Frage aus: Wo finden wir uns in diesem prophetischen Text wieder?    

Im Evangelium ist von Anfang an Jesus Christus mit dem Auserwählten Gottes identifiziert worden. Das verhilft uns dann zu einer ungewöhnlichen Antwort auf die Frage, wo wir uns in der Geschichte wiederfinden können.

Die in der Predigt zitierten Sätze aus Helens Kellers Autobiografie finden sich in: „Mein Weg aus dem Dunkel“, 1997, 32f.

 

 

 

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Da ist jemand ganz auf Gott ausgerichtet. Er geht bei Gott persönlich in die Schule. Tag für Tag weckt Gott ihm das Ohr. Was er dabei hört, trägt er schnurstracks weiter, um neuen Lebensmut bei denen zu wecken, die ermüdet sind. Nichts kann störend dazwischentreten. „Wer ist unter euch, der den Herrn fürchtet, der auf die Stimme seines Knechts hört? Wer im Finstern wandelt und wem kein Licht scheint.“ Gehören wir zu denen, die in solcher Dunkelheit leben, in der kein Licht scheint? So lautet dann die Frage an uns. 

I.

Vielleicht kann uns die Lebensgeschichte einer Frau helfen, unsere Antwort zu finden. In dieser Geschichte geht es auch an entscheidender Stelle um Hören und Reden. Helen Keller war ein munteres und auffällig helles kleines Mädchen, als sie im Alter von 1 1/2 Jahren schwer erkrankte. Zwar überlebte sie ein tageslanges Fieber. Doch sie blieb erblindet und gehörlos zurück. Ihre aufgeweckte Lebendigkeit und die mannigfachen Gaben, die in ihr schlummerten, um sich zu gemeinsamer Freude mit anderen zu entfalten, drohten für immer in einer dunklen stillen Einsamkeit begraben zu bleiben. In ihrem verzweifelten Kampf, sich ihrer Umwelt verständlich zu machen und sich mit ihr auszutauschen, stieß sie regelmäßig an Grenzen. In solchen Momenten brach sie in Wut aus. Einmal schmiss sie eine Puppe zu Boden, welche man ihr kurz vorher geschenkt hatte. Am besten erzählt sie uns die Szene selber: 

„Ich (wurde) ungeduldig, ergriff die neue Puppe und schleuderte sie zu Boden. Ich empfand eine lebhafte Schadenfreude, als ich die Bruchstücke der zertrümmerten Puppe zu meinen Füßen liegen fühlte. Weder Schmerz noch Reue folgten diesem Ausbruch.“ Denn: „In der stillen, dunklen Welt, in der ich lebte, war für starke Zuneigung oder Zärtlichkeit kein Raum“. 

Gleicht das nicht beinahe einem bösen Bann, wie man ihn sonst nur aus Märchen kennt? Helen kämpfte darum, ihre hellsten und gelöstesten Gefühle einbringen zu können in ein gemeinsames Leben. Aber am Ende entlud sich nur zerstörerische Wut und ließ sie das auch noch voller Genugtuung erleben. Es ist, als würde jemand regelrecht fernmanipuliert und verhext, so dass er anfängt, gegen das zu streiten, wonach er sich eigentlich zutiefst sehnt.

Dass Helen Keller sich später an diesen Wutanfall in allen Einzelheiten erinnerte, hat seinen Grund. Denn noch am selben Tag erlebte sie eine entscheidende Wende. Sie fand Anschluss daran, wie man redend und hörend miteinander kommuniziert. Eine Lehrerin hatte damit begonnen, Wörter in ihre Hand zu buchstabieren und ließ sie zugleich die dazu passenden Dinge berühren. Was dann eines Tages passierte, erzählt Helen Keller am besten wieder selber: 

