Gottes geliebte Kinder
Lebensförderliche "Entfeindung" - Anders leben ist möglich
Predigttext: Römer 12,1.9.14.17-21 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Illusionäre Elite-Moral?
Verfolger segnen, auf Vergeltung verzichten, Feinden zu essen und trinken geben? Wer kontextlos diesen rigorosen Forderungen im Gottesdienst begegnet, muss sich heillos überfordert fühlen und mit Kritikern des Christentums vermuten, hier werde bedenkliche Opfer-Schulung betrieben oder ethische Höchstleistung verlangt, die allenfalls Heroen wie Gandhi, Bonhoeffer, Mandela oder Mutter Theresa zuzutrauen ist. Um solche Fehlurteile zu verhindern, sollte die Predigt deutlich und am besten gleich zu Beginn den theologischen Zusammenhang aufzeigen, in dem Paulus seine Weisungen in Röm. 12,1.9.14.17-21 formuliert. (Ich habe das vorgeschlagene Predigtwort um V. 1.9 u.14 erweitert, damit schon beim ersten Hören diese thematische Zuordnung anklingt.)
Die paulinische Paränese als „nur eine andere Form des Evangeliums“
Röm. 12,9.14.17-21 ist Teil der Paränese in Röm. 12,1-15,13, die dem Evangelium in Röm. 1-11 genau entspricht. Mit dieser exakten Zuordnung beschreibt Paulus die für ihn unauflösliche Einheit von Gottes Zuspruch seiner „evangelischen“ Heilsgabe in Christus und Gottes Anspruch auf die christliche Lebensaufgabe. Aus Gottes Liebesgabe (Rechtfertigung von Juden und Nicht-Juden ohne des Gesetzes Werke um Christi willen, Geschenk des Geistes der Gotteskindschaft und des neuen Lebenswandels durch die Taufe) folgt für Paulus organisch notwendig als „nur eine andere Form des Evangeliums“ (G. Friedrich) die Liebesaufgabe von Christen, als „Gottes Geliebte“ (s. Röm. 1,7; 12,19) die ihnen von Gott geschenkte Liebe im Alltag zu leben und an andere weiterzugeben.
Diese präzise Übereinstimmung von Gottes Heilsgabe und christlicher Lebensaufgabe prägt auch unser Predigtwort mehrfach: In V. 9. u.19 verbinden die beiden Begriffe: „ungeheuchelte Liebe“ und „Geliebte“ die Liebeserweise Gottes an Juden und Nicht-Juden (Röm. 1-11) und die daraus entspringende Liebesaufgabe (12,1-15,13) eng miteinander. (Darum darf die Anrede agapeetoi hier nicht auf „meine Geliebten“ (Zürcher 2007), „meine Lieben“ (Luther-Bibel 1984 u .a.) oder „liebe Brüder“ (Einheitsübersetzung) verengt werden. Sie ist stattdessen wortgetreu und deshalb unbestimmt mit „Geliebte“ zu übersetzen (so Käsemann, Lohse, Michel), womit Paulus auch auf 1,7 verweist.)
Die Ermahnung zur Feindesliebe (V.14 u.17-21) wurzelt in Gottes Feindesliebe, d. h. in seiner Bereitschaft, Menschen mit sich zu versöhnen, auch als sie noch Gottes Feinde waren (5,10). Christlicher Friedensdienst (V.18) gibt jenen Frieden weiter, den mit Gott mit seinen „Geliebten“ um Christi willen geschlossen hat (5,1).
Die Befreiung der Kinder Gottes tut allen gut.
Wer bewusst auf Rache und Vergeltung verzichtet, freiwillig Feinden Gutes tut und mitten im Unfrieden Frieden anstrebt, der verlässt seine fremdbestimmte, deformierende Opferrolle und wird noch als Verfolgter wieder freier Akteure eines selbstbestimmten Daseins. Was bisher Privileg der Könige und Philosophen war, großherzig wie Gott auf eigenes Recht zu verzichten, das dürfen Christinnen und Christen, als Söhne und Töchter Gottes von der Herrschaft des Bösen befreit, nun souverän leben (G. Theißen, S. 348f.).
Diese großherzige „Entfeindungsliebe“ (Lapide) vergrößert auch die Chance der Feinde, dem Sog des Bösen zu entkommen und ihr Leben noch einmal zum Guten zu wenden, was dem eigentlichen Rettungswillen Gottes entspricht. Somit verwandelt sich scheinbar lebensfremde oder gar lebensfeindliche Weisung in ein lebensförderliches Gottesgeschenk für verfolgte Christen und auch noch für deren Verfolger. Die offenkundige Schwierigkeit, diese königliche Freiheit zu Vergeltungsverzicht und Feindesliebe alltäglich auch wirklich zu leben, sollte die Predigt nicht zu erhöhtem Mahnungsdruck verleiten, sondern vielmehr zu liebevoller Vergegenwärtigung von Gottes Heilsgaben ermuntern.
