„Der Himmel, der ist, ist nicht der Himmel, der kommt, wenn einst Himmel und Erde vergehen“ – so hat der Schweizer Pfarrer Kurt Marti im Text eines Liedes aus unserem Evangelischen Gesangbuch gedichtet, in dem sich zahlreiche Anklänge an unseren heutigen Predigttext aus der Johannesapokalypse finden. Das Buch der Offenbarung des Johannes ist das letzte Buch der Bibel und es ist das rätselhafteste, kryptischste Stück des Neuen Testaments, das sprichwörtlich gewordene „Buch mit den sieben Siegeln“. Die Offenbarung des Johannes ist aber nicht nur von der Anordnung her das letzte Buch der Bibel, sondern es beschäftigt sich auch inhaltlich über weite Strecken mit den sogenannten „letzten Dingen“, den Endzeitereignissen. Drastisch schildert Johannes die Leiden und Schrecknisse, denen die angeschriebenen kleinasiatischen Gemeinden ausgesetzt sind; visionär, in starken symbolischen, teils kryptischen Bildern stellt er seinen Lesern die Herrlichkeit der zukünftigen Welt vor Augen, einem Raum des Friedens und der Sicherheit jenseits unseres Raumes und unserer Zeit.
Der Seher von der griechischen Insel Patmos lebte im 1. Jhdt.n.Chr. in einer Zeit, die von großer Trübsal für die junge christliche Gemeinde geprägt war: äußere, staatliche Verfolgung durch die römische Gewaltherrschaft und innere Anfechtung, Bedrohung, große Not, Leid und Elend kennzeichneten die Welt, in der Johannes sich wiederfand. Gerade in dieser von ihm als chaotisch empfundenen Zeit erhält er seinen Auftrag und hört die Stimme des Herrn: „Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle. Schreibe, was du gesehen hast und was ist und was geschehen soll danach.“ Und Johannes schreibt tatsächlich, nämlich sieben Sendschreiben an die bedrückten christlichen Gemeinden in Kleinasien. Er schreibt an Menschen, die in großer Unruhe und Sorge waren, seine Mitchristen, die verunsichert und mutlos geworden waren.
Johannes beschreibt, was er sieht in visionärer Schau: Er schreibt mitten im Chaos von einer anderen, friedlicheren, neuen Welt. Er findet Hoffnungsbilder, die dem allgegenwärtigen Verderben um ihn herum entgegengesetzt sind. Er wird zum Sprachrohr der göttlichen Botschaft von der Neuschöpfung der Welt, die er der Untergangsstimmung und der verzweifelten Verfolgten machtvoll gegenüberstellt. In mannigfaltigen Bildern entfaltet er eine große Hoffnungsvision, die den Menschen in ihrem gegenwärtigen Elend Kraft und Mut gegeben hat, nicht aufzugeben, sich der mörderischen Gewalt nicht zu beugen, sondern ihrem Glauben treu zu bleiben. Er schreibt vom neuen Himmel und der neuen Erde, die ihre Umrisse schon jetzt auf die gegenwärtige Welt werfen; von einer Zeit in der Gott abwischen wird alle Tränen und Leid, Geschrei und Schmerz nicht mehr sein werden.
Hoffnungsbilder
Wer diese hoffnungsvollen Worte hört und diese tröstlichen Zukunftsbilder vor Augen hat, der darf sich als angefochtener Mensch auch im Hier und Jetzt gestärkt und ermutigt fühlen. Denn es sind sprachgewaltige Bilder von großer Intensität, die in allen verunsicherten Christen die innere Widerstandskraft stärken wollen, um gegen die lebensfeindlichen Kräfte, die die Welt beherrschen, anzuglauben und anzuarbeiten. Diese Erde, sagt Johannes, ist gezeichnet von Tod, von Tränen, Leid, Geschrei, Schmerz. Doch all die negativen Mächte und Gewalten, die die Konstitution dieser Welt bestimmen und die Herrschaft mit Gewalt an sich reißen wollen, haben für ihn nicht das letzte Wort. Johannes rechnet mit der noch ausstehenden Verwandlung und Vollendung der Welt durch die Kraft Gottes, der die von ihm geschaffene Welt und sein Volk nicht verloren gegeben hat. Diese andere, friedliche Welt bei Gott, das himmlische Jerusalem, wirft schon jetzt ihre Strahlen auf unsere von Unheil und Tod gezeichnete irdische Welt. Gott offenbart sich dem Seher Johannes als Gott, der den lebensfeindlichen Kräften in Jesus Christus, seinem Sohn, Heil und Erlösung entgegensetzt.