„Wir schlugen den Weg zum Brunnen ein … Es pumpte jemand Wasser, und meine Lehrerin hielt mir die Hand unter das Rohr. Während der kühle Strom über eine meiner Hände sprudelte, buchstabierte sie mir das Wort ‚water`, zuerst langsam, dann schnell. Ich stand still, mit gespannter Aufmerksamkeit die Bewegung ihrer Finger verfolgend. Mit einem Mal durchzuckte mich eine nebelhafte Erinnerung, ein Blitz des zurückkehrenden Denkens – und das Geheimnis der Sprache lag plötzlich offen vor mir. Ich wusste jetzt, dass ´water` jenes wundervolle, kühle Etwas bedeutete, das über meine Hand strömte. Dieses lebendige Wort erweckte meine Seele zum Leben, spendete ihr Licht, Hoffnung, Freude, befreite sie von ihren Fesseln!“ 

Der böse Bann begann zu bröckeln und mit ihm alles, was sie angetrieben hatte, gegen das zu streiten, was zu einem gemeinsamen aufgeweckten Leben werden will. Denn als die beiden später nach Hause kamen, geschah folgendes: „Beim Betreten des Zimmers erinnerte ich mich an die Puppe, die ich zerschlagen hatte. Ich tastete mich zum Kamin, hob die Stücke auf und suchte vergeblich, sie wieder zusammenzufügen. Da füllten sich meine Augen mit Tränen; ich verstand, was ich getan hatte, und zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich Reue und Schmerz“.

II.

In dem prophetischen Text hören wir von einem Vertrauten Gottes, der ganz auf Gott ausgerichtet ist. Was seine Ohren von Gott persönlich vernehmen, trägt er unmittelbar zu Menschen, die es aufnehmen werden wie trockene Erde den Regen aufnimmt. Der Weg dieses besonderen Vertrauten Gottes führt dann allerdings wie aus lichter Höhe in tiefste Keller. Wir sehen eine Szene voller Gemeinheiten und brutaler Gewalt. Da soll jemand nach Strich und Faden gedemütigt werden. Er soll spüren, dass er komplett rechtlos ist. Er soll Opfer werden und sich so fühlen. Daran finden die, die ihn quälen sogar noch Gefallen. Es schreit alles förmlich danach, dass sich durch ihr Treiben hindurch eine aggressive Gewalt austobt, in deren Auftrag sie handeln. 

Man ahnt es geradezu: Wie besessen stellen sie all ihre Kräfte in den Dienst einer Macht, die es zuletzt nur darauf abgesehen hat, gegen ein von Gott aufgewecktes gemeinsames Leben zu streiten. So tritt die Frage unter veränderten Vorzeichen noch einmal an uns heran: „Wer ist unter euch, der den Herrn fürchtet, der auf die Stimme seines Knechts hört?“ Gehören wir zu denen, die im Finstern wandeln und denen kein Licht scheint?  Auch hier kann uns eine Lebensgeschichte weiterhelfen. Sie wird uns allerdings zuerst einmal zeigen, wen wir in dem, der ganz auf Gott ausgerichtet ist und am Ende Opfer menschlicher Gewalt wurde, wiedererkennen können. Jesus von Nazareth heißt er. Wo er hinkam, fanden Menschen, deren Kräfte schon halb erloschen waren, neue Hoffnung und lebten auf. 

Nicht nur, dass Blinde plötzlich sahen und Stumme redeten, Gelähmte auf eigenen Füßen gingen und Kranke gesundeten – Verängstigte fassten wieder Mut, Einsame sprangen über ihre Schatten. Ein korruptionsverdächtiger Reicher fing an, mit Armen zu teilen und die, die von anderen Leuten nur wie Abschaum der Gesellschaft angesehen wurden, sahen sich ganz in ihrer Not verstanden und angenommen. Wo er hinkam, war es, als sei jeder Bann gebrochen, der uns füreinander so bis zur Unkenntlichkeit entstellen kann, dass sich Abgründe zwischen uns auftun, und wir selber wirken daran noch mit. Am Ende seines Lebens aber wird er geschlagen. Er wird angespuckt. Man zerrt ihn vor ein Tribunal, wo er nur erfahren soll, dass er keinerlei Recht mehr in der menschlichen Gesellschaft hat. Man verurteilte ihn dann auch zu dem schändlichsten Tod, den man damals im römischen Imperium sterben konnte, der Hinrichtung am Kreuz. Doch auch bei ihm hören wir von einer wunderbaren Wendung. Sie geht von Gott persönlich aus. 

