Gottes Zeit – geschenkte Zeit
Gesandt zu verbinden, die ein zerbrochenes Herz haben
Predigttext: Jesaja 61,1-3(4+9)11 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
1 Der Geist Gottes des Herrn ist auf mir, weil der Herr mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen;
2 zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn und einen Tag der Rache unsres Gottes, zu trösten alle Trauernden,
3 zu schaffen den Trauernden zu Zion, dass ihnen Schmuck statt Asche, Freudenöl statt Trauer, schöne Kleider statt eines betrübten Geistes gegeben werden, dass sie genannt werden »Bäume der Gerechtigkeit«, »Pflanzung des Herrn«, ihm zum Preise.
4 Sie werden die alten Trümmer wieder aufbauen und, was vorzeiten zerstört worden ist, wieder aufrichten; sie werden die verwüsteten Städte erneuern, die von Geschlecht zu Geschlecht zerstört gelegen haben.
5 Fremde werden hintreten und eure Herden weiden, und Ausländer werden eure Ackerleute und Weingärtner sein.
6 Ihr aber sollt Priester des Herrn heißen, und man wird euch Diener unsres Gottes nennen. Ihr werdet der Völker Güter essen und euch ihrer Herrlichkeit rühmen.
7 Dafür, dass ihr doppelte Schmach trugt, und für die Schande sollen sie über ihren Anteil fröhlich sein. Denn sie sollen das Doppelte besitzen in ihrem Lande. Sie sollen ewige Freude haben.
8 Denn ich bin der Herr, der das Recht liebt und Raub und Unrecht hasst; ich will ihnen den Lohn in Treue geben und einen ewigen Bund mit ihnen schließen.
9 Und man soll ihr Geschlecht kennen unter den Völkern und ihre Nachkommen unter den Nationen, dass, wer sie sehen wird, erkennen soll, dass sie ein Geschlecht sind, gesegnet vom Herrn.
10 Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn er hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Kopfschmuck geziert und wie eine Braut, die in ihrem Geschmeide prangt.
11 Denn gleichwie Gewächs aus der Erde wächst und Same im Garten aufgeht, so lässt Gott der Herr Gerechtigkeit aufgehen und Ruhm vor allen Völkern.
(Eigene Übersetzung, Christoph Kühne)
(Der Prophet spricht:)
1 Der Geist des Herrn IHVH (ruhte) auf mir, weil mich gesalbt hat IHVH, den Leidenden zu verkündigen; er hat mich gesandt, zu verbinden, die ein zerbrochenes Herz haben, auszurufenden Verschleppten ihre Freilassung und den Gefangenen die Öffnung, 2 auszurufenein Jahrder Erlösung bei Gott und einen Tagder Rache unseres Gottes, zu tröstenalle Trauernden, 3 zu erfreuendie Trauernden Zions, zu gebenihnen: einen Turban statt Staub (Asche), Freudenöl statt Trauer, Jubelgewand statt einen Geist der Verzagtheit. Man nennt sie „(mächtige) Bäume der Gerechtigkeit“ / „Pflanzung IHVHs“, um sich zu verherrlichen. 4 Und sie bauen uralte Trümmerstätten wieder auf; was verödet ist seit den Vorfahren, richten sie auf, und sie erneuern Städte der Verwüstung, was verödet ist von Geschlecht zu Geschlecht. … 9 Und ihre Nachkommenschaft wird bekannt werden unter den Heiden, und ihr Nachwuchs mitten in den Völkern. Alle, die sie sehen, erkennen: das ist die Nachkommenschaft, die IHVH gesegnet hat.