In trüber, gewalttätiger, todverfallener Zeit hatten die Bilder von der Neuschöpfung damals ihren ersten Raum und sie sprechen auch zu uns heute. Auch wir, die wir am heutigen Totensonntag unsere persönlichen Verluste und Untergänge betrauern, dürfen zusammen mit den Christen damals auf die Hoffnungsbilder aus der Johannesapokalypse sehen und uns davon ermutigen lassen. Auch wir dürfen hören vom neuen Himmel und der neuen Erde; auf die Verheißung von neuem, verwandelten Leben bei Gott, wenn unser Sein hier, auf der Erde, zu Ende ist: „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen. Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen wird ihr Gott sein”. Dieser Satz gilt auch uns, wenn wir nur die Begrenztheit unseres zeitlichen Lebens sehen, nur auf die Welt schauen, die uns umgibt, die eine Welt voller Tod, Leid, Geschrei und Schmerz ist. Johannes kann auch uns die Augen öffnen für die andere Welt, die Welt bei Gott, die schon ihre Schatten herüberwirft in diese irdische Welt, und deren Umrisse wir zeichenhaft wahrnehmen können. Gottes Verheißungen trösten auch aus, wenn Johannes schreibt: “Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wir nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen”.
Endlichkeit
Alles Irdische vergeht. Leben ist endlich. Wir Menschen und alle Kreaturen sind sterbliche Wesen. Gerade heute, am Totensonntag, ist uns das mehr denn je bewusst. Nicht nur viele Prominente sind in diesem Jahr gestorben – David Bowie, Prince, Muhammed Ali, Hans Dietrich Genscher, Umberto Eco, Götz George, Peter Lustig, Guido Westerwelle, Roger Willemsen, Mara Majanow, Walter Scheel, um nur einige Namen zu nennen. Auch viele von Ihnen sind mit dem Tod persönlich konfrontiert worden und haben unliebsame Bekanntschaft gemacht mit seinen schmerzvollen Begleitern. Sie haben einen lieben Menschen verloren, in der Familie, im Freundeskreis oder der Nachbarschaft.
Manches Ende war die Vollendung des Lebenskreises im hohen Alter, “alt und lebenssatt” nach einem erfüllten Leben, ein Sterben, das man vielleicht leichter akzeptieren kann. Manche unter uns hat der Tod dagegen an ihrer empfindlichsten Stelle verletzt, nämlich in ihrer Liebe zu einem geliebten Menschen, der Vertrautheit einer guten Ehe und Partnerschaft oder einer engen geschwisterlichen, familiären oder freundschaftlichen Gemeinschaft. Es tut weh, jemand zu verlieren, den man gerne noch weiter bei sich gehabt hätte. Es bleiben so viele Dinge, die man noch gerne zusammen erlebt hätte. Auch manchen guten Rat hätte man noch gebraucht. An so vielen Stellen hat sich unser Leben berührt und bereichert, aber der Tod hat diesem Miteinander ein Ende gesetzt.
Trost
Jemanden an den Abgrund des Todes zu verlieren, bedeutet den gewaltsamen Abbruch der direkten emotionalen und leiblichen Beziehung in liebenden Verbundenheit und einer vertrauten Lebensgemeinschaft. Gerade weil wir mit Leib und Seele Mensch sind, trifft uns dieses körperliche Getrenntsein und der Abbruch aller Gespräche und des täglichen Umgangs miteinander umso härter. Der Kummer, in den uns der Abschied von einem lieben Menschen stürzt, kann uns fassungslos zurücklassen, uns innere Kräfte und Ressourcen rauben und den Blick in die Zukunft verstellen. Wenn wir einen Menschen schätzen und lieben, mit ihm fest verbunden sind und bleiben wollen, trauern wir umso stärker. Trauer ist nicht Schwäche, sondern Zeichen unserer Liebe und Verbundenheit. Gerade darum ist es wichtig, als trauernder Mensch zu hören, dass der Schmerz und das Leid, das uns der Tod zufügt, nicht das letzte Wort über uns haben.