Lieder
„Mein erst Gefühl" (EG 451,1-3.7-10)
„O Gott, du frommer Gott" (EG 495,1-5)
"Ich ruf zu dir" (EG 343,1.3.5)
Lesungen:
1.Mose 50,15-21
Lukas 6,36-42
Literatur:
David Alvarez Cineira, Die Religionspolitik des Kaisers Claudius und die Paulinische
Mission, HBS, Bd 19, Freiburg, 1999.- Ernst Käsemann, An die Römer, HBzNT, Tübingen, 1980.- Eduard Lohse,Der Brief an die Römer, KeK, Göttingen, 2003.- Otto Michel, Der Brief an die Römer, KeK, Göttingen, 1963.-
G. Theißen/A. Merz, Der Historische Jesus, Göttingen, 1996.
„Nichts ist gut in Afghanistan!“ hatte die damalige Bischöfin Margot Käßmann in ihrer Predigt zum Neujahrstag 2010 in der Dresdener Frauenkirche behauptet und „mehr Fantasie für den Frieden“ gefordert, denn ganz offensichtlich hätten Waffen keinen Frieden in Afghanistan geschaffen. Postwendend wurde sie heftig kritisiert. Besonders bissig war der Wehrbeauftragte Reinold Robbe. Ironisch empfahl er Margot Käßmann, sie solle sich doch mit den Taliban in ein Zelt setzen, über ihre Phantasie für den Frieden diskutieren und gemeinsame Rituale mit Gebeten und Kerzen entwickeln. Heute würde wohl selbst Robbe zugeben, dass Käßmanns zugespitztes Urteil der Realität ziemlich nahekommt, weil kaum etwas gut ist in Afghanistan.
Natürlich gehen beide Streitparteien von einer Lebenswirklichkeit aus, die wir – frei nach Schillers Wilhelm Tell – im Allgemeinen so beschreiben: „Es kann der Frömmste nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt!“ Wobei jeder und jede genau zu wissen scheint, wer der „Frömmste“ und wer der „böse Nachbar“ jeweils ist.
Doch es bleibt die ernsthafte Frage: Wie soll mit diesem „bösen Nachbarn“ richtig umgegangen werden? Wie kann, wie muss unsere Gesellschaft, unsere Weltgemeinschaft,auch jeder Einzelne auf Streitigkeiten, Anfeindungen, Hass, Gewalt, Terror, Krieg, kurzum auf Böses, so reagieren, dass dabei Gutes herauskommt, zumindest aber weniger Übles? In diese Diskussion mischt sich auch unser heutiges Predigtwort ein und ringt um eine lebensförderliche Antwort. Wir finden sie in jenem Brief, den der Apostel Paulus im Frühjahr 56 n. Chr. von Korinth aus „an alle Geliebten Gottes…in Rom“ richtet, wie Paulus anrührend schreibt. Der Apostel hält seine Christusmission im Osten des römischen Reiches für beendet. Nun will er auch in Spanien, dem Westen des Reiches, Christus verkündigen. Dabei sollen ihm die römischen Christinnen und Christen helfen. Durch Mitchristen in Korinth hat er schon viel über die verschiedenen christlichen Hausgemeinden in Rom erfahren. Nun stellt er sich ihnen mit seinem „Römerbrief“ selbst vor. Bevor er jedoch kommt, will er den Gemeinden sein Christus-Evangelium noch einmal ausführlich erklären. Wir hören als kleinen Ausschnitt dieses Briefes und seiner Verkündigung aus dem 12. Kapitel die Verse 1. 9.14 und 17-21, möglichst nah am griechischen Wortlaut übersetzt:
1 Ich bitte und ermahne euch, liebe Brüder und Schwestern, bei der Barmherzigkeit Gottes:
Bringt euch selbst als lebendiges, heiliges Opfer dar, das Gott gefällt. Dies sei eurer wahrer, dem Wort gemäßen Gottesdienst. 9 Die Liebe sei ungeheuchelt. Verabscheut das Böse, haltet am Guten fest. 14 Segnet, die euch verfolgen –segnet sie und verflucht sie nicht!