(Israel spricht:)
10 Ich freue mich sehr über IHVH, es jauchzt meine Seele über meinen Gott; denn er hat mich bekleidet mit den Gewändern der Hilfe, mit dem Mantel der Gerechtigkeit hat er mich eingehüllt - wie ein Bräutigam, der sich mit dem Kopfschmuck schmückt, wie eine Braut, die ihr Geschmeide anlegt. 11 Denn wie die Erde hervorbringt ihre Sprösslinge und ein Garten seine Zöglinge zum Spriessen bringt, so lässt der Herr IHVH lässt spriessen Gerechtigkeit und Lobpreis vor allen Völkern. -
Erste Gedanken beim Lesen des Predigttextes
Was für ein Anspruch, den “Jesaja“ formuliert! Wer kann das von sich behaupten, dass „der Geist des Herrn“ auf ihm sei und dass „der Herr mich gesalbt hat“? Wer kann von sich sagen, er sei der Messias, der Gesalbte, der Christus? Hier spricht ein Mensch, der sich gesandt weiss, „den Elenden gute Botschaft zu bringen“. Ist das nicht Aufgabe der Predigt, den Menschen ein „Evangelium“ weiterzugeben? Also könnten wir alle solche „Gesandte“, solche „Apostel“ sein! Und wir ermutigen andere Menschen „wieder aufzurichten, was vorzeiten zerstört worden ist“ (V 4). Und wir sind erkennbar als „Gesegnete vom Herrn“ (V9). Und dies ist keine Last sondern eine „Freude im Herrn“ (10a).
Der Sprecher weiss sich angezogen mit „Kleidern des Heils“, mit dem „Mantel der Gerechtigkeit“ (10b). Alles wirkt leicht, licht, fröhlich - wie eine Weihnachtsbotschaft. Wer von Gott gesandt ist, wächst auf, wird groß, schön. Er geht den Menschen auf wie die Sonne mit ihrem Licht, ihrer Wärme, ihrer Hoffnung. Und mit dem Menschen geht die Gerechtigkeit auf, ein „Ruhm vor allen Heidenvölkern“ (11). Jesus: Ihr seid das Licht der Welt (Mt 5,14). Was für ein Anspruch! Was für ein Zutrauen! Was für eine Verheissung an uns!
Theologische Anmerkungen
Der Predigtabschnitt wird „Tritojesaja“ zugesprochen, einem Autor, der Einblicke in das nachexilische Judentum vermittelt. Unser Abschnitt erinnert an die Gottesknechtslieder des Deuterojesaja.
Hier wird ein Prophet nicht von einem anderen Propheten in sein Amt eingesetzt sondern von IHVH selbst „gesalbt“ und berufen. Der Prophet weiss sich gesandt (V 1bß). Seine Aufgaben gelten teils für die seelische, teils für die körperliche Heilung:
V1 verkündigen den „Elenden“, Leidenden seelisch verbinden die gebrochenen Herzens sind seelisch ausrufen der Freilassung die Kriegsgefangenen körperlich Öffnung des Gefängnisses die Gefangenen körperlich
V2 ausrufen eines Gnaden-Jahrs und eines Vergeltungstags Volk, Feinde körperlich/seelisch trösten alle Trauernden seelisch
V3 Öl statt Asche ersetzen die Trauernden um Zion körperlich Seelisch kann ein Mensch nur gesunden, wenn er körperlich frei ist. Für die Freigewordenen beginnt somit ein „Jahr des Wohlgefallens“ (V2): Gottes Gnade ist größer als seine Vergeltung. Wenn die Gefangenen ihre Freiheit gewinnen, ist das Elend überwunden, und sie tragen wieder die „Insignien ihres Wohlstandes“ (vgl. Hiob!). Das Volk gleicht dann mächtigen Terebinthen (V 3b).
Folgende geschichtliche Phasen sind bisher festzustellen:
- Phase 1 (Vv1+2): Die Gefangenschaft ist zu Ende, das Exil vorbei. Die Gefangenen gewinnen Freiheit und Licht
- Phase 2 (V3): Der Trost setzt ein: an die Stelle des Unglücks tritt das Glück (Turban, Freudenöl, prächtiges Gewand)
- Phase 3 (V4): Die Trümmer werden weggeräumt, Israels Ansehen unter den Nationen steigt - und mit ihm das Ansehen Gottes, der sein Volk gesegnet hat.