III.

„Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir!“ Gott ist ihm von Anfang an so nah gewesen, wie er sich selber nur nahe sein konnte. Zwischen Gott und ihn kann auch in dieser tiefsten Tiefe nicht ein Hauch von jenem Bann treten, der Menschen antreibt, gegen ein von Gott aufgewecktes gemeinsames Leben zu streiten. Gott hat ihm Morgen für Morgen das Ohr geweckt. Gott hat es ihm auch am Ostermorgen geweckt, so dass er es durch seinen Tod hindurch zu den Ermüdeten tragen kann. Bei ihm geht nicht ein Bruchteil von diesem Leben verloren. Nachdem wir ihn in dieser Geschichte wiedererkannt haben, begegnet uns noch einmal die Frage: 

Wo finden wir uns wieder in der Geschichte? Ich kann jetzt nur für mich persönlich sprechen. Aber vielleicht können Sie es ähnlich auch für sich persönlich sagen. Ich erkenne mich auf zwei Seiten wieder. Ich finde Anteile von mir bei den Ermüdeten, die das Wort von Gott, das er übermittelt, immer wieder neu aufwecken und aufrichten muss. Aber ich finde auch Anteile von mir bei denen, mit denen er es in der tiefsten Tiefe zu tun bekommen hat und die wie manipuliert sind von einem tödlichen Bann. Auf beiden Seiten finde ich mich wieder. Bei den Müden – denn ich kenne kräftezehrende Kämpfe darum, sich so in das gemeinsame Leben einzubringen, wie man es ersehnt. Ich kenne glückliche Momente, wo das einigermaßen gelingt. Dann spüre ich, wie sofort auch alle Quellen von Zuneigung und Offenheit für andere sprudeln. 

Aber ich kenne auch andere Momente, in denen ich bei dem Bemühen, mich in das gemeinsame Leben einzubringen an Grenzen stoße. Manchmal sind das meine eigenen Grenzen. Manchmal sind es Grenzen, die andere haben oder Grenzen, die mir von außen gesetzt werden. Wie schnell kommt dabei Wut oder Bitterkeit auf, wenn ich mich missverstanden oder gar abgewiesen fühle. Ich sehe mich letztlich auf beiden Seiten, bei den Müden hier und bei denen, die gegen Gott und seinen Lebenswillen streiten. Aber auch für mich wie für uns alle gilt: „Gott weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre …“

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Ein Kommentar zu “„Gott weckt mich alle Morgen …“

  1. Pastor i.R.Heinz Rußmann

    Die vier Gottesknechtslieder des Deuterojesaja (Jes 42.1-9; 49,1-6; 50,4-9; 52,13-53,12) weisen besonders schon auf Jesus hin mit großartiger Heilsbotschaft und großem Leiden für Gott. Pfarrer Funke beginnt die Predigt recht ausführlich mit dem Leben von Helen Keller, die Furchtbares leiden mußte und doch befreit wurde zu einem Leben mit Licht, Glaube Friede und Freiheit. Im Predigttext wird der Prophet auch im Glauben an Gott in lichte Höhen und tiefste Keller geführt. Jesus ging auch als Prophet zu den Ärmsten und Verzweifelten und Mutlosen und brachte ihnen das Heil Gottes. Und er wurde auch verfeindet , vor ein Tribunal gestellt und starb für andere und für uns. Gott aber ist beiden Gottesboten nahe gewesen . Wir erleben auch beide Seiten von Gottes Nähe und Distanz: Aber es gilt: Gott weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr. Er hält sich nicht verborgen, führt mir das Licht empor. Diese Predigt ist sehr gehaltvoll und ergreifend. In Zeiten einer gewissen Christusvergessenheit hätte ich mir noch mehr Parallelen zwischen Jesus und Deuterojesaja gewünscht. Eugen Drewermann hat mal gesagt: Wenn man die zwanzig wichtigsten Kapitel der Bibel zusammenstellen müßte, sollte ein Kapitel von Deuterojesaja dabei sein.

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