Gottesgeschenk Musik

Zum Sonntag Kantate, dem Sonntag der Kirchenmusik – Befreiendes Gotteslob

Predigttext: Apostelgeschichte 16,23-34
Kirche / Ort: Lübeck
Datum: 06.05.2012
Kirchenjahr: Kantate (4. Sonntag nach Ostern)
Autor/in: Pastor i.R. Heinz Rußmann

Predigttext: Apostelgeschichte 16,23-34 (Übersetzung nach Martin Luther, Rev. 1984)

23 Nachdem man sie hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Aufseher, sie gut zu bewachen. 24 Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block.  25 Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und die Gefangenen hörten sie.  26 Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, so daß die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen, und von allen fielen die Fesseln ab.  27 Als aber der Aufseher aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offenstehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen.  28 Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier!  29 Da forderte der Aufseher ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen.  30 Und er führte sie heraus und sprach: Liebe Herren, was muß ich tun, daß ich gerettet werde?  31 Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!  32 Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren.  33 Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen  34 und führte sie in sein Haus und deckte ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, daß er zum Glauben an Gott gekommen war.

Textbesinnung und Predigtüberlegungen

I.   Paulus wurde für den auferstandenen Jesus Christus zum größten  Marketing-Strategen der Geschichte. Deswegen hat er auf seinem Weg von Kleinasien nach Athen und dann Rom besonders in allen wichtigen Städten missioniert (nach Franz Berger und Harald Gleissner: Das Paulus-Prinzip). Nach der neueren These des jüdischen Religionsphilosophen Jacob Taubes (Die politische Theologie des Paulus) verstand sich Paulus als neuer Mose, der das Gottesvolk aus Juden und Christen unter Jesus vereinigen wollte. Im Predigttext ist er in Philippi in Nord-Griechenland/ Mazedonien angekommen. Es ist seine erste Station in Europa. Er beginnt sogleich mit seiner christlichen Mission. Er erzählt, wie das Evangelium sein eigenes Leben veränderte. Weil er den Mächtigen zu gefährlich wurde, wird er angeklagt, gegeißelt und zusammen mit Silas ins Gefängnis geworfen und an den Füßen gefesselt. Weil der Verfasser der Apostelgeschichte, Lukas, eine Vorliebe für Wunder hat, gibt es im Predigttext zehn Wunder (s .Predigt ).  Ein besonderes Wunder ist,  dass Paulus und Silas im Gefängnis nach der Folter  Loblieder singen können, bei denen alle Gefangenen zuhöre (M. Luther, Rev. 1984, übersetzt „sie lobten Gott“, die BigS sie „sangen zum Lobe Gottes“, gr. „hymnein“, vgl. dt. „Hymne“).  Von Pastor Stellbrink, einem der vier Lübecker Märtyrer, die im vergangenen Jahr vom Papst gewürdigt wurden, wird erzählt, dass er im Gefängnis laut Kirchenlieder gesungen habe. Das Hauptwunder im Predigttext ist das anschließende Erdbeben, durch welches sich  die Gefängnistüren öffnen und die Fesseln der Gefangenen sich  lösen. Ein Wunder ist, dass die Gefangenen nicht weglaufen. Groß ist schließlich das Wunder, dass der Gefängniswärter sich zum christlichen Glauben bekennt, weil Paulus und die Gefangenen nicht geflohen sind.

II.   Man  könnte auf die zehn Wunder im Predigttext hinweisen. Durch deren Nacherzählung gliedert sich die Predigt sinnvoll bis zu Schlussbetrachtung und Höhepunkt: das Gottes-Geschenk der Musik öffnet auch Kerker der Seele. Dabei könnte man am Sonntag Kantate aufmerksam machen, wie wichtig es heute ist, Glaubenserfahrungen der  Psalmen und Kirchenlieder zu leben und weiterzugeben,  auch durch Auswendiglernen.