Bis jetzt hat der Prophet gesprochen. Jetzt jubelt Israel. Es ereignet sich eine „Investitur“ des Volkes Gottes mit Turban und Festtagskleid. Doch der neue Prozess braucht Zeit - so wie Pflanzen Zeit brauchen, um zu wachsen. Doch dazu muss das Volk Gottes mitwirken. Gott wirkt das Gute, weil / wenn der Mensch zu wirken bereit ist. Es folgt
Phase 4 (V4+9): Das aus dem Exil zurückkehrte und dem Aufbau seines Landes zugewandte (V4), unter den Völkern wegen des Gottessegens bekannte Israel (V9) weiß in seiner Freude und seiner Dankbarkeit, dass nur im Wachsen der Gerechtigkeit seine Zukunft zu sichern ist.
Das Licht der Weihnacht lässt allmählich nach. Dennoch stehen wir noch im Licht der Krippe. Die Weihnachtszeit ist eine Zeit großer Gefühle – schlechter wie guter. Familienzwist ist ebenso häufig wie erhebende Momente beim Weihnachtsoratoriums. Unendlich viele Geschichten und Texte sind um das Weihnachtsfest verfasst worden. Und immer wieder werden auch Worte der Hebräischen Bibel herangezogen, um Bethlehem zu begreifen. So auch der Text, der heute vor uns liegt und der in Jesaja 61 steht.
(Lesung des Predigttextes, I. Der Prophet spricht: V.1-9, II. Israel spricht: V. 9-10)
Wie sollen wir uns einem solchen Text nähern? Es ist fast ein Gedicht, das von einem Propheten eingeleitet wird, der von seiner Berufung, seiner Be-Geisterung durch Gott, erzählt. Wir kennen seinen Namen nicht, erfahren „nur“, dass der Geist Gottes auf ihm ruhte. Was kann es schöneres, besseres, hoffnungsvolleres geben, als dass Gottes Geist auf uns ruht? Der Prophet erlebt sich als Gesalbten, also als ein König, als einen Auserwählter Gottes. Dass „Gesalbter“ auf Griechisch „Christus“ heisst, ist die Verbindung zu Jesus. Auch Jesus wusste sich von Gott angenommen, erwählt und berufen. Gibt es heute, unter uns, „Gesalbte“, „Könige Gottes“, „Propheten“?
Wir lesen in der Bibel, dass Propheten ihre Berufung zunächst einmal vehement ablehnen. Sie fühlen sich zu jung, zu unfähig. Unser Prophet aber bricht in einen Jubel aus. Der „Gesalbte“ weiß sich „gesandt“ – das griechische Wort ist Apostel. Wer von Gott begeistert ist, bleibt nicht mehr bei sich, sucht nicht das seine, sondern bekommt eine neue Lebensaufgabe, weiss sich als „Werkzeug Seines Friedens“. So auch unser sog. „Jesaja“. Er sieht die Situation der Menschen. Damals waren es heimatlose Juden, die in der Verbannung im Zweistromland lebten, oder auch Juden, die wieder nach Palästina gezogen sind. Allen gemeinsam ist die Trauer um die verlorene Heimat. Wo sind wir zuhause? Wo ist unser Gott, unsre Zuversicht und Hoffnung? Was sollen, was können wir tun? Was lohnt sich überhaupt noch anzufangen in diesem Leben? „In diesem Lande leben wir wie Fremdlinge im eigenen Haus“ singt Wolf Biermann in seinem Hölderlin-Lied – ein Gefühl, das nicht wenige unter uns kennen – seien wir jung, erwachsen oder alt.
Vielleicht hat damals unser Prophet – vor seiner Berufung – versucht, Sozialarbeit zu machen, den Menschen zu helfen, sie wieder aufzurichten. Und die Juden mögen damals gefragt haben, wieso er sich einbilde, Lösungen für ihre Probleme zu finden. Er sei doch auch nichts besonderes. Und dann hat ihn der Gottesblitz getroffen: „Der Geist Gottes liegt auf mir und hat mich zu euch gesandt, zu euch, den Elenden, den Trauernden, den Leidenden.“ Ob das seine Zeitgenossen akzeptiert haben? Ich kann mir vorstellen, dass sie gemerkt haben, dass da einer nicht aus eigenem Antrieb kommt, nicht aus eigener Begeisterung, sondern, dass Gott ihn gesandt hat, er also ein „Apostel“ Gottes ist. Denn was er in seinem Auftrag den Menschen mitteilt, kann eine soziale Firma heute nicht erfüllen, so sehr sie sich auch anstrengt:
– Eine gute Botschaft – griechisch: Evangelium – wird er den „Elenden“ verkündigen. Wird nicht Jesu Leben eine einzige Gute Nachricht, ein Evangelium, sein?! Und damit sind auch wir Christen ein Licht in der Welt, das niemand mehr übersehen wird.
