(Predigt vom 4. Advent / 22.12.2002, Predigtarchiv Heidelberger Predigt-Forum)
Das Magnificat – ein “evangelisches” Lied
Advent ist eine Zeit für Lieder! „Macht hoch die Tür” – „O Heiland, reiß die Himmel auf -„Es kommt ein Schiff geladen” – „Tochter Zion, freue dich”: Alle Epochen der Kirchengeschichte haben dazu beigetragen, dass Jesu Kommen auch in Liedern angesagt wird.
Auch unser Predigttext ist ein Lied! Lukas hat wohl einen älteren, aus biblischen Zitaten und gottesdienstlichen Formeln zusammengesetzten Psalm aufgenommen und in seine Geschichte von der Geburt Jesu eingebaut. Die Kirche hat dann später diesen „Lobgesang der Maria” in ihr Gebet, das den ganzen Tag begleitet und heiligt (Stundengebet, Tagzeitengebet, Brevier), aufgenommen. Das „Magnificat”, wie es nach dem Anfang seiner lateinischen Übersetzung genannt wird, erklingt in der Vesper, im Abendgebet als Hymnus.
Das Magnificat gehört zum täglichen Gotteslob der Kirche. Und das nicht nur bei Mönchen und Nonnen! Auch in der Evangelischen Kirche hat es eine Heimat gefunden. Auch Martin Luther hat das Magnificat 1521 ausgelegt: „Die zarte Mutter Christi lehrt uns mit dem Exempel ihrer Erfahrung und mit Worten, wie man Gott erkennen, lieben und loben soll”. Luther betont ausdrücklich, dass Maria in ihrer Erfahrung „durch den Heiligen Geist erleuchtet und gelehrt worden ist… Darum spricht sie nicht: Ich erhebe Gott, sondern: meine Seele erhebt Gott den Herrn, als wolle sie sagen: Es schwebt mein Leben und alle meine Sinne in Gottes Liebe, Lob und hohen Freuden, so dass ich, meiner selbst nicht mächtig, mehr erhoben werde, denn mich selbst erhebe zu Gottes Lob… Denn es ist kein Menschenwerk, Gott mit Freuden zu loben. Es ist mehr ein fröhliches Erleiden und allein ein Gotteswerk, das sich mit Worten nicht lehren, sondern nur durch eigene Erfahrung erkennen lässt”. Soweit Martin Luther. Auch viele Musiker wie z. B. Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach haben auf ihre Weise das Magnificat weitergesungen.
Mitsingen oder nur Mitsummen?
Wie steht es aber heute mit Luthers Erben? Singen sie noch diesen Lobgesang der Maria fröhlich mit? Oder beschränken sie sich eher auf ein zaghaftes „Mitsummen”? Nicht nur der Journalist Johannes Gross schrieb vor allem der protestantischen Kirche ins Stammbuch, dass sie zum öffentlichen Klima der Bundesrepublik „ihren Scheffel Mehltau” beitrage: „In ihr herrscht heute gleichsam ein ewiger Karfreitag, so dass die Verheißungen des Evangeliums dem Kirchenvolk nur in violetten Farben verkündigt werden… Ein schlechtes Gewissen gegenüber der Welt wird den Christen als gutes Bewusstsein insinuiert (angedient)… Aus der ekklesia militans (kämpfende Kirche) ist die ekklesia clamans (wehklagende Kirche) geworden. Wehklagen über die verderbte Zeit, das schon immer ihr Auftrag war, scheint jetzt ihr alleiniger zu sein”! Soweit Johannes Gross. Manchen scheint das eine Übertreibung zu sein. Aber ein Blick in so manche protestantische Verlautbarungen zeigt doch, dass Gross ein wachsamer Zeitgenosse war.
In einer Auslegung des Magnificat heißt es: „Der Text ertappt mich als Vater, der Kinder klein hält und klein macht… Der Text ertappt mich als Mann, der in seiner erlernten Rolle auf einem Thron sitzt… Der Text ertappt mich als Mitteleuropäer, dessen Konsum und Lebensstil Armut, Hunger und Tod in der Dritten Welt gebiert…” Das Magnificat wird dann schnell zum politischen Gassenhauer, der keine Freude, wohl aber ein schlechtes Gewissen hervorruft. Appelle und Anklagen werden übermächtig: Stellt diese Welt auf den Kopf, genauer: vom Kopf auf die Füße! Bringt die Welt in Ordnung! Hier kann man das Magnificat höchstens noch mitsummen. Bußpsalmen wären da wohl angemessener.
Bescheidenheit oder Selbstüberschätzung?