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Wunder gibt es immer wieder, auch heute in unserem Alltag.  Der  Predigttext enthält sogar zehn Wunder. (1) Ein Wunder ist schon die unglaubliche Energie des Paulus. Die Management-Experten  F. Berger und  H. Gleissner  beschreiben in ihrem Buch „Das Paulus -Prinzip“ Paulus als  den erfolgreichsten größten Werbefachmann der Geschichte.  Innerlich getrieben durch seine Mission wanderte er zu  den  für die Jesus-Werbung wichtigsten Städten der Antike. Sein  strategisches Ziel für die Mission war die Öffentlichkeit. Deswegen strebte er zur geistigen Hauptstadt Europas Athen und danach zur  politischen Hauptstadt  Rom. Unser Predigttext beginnt, dass Paulus nach seiner Mission  in  Kleinasien auf seiner zweiten Missionsreise auch die römisch beherrschten Völker  Europas von Jesus, dem Messias, dem Christus, dem Heiland der Welt, jetzt von  Gott  überzeugen wollte.  So wie Moses das jüdische Volk am Sinai durch den einen Gott vereint hatte, wollte er jetzt unter Christus das neue Gottesvolk aus Juden-  und Heiden-Christen zusammenführen. Also setzte er mit dem Schiff damals über nach Griechenland. In Philippi geschah gleich das Wunder (2), dass die reiche Händlerin Lydia für den Glauben an Jesus Christus gewonnen werden konnte.  Eine Wahrsagerin durchschaute wunderbarerweise (3) die weltgeschichtliche Bedeutung des Paulus und redete  auf dem Markt  unaufhörlich über Paulus. Paulus lehnte als Christ aber Wahrsagerei und Aberglauben öffentlich schroff  ab.  Wegen Störung der politischen Ordnung nahmen die römischen Behörden Paulus und seinen Freund Silas gefangen. Danach liegen Paulus und Silas  im tiefsten  Kerker  und sind an den Händen und Füßen gefesselt. Verständlich wäre es, wenn sie nachts ein bitteres Klagelied anstimmten, warum Gott die Mission für Jesus nicht einfacher fördert.

Wie durch ein Wunder ( 4 ) haben Paulus und Silas  die Kraft,  an ihren Glaubenserfahrungen in der Krise festzuhalten, indem sie im dunklen Loch  christliche Loblieder für  Gott laut anstimmen. Ihre Gedanken gehen zu Gott, sie blicken auf Gottes wunderbare Möglichkeiten zu helfen. Vielleicht singen sie einen ähnlichen Psalm wie unser Lied:  „ In wieviel Not, hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet!“  Ich persönlich glaube, dass ihre Stimme aus der Tiefe damals zusammengeklungen hat mit dem ständigen Lobgesang der Engel, welcher das ganze Weltall zusammen mit vielen physikalischen Schwingungen durchdringt und durchklingt. Da geschieht das unglaubliche  Wunder ( 5 ): Die Kerkertüren öffnen sich. Wunder sind  Wunder, weil man sie nicht genau erklären kann oder wenn wir ein Geschehen plötzlich von Gott her verstehen  können. Ein Erdbeben kurz nach dem Lobgesang befreit  die Gefangenen. Jeder kennt wunderbare Zufälle, Schutzengel und Fügungen, die uns manchmal sogar unser Leben gerettet haben. Ein besonderes Wunder ist es, wenn sich die Türen vom Gefängnis unserer Sorgen und Ängste durch unseren Lobgesang auf Gott hin öffnen und wir neue Hoffnung schöpfen können.

Wie viele Menschen werden durch Musik getröstet! Wie oft erfahren wir und hören davon, dass Musik Menschen ermutigte, neue Wege für sich zu finden. Paulus und Silas fliehen ( 6 ) wunderbarerweise nicht aus dem Gefängnis, nachdem sich die Kerkertüren durch das Wunder geöffnet hatten. Der Kerkerwächter setzt ihre Flucht als selbstverständlich voraus. Weil  er eine  brutale römische Strafe für sich erwartet,  will er sich das Leben nehmen. Ein   Wunder (7)  an Feindesliebe zeigt Paulus. Obgleich der Gefängniswärter ihn so gequält hatte, hält er ihn zurück und rettet so seinem Feind und Folterer das Leben.  Darauf geschieht das nächste Wunder ( 8 ): Der Kerkermeister sieht sich befreit von seinen Ängsten und will ein Christ werden. Er ist so beeindruckt von diesem neuen Lebensweg, den er bei Paulus und Silas erlebt hat: Selbst eingekerkert noch Hoffnung zu haben und Loblieder singen zu können und auch im feindlichen Gefängniswärter noch den zu schützenden Menschen zu sehen! Diese Kraft, diese Hoffnung, diesen Umgang möchte der Wärter auch für sich und seine Familie und möchte deshalb getauft werden!  Auch heute lassen sich  Erwachsene oft taufen, wenn sie sehen, dass wir Christen trotz  Not und Leid getrost sind und Gott trotz allem loben können und die  Nächstenliebe nicht vergessen . Außerdem überzeugt bisher glaubensferne Menschen, wenn wir Christen besonders fair, ehrlich und aufrecht sind.