– Der Prophet wird „zerbrochene Herzen verbinden“. Ich erinnere mich an ein Objekt von Gunther von Hagens in seinen „Körperwelten“, wo er ein „zerbrochenes Herz“ präpariert hat. Ein Herz, das zuviel tragen muss, kann zerbrechen und damit auch die Hoffnung und Sinn
eines Lebens.
– Die Juden werden damals nicht schlecht gestaunt haben, als der Prophet ihre Befreiung verkündet hat. Ein Jahr der Erlösung soll es sein. Feiern dürfen die Menschen ihre Freiheit, dürfen wieder wachsen und groß werden, dürfen wieder ihre Häuser aufbauen und ihre Städte, dürfen wieder Heimat haben. Freiheit, atmen können, erste Schritte gehen, Raum zum Leben haben.
– Und alle Trauernden werden getröstet werden. Ihre gekappten Wurzeln werden wieder treiben. Und die Freude wird wieder einziehen wie Vögel in die Krone der Bäume. Und Lieder und Musik wird man hören in dieser neuen Zeit, die der Prophet Gottes den Menschen bringt.
– Diese Menschen werden der Welt wieder Hoffnung geben. Man wird sie unter den Völkern erkennen, weil sie nicht nur für sich sondern für diese Schöpfung da sind. Sie werden für die Welt als „Gesegnete“ erkennbar.
Es sind Worte der Begeisterung, die allmählich zu spriessen beginnt wie Pflanzen im Garten. Diese Hoffnung will gepflegt werden, begossen, beharkt, damit sie die ganze Welt umfängt und wir alle Platz auf ihr haben und Luft und Licht und – Freude. Und damit sind wir beim zweiten Teil unseres Gedichts:
Israel jubelt, das Volk Gottes ist „fröhlich in meinem Gott“. Ob der Funke der Freude auch auf uns überspringt? Die Juden damals fühlten sich wie neu angezogen von Gott. Gewänder der Hilfe, ein T-Shirt der Gerechtigkeit tragen die Menschen. Das Gewand der Hilfe, hebr. Jeshua, Jesus, führt auch zum Kind in der Krippe. Aber auch das Gewand der Gerechtigkeit finden wir bei Jesus.Wie könnten wir anders leben als mit Blick auf den Andern? Und dass wir ihm gerecht werden mit unseren Worten und Taten?! So bricht eine neue Zeit an, so wie sie mit Jesus Christus angebrochen ist. Diese neue Zeit ist Gottes Zeit, die er uns Menschen schenkt. Diese Zeit und diesen Raum wollen wir „bauen und bewahren“, hegen und pflegen. Denn so „lässt der Herr IHVH Gerechtigkeit spriessen und Lobpreis vor allen Völkern“. Den Samen hat der Prophet gesät. Freude wächst auf. Lassen wir uns von Gott begeistern, von dem Licht, das in der Krippe anfängt und der Welt einen „hellen Schein“ des Lebens gibt.
Nach der außergewöhlich gründlichen und ausführlichen Predigtvorbereitung folgt eine tröstliche und ermutigende Predigt über den Tritojesaja -Text. Der Text ist fast ein begeistertes Gedicht, kann man sagen, das der Propghet tiefsinnig von seiner Berufung erzählt.Deutero- und Trito-Jesaja gelten ja für die Christen Vorläufer Jesu. Sie verbindet schon Nächstenliebe mit der Prophetie des Gottesreichs. Deswegen ist diese Predigt besonders warmherzig und hoffnungsfroh und christlich zum Beginn des Jahres.