Wir haben das Magnificat noch im Ohr. Es ist das Loblied einer Einzelnen. Eine Aufforderung an die Gemeinde zum Mitsingen fehlt. Gott wird hier als der Handelnde angesprochen. Seine Taten werden aufgezählt. Er hat gehandelt. Maria glaubt das. Sie vertraut den großen Erzählungen Gottes. Elisabeth segnet sie: „Selig bist du, Maria, die du geglaubt hast! Denn es wird vollendet werden, was dir gesagt ist von dem Herrn”. Das ist die Mitte dieses Liedes!
Evangelische Marienpredigt preist nicht Maria, sondern singt mit Maria das Loblied auf den Gott, der auf seine Weise das Unterste zuoberst kehrt, das Niedrige erhöht, die Hungrigen sättigt, die Traurigen tröstet und die Mächtigen in ihre Schranken weist. Sollen wir das als Gemeinde Christi nur zur Kenntnis nehmen? Oder sollen wir dabei Gott ein wenig unter die Arme greifen, ein wenig bei diesem „Umsturz” mithelfen? Da heißt es dann: Das Christentum sei doch eine revolutionäre Bewegung; Jesus habe Herrschaftsstrukturen in Frage gestellt und eine „mit Sprengstoff geladene Botschaft” vertreten. Es gelte z.B. Megafusionen, Arbeitsplatzabbau, Unterdrückung der Frauen, Armut und Gewalt zu bekämpfen, Gerechtigkeitslücken zu schließen usw. usw. Das „Ich” der Maria wird nicht nur bei Dorothee Sölle (Die revolutionäre Geduld. Berlin 1974, 26) schnell ausgedehnt zum „Wir” und zu „Allen”: „Die große Veränderung, die an uns und durch uns (!) geschieht, wird mit allen geschehen!”
In der Tat: Dieser Lobgesang der Maria hat es in sich. Er ist gefährlich. Aber nicht nur für die Mächtigen, die Satten, sondern auch für die, die wir als die Ohnmächtigen, die Kleinen, die Armen halten. Im Magnificat geht es doch um den Gott, der seine Macht in den Dienst seines Erbarmens stellt. Auf dieses Erbarmen Gottes sind wir aber alle ohne Ausnahme angewiesen. Da haben auch alle unsere Einteilungen und Klassifizierungen ein Ende. Ein Blick in die Geschichte lehrt uns: Viele, die den Himmel auf Erden schaffen, die die Erde vom Kopf auf die Füße stellen wollten, haben die Hölle hinterlassen. Übrigens nicht nur Adolf Hitler!
Unser Leben und die “großen Erzählungen”
Vom dänischen Religionsphilosophen Sören Kierkegaard stammt die Bemerkung: Wir können unser Leben nur nach vorwärts leben, aber stets nur nach rückwärts verstehen. Und dieses Verstehen setzt voraus, dass wir es in den Horizont „großer Erzählungen” rücken, die menschliche Gesamtgeschichte deuten und die auch den Rahmen für die Deutung der jeweiligen Einzelgeschichten abgeben. Es gibt verschiedene solcher “großen Erzählungen”: Etwa die große Erzählung vom menschlichen Fortschritt. Oder die großen Erzählungen, die von Verfall und Katastrophen bestimmt sind.
In welchem Rahmen leben und handeln wir? Das ist nicht nur eine theoretische Frage. Nicht nur unsere einzelnen Wahrnehmungen, sondern auch unser Verhalten hängt wesentlich davon ab, in welchem Zusammenhang wir es deuten. Die „großen Erzählungen”, in die unsere jeweilige Biographie und unsere Erfahrungen eingefügt sind, haben eine lebenspraktische Bedeutung! Wer zum Beispiel sein Leben im Rahmen einer Befreiungsgeschichte versteht, der lebt und handelt anders als einer, der sein Leben im Horizont einer Verfalls- und Katastrophengeschichte versteht.
Sehen wir hier auf Maria! Sie stellt ihr Leben in den Zusammenhang der großen Erzählungen von Gottes Handeln in der Geschichte seines Volkes. Von da aus wertet ihr Glaube das Leben um. Von da aus wird ihr ein neues Denken, ein neues Leben ermöglicht.
Nur das Lied der Maria?
Wenn wir in das Magnificat hineinsehen, werden wir feststellen: Das Gebet der Maria ist zunächst das Loblied einer Einzelnen. Eine Aufforderung an die Gemeinde zum Mitsingen fehlt. Unsere Situation ist oft eine andere als die der Maria. Und dennoch: Unser Leben, unser Glück, unser Leid, unsere Erfahrungen: Sie dürfen eingebunden sein in die große „Rahmengeschichte”, in die großen Erzählungen von Gottes Handeln mit seinem Volk, die im Magnificat besungen werden. Das gibt uns die Erlaubnis, das Hoffnungslied der Maria mit- und weiterzusingen! Hier kann uns Martin Luther weiterhelfen! Er weist uns auf die große Rahmengeschichte hin, in der wir unser Leben verstehen dürfen und die sich nicht einfach in politische Programme und Handlungsanweisungen einfangen lässt.