Stärker als der Tod ist die Kraft der göttlichen Liebe, die unsere Welt mit der anderen Welt, der Welt bei Gott, verbindet. Darum sagt uns Johannes, dass diese Welt, der erste Himmel und die erste Erde mit all ihren Schrecknissen und Traurigkeiten, nicht alles sind, sondern dass es bei Gott einen Ort voller Frieden gibt, an dem sich das Leben am Ende erfüllt. Der Tiefpunkt ist nicht das absolute Ende. Es gibt Hoffnung über diese Welt hinaus; Hoffnung, die stärker ist als der Tod. Wir dürfen vertrauen auf Gottes verwandelnde Kraft, die schon jetzt zeichenhaft überall da erkennbar ist, wo nach durchlebter Trauer die Tränen wieder trocknen, eine verwundete Seele wieder heil wird, ein angefochtenes Gemüt wieder Ruhe findet, ein Mensch wieder Frieden macht mit Gott, nachdem er seine Verzweiflung hinausgeschrien hat, jemand wieder empfänglich wird für positive Empfindungen an der großen Leerstelle in seinem Leben, an den Schmerzpunkten, die wie offene Wunden waren. Diese Hoffnung gibt uns Halt, wenn wir trauern oder hadern mit den Wegen des Schicksals und dem Gefühl der Verlassenheit.
Darum spricht Gott im Buch der Offenbarung: „Siehe, ich mache alles neu!“ Das heißt, die lebensfeindlichen Mächte werden am Ende nicht die Oberhand behalten. Innere Kämpfe, Leid und Tränen sind nicht der Untergang, sondern nur ein Durchgang im Trauerprozess. Wir sollen nicht in unserer Trauer stecken bleiben und nur noch in der Vergangenheit leben. Trauer hat ihre Zeit, Tränen haben ihre Zeit, um sich zu verwandeln in getröstetet Erinnerung an das, was bleibt. Als trauernde Menschen dürfen und können wir uns langsam hineinfinden in die neue Situation und versuchen, das Unabänderliche in das eigene Leben zu integrieren, die Endlichkeit der irdischen Gemeinschaft zu akzeptieren und den Blick wieder nach vorne zu richten. Dabei können uns die Worte des Sehers Johannes helfen, indem sie zu uns von einem Heil sprechen, das all unsere zeitlichen Leiden überwindet und die brennende Sehnsucht nach dem geliebten verstorbenen Menschen lindert: „Siehe, ich mache alles neu!“, sagt Gott. Und weiter: „Ich bin das A und O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.“ Auf der Durststrecke schmerzlicher Trauerprozesse gibt es die Hoffnung auf Quellen neuer Lebenskraft, die sich uns erschließen.
Das Leben wird zwar nicht wieder so sein, wie es war bevor der Tod in unsere Mitte getreten ist, es wird anders sein, aber wir werden uns darin zurechtfinden. Es gibt Halt; es gibt Trost; es gibt Hoffnung, weil wir zusammen mit allen, die uns im Tod vorausgehen, nicht aus der Gemeinschaft mit Gott herausfallen können. Diese Gemeinschaft Gottes mit seinem Volk bleibt fest bestehen – auch im Tod. Gott sucht die Gemeinschaft mit uns Menschen – in diesem Leben und über dieses zeitliche Leben hinaus. Gott knüpft ein Band zu uns Menschen – in Zeit und in Ewigkeit. Tod bedeutet Beziehungslosigkeit, bedeutet den Abbruch von gewohnten Beziehungen, aber Gemeinschaft mit Gott bedeutet Leben, getröstetes und gestärktes Leben hier bei uns und neues Leben im Licht der Ewigkeit. Gott lässt uns nicht im Tod, sondern wir werden wohnen in der „Hütte Gottes“, drüben in der andern, der zukünftigen Welt. Gott ist das A und O, er umfasst Anfang und Ende und hält den Weg offen in die kommende, neue Welt am Ende aller irdischen Wege. Das dürfen wir mitnehmen als Gottes Verheißung an uns heute, am Ewigkeitssonntag.
Alles wird neu
„Siehe, ich mache alles neu!“ Diese Verheißung der Neuschöpfung, der Verwandlung und Vollendung durch Gott im letzten Buch der Bibel ist ein Hoffnungswort, das Generationen von Christinnen und Christen vor uns im Glauben getragen hat und auch uns tragen wird. Wie den Glaubenden vor uns, gibt es uns Stärke und Kraft, mit dem Verlust und dem Tod geliebter Menschen fertig zu werden und mit dem Bedrohlichen in dieser Welt umzugehen. Wir sehen das Leidvolle und Chaotische in dieser Welt, aber uns ist als Christen gesagt, dass die lebensfeindlichen Mächte nicht das letzte Wort haben werden. Die Umrisse des kommenden Heils können wir schon jetzt erahnen und fühlen, wenn wir unser Herz öffnen für die Hoffnung und de Trost, den Gott für uns bereithält – mit den Worten der letzten Strophe des Liedes von Kurt Marti: „Der Himmel der kommt, grüßt schon die Erde, die ist, wenn die Liebe das Leben verändert” (EG 153,5).