17 Niemandem vergeltet Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber allen Menschen.18 Wenn es möglich ist und soweit es in eurer Macht steht, haltet Frieden mit allen Menschen. 19 Rächt euch nicht selbst, Geliebte, sondern gebt Raum dem Zorngericht Gottes.
Denn es steht geschrieben: „Mir gehört die Rache, ich will vergelten“, spricht der HERR.
20 Ganz im Gegenteil: Wenn dein Feind hungert, speise ihn; wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken. Denn wenn du das tust, wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt häufen. 21 Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse mit dem Guten. –
Verfolger segnen? Hungrigen und durstigen Feinden zu essen und zu trinken geben? Frieden auch mit Friedlosen halten? Auf jede Vergeltung verzichten? Stets Böses mit Gutem besiegen? Wer kann das? Ja, und wem ist ein derartiges Verhalten überhaupt zuzumuten? Etwa jener jungen Frau, von der vor zwei Monaten bundesweit berichtet wurde, wie sie zusammengeschlagen am Boden liegt und andere immer weiter brutal zutreten, während Umstehende, statt zu helfen oder zumindest die Polizei zu rufen, die grauenvolle Szene genüsslich fotografieren und sofort ins Internet stellen? Und wie wirken solche Forderungen auf die zahllosen Opfer von Gewalt und Krieg in Syrien, im Irak, im Sudan oder in Afghanistan? Haben vielleicht Kritiker doch Recht, die uns Christen lebensfremdes „Gutmenschentum“ vorwerfen und eine lebensfeindliche Opfer- und Verlierer-Haltung unterstellen, die Böses als gottgegeben hinnimmt, womöglich noch unterwürfig „absegnet“, statt Unrecht mit allen verfügbaren Mitteln zu bekämpfen und zu besiegen? Allenfalls für außergewöhnliche Menschen wie Gandhi, Bonhoeffer, Pater Kolbe, Nelson Mandela oder Mutter Teresa könnten Vergeltungsverzicht und Feindesliebe zumutbare Verhaltensweisen sein.
Ich kann gut nachempfinden, wie hoffnungslos überfordernd solch rigorose Mahnungen des Paulus wirken, wenn sie so aus ihrem inneren Zusammenhang gerissen werden und ohne ihre tiefe Einbettung in den ganzen Römerbrief begegnen. Da hatten es die römischen Christinnen und Christen doch viel leichter als wir. In ihrem Gottesdienst wurden damals alle 16 Kapitel des Briefes vorgelesen. Und dann erscheinen die Weisungen des Apostels zu Guttaten an Feinden und zum Verzicht auf jede Vergeltung schon in einem ganz anderen Licht. Denn diese Forderungen kann nur richtig verstehen, wer sie in ihrem ursprünglichen Zusammenhang dieses letzten großen Paulus-Briefes wahrnimmt, mit dem der Apostel wie in einer Art Testament seine Christus-Verkündigung noch einmal eingehend begründet. „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“: Dieser vertraute Lobpreis aus dem 103. Psalm gibt sehr gut wieder, was Paulus in den ersten elf Kapiteln seines Römerbriefes vom Christus-Evangelium als guter Heilsgabe Gottes, dankbar und freudig erzählt: Wie Gott uns allen – Juden wie Nicht-Juden – ohne unsere Vorleistung allein um Christus willen seine Liebe und Zuwendung und Gemeinschaft schenkt, uns in der Taufe mit seinem Geist begabt und zu seinen geliebten Kindern macht, obwohl wir noch seine Feinde sind und im Unfrieden mit ihm leben.
„In Christus Jesus gilt…der Glaube, der in der Liebe tätig ist.“ Dieses Paulus-Wort fasst den zweiten Teil des Römerbriefes zutreffend zusammen. Die Kapitel 12-15, aus denen auch unser Predigtwort stammt, verkünden die Lebensaufgabe der Christinnen und Christen. Sie sollen Gottes Heilsgabe der Liebe und Annahme als wahren, wortgemäßen Gottesdienst im Alltag für andere Menschen heilsam wirken lassen. Auch diese christliche Lebensaufgabe ist in Wahrheit also nichts anderes als ein liebevolles Geschenk Gottes. So sind die beiden Teile des Römerbriefes zwei Gestalten, zwei Seiten des gleichen Christus-Evangeliums und damit untrennbar miteinander verbunden. Dieses unauflösbare Miteinander von Gottes guter Liebesgabe und der christlichen Lebensaufgabe lassen uns nun die scheinbar so lebensfremden Mahnungen des Paulus völlig neu verstehen: Denn im Horizont des Christusglaubens verwandeln sich
Vergeltungsverzicht, Feindesliebe und Friedensdienst in gottgeschenkte, lebensförderliche Verhaltensweisen, die ganz organisch aus Gottes Liebestaten folgen. Christinnen und Christen geben lediglich an andere dankbar weiter, was sie selbst von Gott erfahren haben: seine unermüdliche Feindes- und Friedens-Liebe zu uns allen.