Das eigentliche Wunder (10) ist,  dass Gott uns die Musik geschenkt hat, die uns wie Paulus und Silas in Not ermutigen kann!  Wie arm wären wir, wenn es nur Geräusche und Sprache gäbe!  Wir können singen und musizieren, und Mauern der Seele können sich öffnen. Darüber möchte ich am Singe-Sonntag Kantate erinnern. So war es von Anfang an. Kennen Sie Jubal?  Nach der Bibel ist er der erste Musiker. Als Ur-Urenkel des Brudermörders  Kain erfindet Jubal das Flöten- und Zitherspiel, um in dunkler Zeit nach dem Sündenfall sich und andere zu trösten (1.Mose 4,21).  Aber es gibt nach der Bibel noch eine zweite Wurzel der Musik. Gott selbst befiehlt, silberne Trompeten anzufertigen, damit die Gottesdienste feierlicher werden ( 4.Mose 10, 1-10 ). Auch für die alten Griechen gab es zwei verschiedene Wurzeln  der Musik: Der Gott Dionysos erfand die rauschhafte Musik, die wie heutige Rock- und Jazz-Musik und die meiste Unterhaltungsmusik uns das graue Leben vergessen lassen.  Der Gott Apollo war dagegen zuständig für die Musik, welche die Seele zur göttlichen Welt und zum  Engelgesang emporhebt.  Niemand kann das  wohl besser als Johann Sebastian Bach, der immer nur Musik zum Lobe Gottes komponierten wollte.  Kirchenlieder und Psalm-Gesänge, wie die von Paulus und Silas gesungenen,  können die Seele mit Gott verbinden.  Martin Luther sagt es so: „Die Musik ist eine Gnade Gottes. Sie macht das Gemüt froh. Sie verjagt den Teufel. Sie bereitet unschuldige Freude. Darüber vergehen Zorn, Begierden und Hochmut. Der Musik gehört der erste Platz nach der Theologie!“

Heute bestätigt die moderne medizinische Forschung die positive Wirkung der Musik. Das Glückshormon Oxytoxin wird dabei ausgeschüttet. Dadurch werden wir friedfertiger und kontaktfreudiger und aufgeschlossener. Mehrstimmige Musik fördert komplexes Denken. Wie Untersuchungen bei Schülern zeigen,  macht Musik intelligenter.  Musik tröstet nach der  Psychologie von Prof. Julius Kuhl (Der kalte Krieg im Kopf ) Menschen bei ihren Ängsten und Sorgen. Wer nachts über seine Probleme mit Vernunft-Argumenten grübelt, benutzt nur die rationale linke Gehirnhälfte. Da es auf jedes Argument ein Gegenargument gibt, kommt er aus dem angstvollen Kreislauf des Grübelns nicht heraus. Der Schlaf wird verhindert. Wer singt, betet oder an Gott denkt, benutzt seine intuitive und ganzheitlich denkende Gehirnhälfte. Die verkrampften Gedanken können sich leichter lösen  und das Wunder kann geschehen, dass  unsere Seele aus der Kerker der Angst befreit wird und wir getrost weiterschlafen können.  Bei meiner Seelsorge haben mir sehr viele Christen erzählt, dass die Lieder unseres evangelischen Gesangbuchs sie unglaublich getröstet haben.  Auch ich selbst beende nachts das endlose Grübeln der linken Gehirnhälfte.  Ganz bewusst  wende ich mich dem guten großen Gott zu, indem ich durch Selbst- Suggestion mich der rechten intuitiven Gehirnhälfte bediene. Ich  mache eine Entspannungsübung nach Jacobsen,  singe leise Kirchenlieder vor mir her und bete bekannte Gebete und Psalmen mehrfach hintereinander. Der liebe Gott schenkt mir gewöhnlich dann wieder guten Schlaf.  Die Kerkermauern der Verkrampfungen und Sorgen  öffnen sich und ich bin frei.

