Wir haben in diesem Lutherjahr wieder einen beeindruckenden Kirchentag gefeiert: Eröffnungsgottesdienst in Berlin mit vielen weiteren Veranstaltungen, dann kam der „Kirchentag in Bewegung“ in die Städte Mitteldeutschlands, und schließlich das große Finale in Wittenberg auf den Elbwiesen mit evangelischen (und gewiss auch katholischen) Christen aus allen Landen und aus aller Welt. Aber auch Konfessionslose wurden in den Bann gezogen – warum auch nicht! Die Bilder leben wieder auf bei denen, die dabei waren, oder auch bei Ihnen, die Sie sich insbesondere auch die Abschlussveranstaltung im Fernsehen angeschaut haben. – Ich finde, gerade das große Finale hat immer etwas Beeindruckendes, Mitreißendes an sich. Es gibt Kraft und Schwung, gestärkt und mit guten Gedanken in die Zukunft zu gehen.
Ein großes Finale sieht auch der Prophet Jesaja vor seinem inneren Auge. Gott lässt es wie ein bewegtes Bild vor seinem geistigen Auge ablaufen. Das große Finale der Zeit, das große Finale der Welt. – Nun denken Sie bitte nicht: „Ach du liebe Zeit, Weltuntergang.“ Nein, es wäre wohl eine Freude, diese letzte Zeit, das große Finale, erleben zu können. Hören wir Jesajas Visionsbericht selbst:
(Lesung des Predigttextes)
Wahnsinn! Das große Finale der Zeit, das große Finale der Welt. Das Finale der Kirchentage übertrifft es bei weitem. Gar nicht damit zu vergleichen. Denn aus allen Himmelsrichtungen werden Völker herbeiströmen zum Tempelberg in Jerusalem, zum Zion: Juden aus aller Welt, aber natürlich auch Nichtjuden – die Bibel nennt sie ganz einfach „Heiden“. Sie alle strömen zum Zionsberg, angezogen von der Erhabenheit, bewegt vom Wunsch nach allgemeinem Weltfrieden, angetrieben von der Sehnsucht nach klarer Weisung. Denn klare Weisung kommt – das hat sich rumgesprochen – vom Zionsgott; Frieden ist – wenn überhaupt – nur mit ihm zu erwarten, nicht ohne ihn, nicht gegen ihn. Und die Erhabenheit Gottes auf dem Berg aller Berge lässt sie eins werden. Und ich stelle mir vor: Sie singen nach der Melodie „Großer Gott, wir loben dich“:
„Sieh dein Volk in Gnaden an. / Hilf uns, segne, Herr, dein Erbe; / leit es auf der rechten Bahn, / dass der Feind es nicht verderbe. / führ es durch die Zeit, / nimm es auf in Ewigkeit.“ Diesen großen Tag, dieses große Finale am Ende aller Zeiten nenne ich den „großen Zionstag“. Da wollen alle Völker wissen, wie es weitergehen soll mit ihnen, wie sie sich dieses Einheitsgefühl und diesen Frieden, der über dem Fest liegt, erhalten können. Sie wollen hinhören, sie wollen unterrichtet werden, wie es einen dauerhaften Frieden geben kann, sie suchen nach klaren Richtlinien des Verhaltens und wollen Gottes Wort dazu hören.
Jesaja sieht: Sie werden sich unterrichten lassen, alle Völker, auch die Heiden, von dem großen Zionsgott und werden Schwerter zu Pflugscharen und Spieße zu Sicheln machen. Er, der Zionsgott, wird sie dazu bringen, nicht nur abzurüsten, sondern umzurüsten: todbringende Waffen zu lebensdienlichem Werkzeug. Niemand wird mehr gegen den anderen Krieg führen; niemand wird dieses Handwerk mehr lernen müssen. Das sieht Jesaja, das hören wir von ihm, und unwillkürlich bin ich mit hineingezogen in die große Sehnsucht und sage: Ja, so kann es werden, so soll es werden, so wird es werden – mit Gottes Hilfe.
Im Rausch des großen Finale bekomme ich ein Wort mit, das mich auf den beschwerlichen, aber doch verheißungsvollen Weg in den Alltag weist: „Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, lasst uns wandeln im Licht des Herrn!“ Das gilt wohl auch mir. Aufbruch! Sich nicht in Träumen verlieren! Komm! Der steinige Weg zur Gewaltfreiheit und zum Völkerfrieden beginnt. Geh ihn! Nicht ohne Gott, nicht gegen Gott, sondern mit Gott – im Licht des Herrn! Was Jesaja uns hier als seine Vision schildert, ist die Mutter aller Friedensbewegungen. Wie gut, dass uns so etwas in unserer Heiligen Schrift überliefert ist. Dschihadisten haben sich immer wieder auf die Mutter aller Schlachten berufen oder kündigen sie für die nahe Zukunft an. Amerika wirft die Mutter aller Bomben auf Afghanistan, um Syrien, Nordkorea oder wen auch immer zu warnen. Wir lesen in unserer Bibel – zusammen mit unseren jüdischen Schwestern und Brüdern – von der Mutter aller Friedensbewegungen: der großen Völkerbewegung hin zum Zion. Wir müssen unsere Bibel nicht verstecken!