Gottes Geliebte, wie der Apostel uns Christinnen und Christen nennt, wir dürfen wirklich anders leben: Das ist die „evangelische“ Befreiungsbotschaft des Paulus! Er verkündigt sie hier einer römischen Christengemeinde, die vermutlich von Juden und Judenchristen bedrängt wurde. Im Jahre 49 n. Chr. hatte der römische Kaiser Claudius eine Reihe von ihnen wegen heftiger jüdisch-christlicher Streitigkeiten aus Rom verbannt. Nach seinem Tode im Jahr 54 n. Chr. durften die Verbannten wieder nach Rom zurückkehren. Hier versuchten sie nun, zur Zeit des Römerbriefes im Jahre 56 n. Chr., sich an den in der Stadt verbliebenen Christinnen und Christen zu rächen. In dieser Situation erinnert Paulus die römischen Christen daran, dass sie als „Gottes Geliebte“ vom Vergeltungszwang befreit sind und notleidenden Bedrängern sogar noch helfen und somit Böses durch Gutes-Tun besiegen können.
„Mich kann niemand ärgern“, erwiderte mir einmal ein Pfarrkollege, als ich ihn vorsichtig fragte, ob er sich nicht über einige kritische Äußerungen in unserer Gemeinde wohl geärgert habe. Ich stutzte zunächst über seine Antwort, verstand aber dann rasch, was er mir eigentlich sagen wollte: „Ich lasse eben nicht andere Menschen über mich und meine Gefühle bestimmen. Ich entscheide selbst darüber, was ich fühlen will. Ich bestimme allein, ob ich mich ärgere oder nicht!“ Diese selbstbestimmte Lebenshaltung ist es, die Paulus hier als Gottes Geschenk der Freiheit für alle Christen benennt. Denn wer sich bei erlittenem Unrecht verstehbare Rachegefühle bewusst versagt, wer sogar noch seinem bösen Feind Gutes tut, der gewinnt zunächst einmal etwas sehr Gutes – für sich selbst! Er erlebt nämlich wirklich jene Befreiung, die das Christus-Evangelium ihm geschenkt hat. Denn mit seinem Racheverzicht hört er endgültig auf, nur noch ein willfähriges, von Anderen auch noch innerlich beherrschtes Opfer zu sein.
Noch mitten in seiner bedrückenden Lage tritt er schon aus seiner bisherigen Rolle als fremdbestimmtes Opfer heraus und nimmt das Heft seines Lebens wieder selbst in die Hand.
Er fängt wieder an, ein Dasein zu führen, das sich in seinem Kern selbst bestimmt, jeder noch andauernden Unfreiheit zum Trotz.
Diese wunderbare Befreiungserfahrung haben jedenfalls schon unsere israelitischen Vorfahren im Gottesglauben gemacht, als sie – von Gott dazu ermutigt und begleitet – noch mitten in ihrer ägyptischen Knechtschaft mit einem Male ihre Sklavenrolle verließen und selbstbewusst ihre Freiheit zu selbstbestimmtem Glauben und Leben von ihren Sklaventreibern einklagten – und zwar am Ende mit Erfolg! So haben das auch die frühen Christen erfahren, als sie mit ihrer Taufe vom wertlosen Dreck der Gesellschaft, wie Paulus sie drastisch beschreibt, zu wertvollen Söhnen und Töchtern Gottes wurden, die nun als wahre Königskinder etwas vermochten, was sonst nur realen Königen vorbehalten blieb: auf ihr gutes Recht zur Rache und Vergeltung souverän zu verzichten. Diese königliche Freiheit der Christinnen und Christen zu Gewaltverzicht und Feindesliebe ist darum alles andere als unterwürfige Sklavenmoral oder würdelose Opfer-Schulung. Auch bleibt sie nicht auf eine kleine christliche Elite beschränkt. Diese königliche Freiheit, davon ist Paulus fest überzeugt, wird von Gott gleichsam „demokratisiert“: Was einst nur berühmte Ausnahmen vermochten, das dürfen, das können nun auch einfache, normale, durchschnittliche Menschen bewusst und getrost leben, weil Jesus Christus sie dazu befähigt.