Am Sonntag Kantate könnten wir uns bedanken für unseren großen Schatz an Kirchenliedern. Vielleicht nehmen Sie zu Haus mal ihr Gesangbuch zur Hand und versehen alle Lieder mit Zensuren von eins bis sechs. Ich habe einmal mit unserem Organisten die Gesangbücher ausgetauscht und bewertet. Gerührt und verbindend stellten wir fest, dass alle Paul -Gerhardt- Lieder von uns beiden eine „Eins“ bekamen. Heute könnten wir  auswendig gelernte Kirchenlieder erneut einüben  und auch im Alltag vor uns her summen. Vielleicht nehmen Sie sich vor, demnächst  im Kirchenchor mit zu singen? Auch wenn es nostalgisch anmutet:  Besonders wichtig ist nach meiner Erfahrung, dass nicht nur Kindergottesdienst- Kinder und die Familien, sondern  besonders  die Konfirmanden  recht  viele  Lieder auswendig singen können. Früher wurden zwar zur Gitarre in den Gemeinden viele moderne Kirchenlieder mit den Konfirmanden gesungen. Das Auswendig-Lernen von Kirchenliedern aber kam zu kurz. Es erschien als mühsam und  zerstörte die lockere Jugendstunden-Atmosphäre. „Alle Lieder, die man singen will, stehen doch im Gesangbuch“, war  die Devise.  Aber später hat man es  meistens nicht dabei, wenn man es unbedingt braucht . Wenn man spontan Gott loben will oder wenn man in irgendwelchen dunklen Kerkern des Lebens gerade gefangen ist.  Paulus und Silas jedenfalls  konnten ihre Lieder auswendig. Wenn wir unsere Glaubenslieder singen, können wir spüren, dass Gott dabei ist. Ich möchte den genialen, in mehrfacher Weise farbigen christlichen Jazzmusiker John Coltrane mit den poetischen Worten aus  „love supreme“ zitieren:  „Alles, was ist, hat mit Dir zu tun. Danke Dir, Gott!  – Gott ist.  Er war seit je. Er wird immer sein. Worte, Klänge, Sprache, Menschen, Erinnerung. Gedanken, Angst, Zeit: Es ist alles miteinander verwandt…Es ist alles durch Einen gemacht, es ist alles in Einem gemacht,- Gesegnet sei Dein Name.  Gedankenwellen-Herzwellen-alle Schwingungen- alle Wege führen zu Gott.  Danke Dir, Gott. – Die Tatsache schon, dass wir existieren, ist Beweis Deiner Gegenwart, oh Herr. Gott atmet durch uns so vollständig  und doch so zart, dass wir es kaum fühlen. Er ist alles, was wir sind. Alles Lob sei Dir, oh Gott. Danke Dir, Gott“.

 

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3 Kommentare on “Gottesgeschenk Musik

  1. Dorothea Zager

    Der Einstieg „Wunder gibt es immer wieder, auch heute in unserem Alltag“ ist steil und anregend, da er zunächst zum Widerspruch reizt:
    Ich gehe davon aus, dass diese Aussage für den/ die Predigthörer/in nicht so selbstverständlich ist, wie es der Prediger für sich selbst und für seine Hörer/innen voraussetzt. Im Gegenteil: Ich vermute, dass der eine oder andere diesen Satz glatt verneinen würde. Darum hätte ich mir gewünscht, der Prediger hätte, bevor er in die fleißige Aufzählung der zehn Wunder rund um den Predigttext des Sonntags einsteigt, diesen Gedanken zunächst inhaltlich ausgeweitet und am Alltagserleben der Hörer verifiziert und ihn nicht in seiner Fragwürdigkeit gänzlich offen gelassen.