Der fröhliche Wechsel und Streit
In seiner Schrift: „Von der Freiheit eines Christenmenschen” von 1520 geht es Luther darum, die dem Christen aus seiner Rechtfertigung durch den Glauben erwachsende Pflicht und Bereitschaft zum Dienen in einen weiten Horizont hineinzustellen. Er beginnt; „Damit wir gründlich erkennen können, was ein Christ ist und wie es um die Freiheit steht, die Christus ihm erworben und gegeben hat, von dem der heilige Paulus viel schreibt, will ich diese zwei Thesen aufstellen: Ein Christ ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem Untertan [verpflichtet]. – Ein Christ ist ein dienstbarer Knecht in allen Dingen, und jedermann Untertan [verpflichtet]”.
Martin Luther stellt diese Thesen in den Rahmen der großen Erzählung von Gottes Handeln mit uns hinein. Er benutzt dabei auch Elemente der mittelalterlichen Brautmystik, die uns zum Beispiel auch in Philipp Nicolais Lied „Wie schön leuchtet der Morgenstern” begegnet. Luther schreibt: „Der Glaube vereint die Seele mit Christus wie eine Braut mit ihrem Bräutigam. Aus dieser Ehe folgt, wie der heilige Paulus sagt, dass Christus und die Seele ein Leib werden (Epheser 5, 30). Daher werden auch beider Güter, Glück, Unglück und alle Dinge ihnen gemeinsam, so dass das, was Christus hat, der gläubigen Seele gehört, und das, was die Seele hat, Christus zu eigen wird. Einerseits hat Christus alle Güter und Seligkeit, die gehören der Seele. Andererseits hat die Seele alle Fehler und Sünden an sich, die werden Christus zu eigen. Hier beginnt nun der fröhliche Wechsel und Streit… Ist das nicht ein fröhliches Hochzeitsfest, auf dem der reiche, edle, gute Bräutigam Christus das arme, verachtete, böse Mädchen zur Ehe nimmt und von allen Übeln befreit und mit allen Gutem schmückt? Daher ist es nicht möglich, dass die Sünden sie verdammen, denn diese liegen nun auf Christus und sind in ihm verschlungen…”
Das ist die große Erzählung von Gottes Liebe zu uns, in deren Licht wir unsere Einzelgeschichte, unser jeweils besonderes Leben sehen und verstehen dürfen. Diesen fröhlichen Wechsel und Streit dürfen wir alle, Starke und Schwache, Mächtige und Kleine, Satte und Hungrige, auch heute im Gottesdienst feiern! Damit bekennen wir es: Gott stellt seine Macht in den Dienst seines Erbarmens. Dieses Erbarmen kann zwar in der jeweils konkreten Situation verschiedene und zuweilen auch richterliche Gestalt annehmen. Aber es ist und bleibt sein Erbarmen.
Auch Jenseits der Todesgrenze
Dass dieser fröhliche Wechsel und Streit auch über die Grenzen des Todes hinausgehen kann, das zeigt auch John Bergers Roman „Auf dem Weg zur Hochzeit”: Berger schildert die letzten Tage der aidskranken Ninon, einer jungen Frau, die mit ihrem Schicksal ringt. Mitten in die Schilderung der noch vor dem Ausbruch der Krankheit gefeierten Hochzeit von Ninon und Gino schaltet Berger die folgende Szene ein, die von diesem Ringen berichtet:
„Ninon tanzt barfuss mit den Armen um Ginos Hütte. Alle ihre Zöpfe drehen und winden sich wie ein heimliches Spiel für sie beide. Wenn sie ihre erste Lungenentzündung hat und zu Hause im Bett liegt, nachdem Gino zum Markt aufgebrochen ist, wird sie zu Gott beten: Die Welt ist schlecht – wie kann irgend jemand das nicht sehen? -, die Welt ist schlecht. Und Christus ist die Erlösung der Welt, wird ihre Seele wortlos sagen, er war es nicht, er wird es nicht sein, er ist es. In einem Raum, größer als das Universum, dem Raum, der von uns allen gebildet wird, wenn wir die Augen schließen, von allen Menschen, die leben, die gelebt haben, die leben werden. ..stirbt er und ist die Erlösung. Die Luft berührt meinen ganzen Körper, tut ihm weh. Es ist noch früh, die Autos setzen sich in Bewegung. Gino wird um vier Uhr zu Hause sein”.
Die Welt ist schlecht. Das sieht jeder. Nur die Seele weiß es besser. Sie weiß es ohne Worte und singt das Lied des Glaubens, macht den groß, der sich in die Welt hinab begibt, der stirbt und so die Erlösung ist. Glauben im Sinne der Maria überschreitet das, was vor aller Augen ist. Glaube stellt unser Leben in Gottes große Geschichte mit uns und mit der Welt hinein. Dadurch wird unsere Welt vom Kopf auf die Füße gestellt.