In der Taufe auf seinen Namen hat er jedem Christen und jeder Christin diesen neuen Geist mit in die Wiege gelegt, den Geist der Vergebung und der Versöhnung und des Friedens. Und in jedem Vater-Unser, in dem wir beten: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“; in jedem Abendmahl, in dem wir Sünder im Brot des Lebens und Kelch des Heils Gottes große Menschenfreundlichkeit sehen und schmecken dürfen; in jedem Segen, der uns Gottes gütige Begleitung wirksam zuspricht; da kommt Gottes Geist der Versöhnung und des Friedens wieder in unsere Mitte und drängt uns zu allen hinaus, die auf diesen neuen Geist dringend warten. Denn die Befreiung der Kinder Gottes zur Feindesliebe tut allen gut. Das hat uns der jüdische Theologe Pinchas Lapide eindringlich aufgezeigt. Lapide nennt diese Haltung darum „Entfeindungsliebe“, weil eine gewaltfreie, freundliche, liebevolle Haltung gegenüber Feinden auch deren Chancen vergrößert, dem Sog des Bösen doch noch zu entkommen und ihr Leben noch einmal zum Guten zu wenden. Darauf zielt auch der vermutlich ägyptische Bußbrauch, den Paulus erwähnt: Der Bußfertige hält zum Zeichen seines Umkehrwillens ein Becken mit glühenden Kohlen über seinem Haupt. Und auch das Gericht, auf das Paulus verweist, dient nach dem Zeugnis unserer Hebräischen Bibel dem eigentlichen Rettungswillen Gottes, der damit seine lebensdienliche Weltordnung für Israel und alle Völker, insbesondere aber für Arme und Bedrängte durchsetzen will.
Wie lebensförderlich, sogar lebensnotwendig eine solche gottgewollte Entfeindung wirklich ist, das belegen uns alle Privat-Beziehungen und Gesellschaften, in denen diese Entfeindung zumindest ansatzweise gelingt – aber leider auch jene Gemeinschaften, in denen Hass, Gewalt und Feindschaft hemmungslos toben. Doch auch wir Christinnen und Christen müssen zugeben, wie schwer es uns immer wieder fällt, unsere königliche Freiheit zu Vergeltungsverzicht und Guttaten an Feinden auch tatsächlich zu leben. Doch diese Offensichtlichkeit darf nicht zu einer neuen Gesetzes-Predigt verleiten, die womöglich noch weitere Anstrengungen und höhere Leistungen verlangt. Lieber sollten wir Paulus folgen und täglich wieder den neuen Geist der Liebesfähigkeit und des Friedenswillens in uns wachrufen, den Gott uns allen in unserer Taufe geschenkt hat und der uns seitdem wie ein unsichtbarer Engel begleitet und uns täglich zuruft: „Du darfst wirklich werden, was du seit deiner Taufe schon lange bist: Gottes geliebtes, zur Liebe und zum Frieden befreites Kind!“
Um die Feindesliebe und den Umgang “mit den bösen Nachbarn” geht es in der Predigt von Pastor Dieckmann. Das ist ja auch das Thema des Predigttextes. Christliche Feindesliebe wird ja immer wieder gepredigt und als einmalige Stärke des christlichen Glaubens herausgestellt. Aber der Prediger fragt auch, ob nicht ein lebensfremdes Gutmenschentum mit Opfer-Haltung gefordert wird, anstatt Unrecht zu besiegen ? – Aber Gottes Liebe treibt die Christen, sich nicht zu rächen und zu vergelten, sondern mit Feindes – und Friedensliebe daranzugehen, alles möglichst zum Guten zu wenden. Als Christen sind wir wahre Königskinder, welche wie Könige auf das gute Recht der Rache und Vergeltung verzichten. Zu königlicher Freiheit werden wir Christen zur “Entfeindungsliebe” ( P.Lapide ) befreit. Zum Schluß erinnert Pastor Dieckmann daran, dass wir uns die “Entfeindung” nicht als moralische Leistung abverlangen müssen, sondern dass uns der Glaube trägt: Du bist Gottes geliebtes, zur Liebe und Freiheit befreites Kind. – Zum sehr komplexen und schwierigen Thema Feindesliebe hält der Pastor eine einleuchtende Predigt. Unser ganzes Rechts-System beruht ja auf Schadensersatz und Vergeltung von Schaden. Aber kein rein gerechtes Urteil hebt bei Opfern Rachegedanken auf. Ganz klar, zusammenfassend und überzeugend sagt der Pastor: “Die Befreiung der Kinder Gottes zur Feindesliebe tut allen gut.”