    Gut getroffen ist der Skopus des Textes und des Sonntags: Singen befreit Körper und Seele. Wer gerne singt, wird dies dankbar bestätigen. Wervnoch nicht so gerne singt, kann dazu ermuntert werden. Da Heinz Russmann diesen Skopus gut erkannt und herausgearbeitet hat,
    hätte es meines Erachtens gar nicht der (etwas mühsam empfundenen)
    Aufzählung aller zehn Wunder bedurft, die durch die Menge ihres
    Auftretens nicht automatisch glaubhafter werden.

    Sehr gelungen ist der geschichtlich-theologische Bogen, den Russmann
    gespannt hat vom ersten Flöten- und Zitherspiel des Jubal bis hin zu
    dem bekannten Lutherwort über den hohen Stellenwert der Musik gegenüber
    der Theologie. Da erfährt der Predigthörer/die Predigthörerin Vieles, was ihm/ihr über Musik in der Bibel und in der Kirchengeschichte
    bisher vielleicht unbekannt gewesen ist. Wer Musik liebt, der freut
    sich über den hohen Wert, der ihr über jahrhunderte hinweg zugemessen
    wird. Man weiß jetzt, warum man musikbegeistert ist!

    Genauso interessant und mit mannigfaltigen – sicher vielen Hörern/innen
    auch noch unbekannten und daher wertvollen – Fakten versehen ist der
    Predigtteil über die psychologische und soziologische Wirksamkeit der
    Musik und des gemeinsamen Gesangs. Hier wird das, was viele, die gerne
    singen, selbst an sich schon verspürt haben, nämlich die befreiende
    Kraft des (gemeinsamen) Gesangs bestätigt und wissenschaftlich
    untermauert. Gelungen!

    Postmoderne Begriffe wie „Management-Experten“, „Werbefachmann“ oder
    „Jesus-Werbung“ wünschte ich mir vermieden. Selbst wenn man – wie es
    der Prediger tut – Paulus als „Werbestrategen“ sehen mag, Paulus
    selbst hat sich sicher nicht als ein solcher verstanden, wie es im
    modernen Sinn gemeint ist: Werbestrategen sind Fachleute für Methoden
    und Strategien, Produkte zu promoten und zu verkaufen, mit dem einzigen Ziel: den Profit zu steigern, also ein rein wirtschaftliches und
    egoistisches Ziel. Dieser Marketinggedanke war Paulus völlig fremd –
    und hört sich deshalb auch im Zusammenhang einer Predigt fremd an.
    Paulus verstand seine Mission als eine Mission für den Menschen und
    dessen Heil, indem er ihm hilft, Christus zu erkennen. Ein
    wirtschaftliches oder gar eigennütziges Ziel hatte Paulus nie.

    Das Plädoyer für die Neuentdeckung des Auswendiglernens hat mich besonders gefreut. Es ist überfällig, Pfarrkollegen/innen, Lehrer/innen
    und Jugendreferenten/innen für diese Form des Memorierens neu zu
    gewinnen. Was im Zuge der Gesellschaftsreform der 1970er Jahre verloren
    gegangen ist, soll und darf neu entdeckt werden: der Wert des
    Ausweniglernens. Meinen Konfirmanden/innen, die über die ihnen erteilten Auswendiglernpflichten natürlich maulen, erzähle ich oft Geschichten von erblindeten Senioren/innen, die in meinen Gottesdiensten aber kräftig mitsingen können, weil sie die Liedverse
    auswendig in sich tragen, oder von Demenzerkranken, die schon seit
    Jahren verstummt sind, aber dann wieder beginnen mitzusprechen, wenn
    ich bekannte Psalmen oder beliebte Vertrauenslieder an ihrem Bett
    spreche oder singe. Es darf getrost immer wieder darauf hingewiesen
    werden: „Man kann Dir im Leben alles nehmen, nur nicht das, was Du
    gelernt hast.“ Am Sonntag Kantate ist dafür genau der richtige Zeitpunkt, zu dieser „alten“ aber keineswegs veralteten Tugend wieder zu ermutigen.