Die Friedensbewegung der ehemaligen DDR hatte ja genau dieses Wort als Losung: „Schwerter zu Pflugscharen!“ Und es ist von den westlichen Friedensbewegungen gern übernommen worden. Seit den Ostermärschen der 1960er Jahre haben sich Menschen immer wieder neu mit großer Beharrlichkeit auf den Weg gemacht, eine Welt ohne Waffen und ohne Krieg zu schaffen. Es wird keiner Generation erspart bleiben, sich auf den Weg zu machen, immer wieder. Denn das Finale ist noch nicht sichtbar, hörbar, fühlbar. Aber das sollte man von Jesajas Vision lernen: Das Finale ist eine Veranstaltung Gottes, bei der wir zum Mitmachen aufgefordert sind. Die Welt ohne Krieg wird kommen, aber als Geschenk Gottes an uns – mit unserer Hilfe, sonst nicht! In diesem Licht sollten wir alle, die wir uns von Sehnsüchten und Hoffnungen bewegen lassen, wandeln. Treten wir aus diesem Licht heraus und wollen es selber packen, werden wir scheitern oder von Mächten missbraucht, denen am Frieden nicht viel liegt.
Ja, der ewige Friede ist Gottes Geschenk, aber wir sind zum Mitgestalten aufgefordert. Was bedeutet es, auf Gottes Wegen zu wandeln? Paulus sagt: „Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden“ (Röm 12,18). Er weiß sehr wohl, dass wir unterwegs sind zum Finale; aber wir sind noch nicht angekommen. Trotzdem: Unterwegs bleiben dahin, das ist unsere Aufgabe. Paulus: „Darum lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander“ (Röm 14,19). Streit anzetteln ist leicht, Versöhnung leben schwer; das Kriegshandwerk zu erlernen, ist nicht die Zumutung, sondern es zu verlernen!
Ewiger Friede unter allen Völkern: Illusion oder Realutopie? Illusion, wenn wir glauben, wir können das alles packen ohne Gottes Hilfe. Sein Friedenshandeln übersteigt all unsere Möglichkeiten: Wir werden nie alle Völker vom Frieden überzeugen. – Illusion bleibt der Traum vom ewigen Frieden auch, wenn wir glauben, wir kämen ohne die ständige Rückbindung an den Gott des Friedens aus. Er ist das notwendige Korrektiv unseres Handelns. Darum lassen wir uns hineinziehen in sein Licht! Dann allerdings ist der Traum vom ewigen Frieden Realutopie. Denn es ist Gottes Projekt. Und was er anfängt, das wird er auch vollenden.
Lassen wir uns hineinziehen in sein Friedensprojekt, so wie die Völker dereinst vom Zion angezogen werden. Den Herrn vor Augen, wissen wir, wo es lang geht auf dem langen Pilgerweg des Friedens. Lasst uns Wegmarken setzen, dass andere es leichter haben. Lasst uns auch einkalkulieren. dass wir uns verlaufen. Haben wir Kraft und Mut, dann umzukehren und Selbstkritik zu üben. Lasst uns auch rasten und beten. Denn wir werden es nicht schaffen ohne Gottes Hilfe. Das ist keine Schwäche, für die wir uns schämen müssten. Das ist eben so. Auch der große Philosoph Immanuel Kant hat in seiner berühmten Schrift „Zum ewigen Frieden“ die „Leichtigkeit, Krieg zu führen“, mit der natürlichen Neigung des Menschen verbunden, „durch Gewalt sein Recht zu behaupten“. Er setzt dagegen auf die Stärke des Rechts und hofft schon 1795 auf eine Art Völkerbund, der sich zu ewigem Frieden verpflichtet, weil man sonst „den ewigen Frieden nur auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung stattfinden lassen würde.“
Einsicht beginnt bei uns. Lernen und Verlernen in unserem Kopf. Mitmachen bei Gottes Projekt beginnt bei uns im Kopf. Entscheiden wir uns und lassen wir uns in sein Projekt hineinziehen. Es hat schon längst begonnen. Am Kreuz. Denn da hat Christus den Sieg der Gewalt zunichte gemacht. Für alle Welt. Und als Sieger über die tödliche Gewalt kann er sagen: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden. Darum geht hin und macht zu Jüngern alle Völker“ (Mt 28,18f). Lassen wir uns anziehen von seiner Macht. Er geht mit uns alle Tage bis ans Ende von Zeit und Welt.