  2. Chr. Kühne

    Fragen an den Kommentar von Frau Zager:

    – Wie groß mag der Anteil der Wunderkritiker im Gottesdienst sein? Und wie viele Gottferne werden heute den Weg in eine Kirche finden?
    – Wie kann man sich eine “inhaltliche Ausweitung” des Wunders vorstellen?
    – Was können wir nach der dekalogischen Wunderdarlegung über das Wesen des Wunders sagen?
    – Inwieweit entspricht nicht auch eine postmoderne Begrifflichkeit heutigem Sprachempfinden?
    – Verkaufen wir nicht alle irgendetwas mit irgendeiner (bewussten) Strategie? Vielleicht wurde früher die Arbeit einer Gemeindeschwester nicht so bewertet (und bezahlt)?!
    – Kann einen heutigen Jugendlich wirklich das Bild eines Erblindeten reizen, Gesangbuchverse auswendig zu lernen? Oder sollte es nicht andere Attraktionen geben, die das Auswendiglernen fördern?!
    – Welche Vorschläge zur Begegnung der heutigen Krise des Singens kann man hier – und natürlich auch an Sonntag Kantate – machen?

  3. Dorothea Zager

    – Ich bin mir sicher, dass mehr Gottesdienstteilnehmende Wundern gegenüber kritisch sind als wir glauben und als sie es selbst zugeben würden. Ich selbst bin Wundergeschichten gegenüber ja mehr als kritisch!

    – “Wunder gibt es immer wieder” ist ein nichtssagender Allgemeinplatz und muss inhaltich entfaltet werden, z.B.: das Wunder, das ein Mensch den anderen lieb gewinnt; das Wunder, dass nach Herbst und Winter wieder Kraft in die Knospen fährt, sie zum Blühen und Treiben bringt; das Wunder, das aus der Liebe zweier Menschen ein neuer Mensch entsteht, der wiederum etwas ganz eigenes ist, das Wunder, dass ein Körper nach Krankheit oder Verletzung heilt uvm.

    – Mir selbst (Jg. 1959) war es früher schon unangenehm, wenn die ältere Generation “unsere” Sprache gesprochen hat (Prof. M. versuchte das z.B. in seinen Systematik-Vorlesungen, und ich empfand es als anbiedernd). Heute ist es mir genauso unangenehm, wenn Menschen meiner Generation die Begrifflichkeiten der Jugend übernehmen, und auf einmal statt “ausruhen” “chillen” sagen und statt “Was hast Du heute abend vor?” “Was geht ab?”. Dadurch, dass wir uns postmoderner Begrifflichkeit bedienen, wird das, was wir sagen wollen, nicht verständlicher.

    – Nein, ich “verkaufe” nichts. Verkaufen heißt: etwas beim Anderen loswerden und dabei Profit machen. Ich lade die Menschen ein, das Geschenk Gottes – seine Gnade – anzunehmen. Wie könnte ich etwas verkaufen, was ER verschenkt?

    – Unseren Jugendlichen wird viel zu wenig davon erzählt, wie es anderen ergeht, wenn sie älter werden, krank werden oder in eine Krise geraten. Ich möchte mit dem Bild eines Erblindeten die Jugendlichen nicht reizen, sondern ihn bewusst machen, dass sie nicht nur in den Konfirmandenunterricht gehen, um das Fest der Konfirmation zu erreichen und die damit verbundene finanzielle “Belohnung”, sondern dass sie im christlichen Glauben eine Wegzehrung finden, die länger hält als das Konfirmationsgeld.

    – Das Singen selbst hat keine Krise. Nur das traditionelle Singen in herkömmlichen Gottesdiensten oder in den Gesangvereinen unserer Dörfer. Bei Taize-Gottesdiensten, auf dem Kirchentag oder bei Gospel-Festivals singen die Menschen mit Begeisterung – von den weltlichen Begeisterungsgesängen z.B. in Fußballstadien ganz zu schweigen. Das heißt: Es ist unsere Aufgaben, Menschen wieder zu begeistern, dann singen sie auch wieder. Die Lieder müssen wieder begeisternder sein, dann erklingt das Gotteslob wieder von ganz alleine (z. B. Halleluja von L. Cohen oder die Messe vom Licht von G. Linßen).

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