Halt
In eigenen Erfahrungen nach den Spuren Gottes suchen
Predigttext: Hiob 14, 1 – 6 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe,
geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.
Doch du tust deine Augen über einem solchen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst.
Kann wohl ein Reiner kommen vom Unreinen? Auch nicht einer!
Sind seine Tage bestimmt, steht die Zahl seiner Monde bei dir und hast du ein Ziel gesetzt, das er nicht überschreiten kann:
So blicke doch weg von ihm, damit er Ruhe hat, bis sein Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut.
Hinführung zum Predigtwort
In der Regel ist für mich als Predigerin eine ausführliche Exegese unabdingbar. Das Hiobwort allerdings, Hiob 14, 1 – 6, traf mich selber mit einer ungeheuren existenziellen Wucht, die mich dazu brachte, auch als Predigerin in diesem Fall von Anfang an ganz persönlich zu werden. Die Erfahrungen von Krankheit, Abschied und Tod, Trauer, die meinen Alltag noch sehr gefangen hält, und der frohen Botschaft, die meinen Glauben bestimmt, dass Gott der durch die menschlicher Geschichte Mit-Gehende, dass Jesus der Mit-leidende ist, klingt gleich einem Antiphon zu Hiob 14, 1 – 6.
Wie kann die tiefe Erfahrung einer (reaktiven) Depression, die Hiob artikuliert, anders als existenziell aufgenommen werden? Zeitloser Bibeltext, zeitlose Erfahrung! Aussagen über Gericht, Reinheit, Unreinheit wirken als ein Fremdkörper im Textgefüge. Viel eher sehe ich eine geistlich-geistige Weiterentwicklung hin zu den Gedanken von Augustin, aus den „Confessiones“: „Du hast uns auf dich hin geschaffen und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir“. Nicht anders als mystisch, im Gespräch der Seele mit Gott kann ich mich den letzten Fragen nähern. Erfahrungen von Verlust, Tod und Trauer betreffen nicht allein fromme Menschen. Wir sollten uns davor hüten, einen Text von solcher existenzieller Bedeutung nur frommen Menschen zugänglich zu machen. Allerdings muss die Antwort einer Predigerin / eines Predigers auf die Depression des Hiob eine Hoffnung weckende sein, für glaubende Menschen, dazu möchte ich mich selber gerne zählen, eine Glauben stärkende. Wir können von unseren Erfahrungen mit Gottes Geleit durch das Leben nur glaubend berichten, als stärkendes Angebot. Nicht auftrumpfend gegenüber einer vermeintlich nicht–glaubenden Umwelt. Deren Gefühle und Wirklichkeit sind behutsam aufzunehmen, wie ich es versuche mit dem Lied „Nur zu Besuch“ der „Toten Hosen“.
Der oben beschriebene Antiphon, das „neue Lied, das wir singen“, klingt für mich in vertonten Psalmen an, wie „Befiehl du deine Wege“ (EG 361, siehe Predigt), oder „Die güldne Sonne“ (EG 449), da besonders Str. 8: „Alles vergehet, Gott aber stehet, ohn‘ alles Wanken, seine Gedanken, sein Wort hat ewigen Grund. Sein Heil und Gnaden, die nehmen nicht Schaden, heilen im Herzen die tödlichen Schmerzen, halten uns zeitlich und ewig gesund.“ Wer mag, kann auch Matthias Claudius zitieren: „Der Mensch lebt und bestehet nur eine kleine Zeit / Und alle Welt vergehet mit ihrer Herrlichkeit. / Es ist nur einer ewig und an allen Enden, und wir in seinen Händen. - In der Einrichtung der Behindertenhilfe, in der ich tätig bin, der Johannes-Diakonie Mosbach, haben wir die gute Tradition eines von Kantor und Andachtskreis ausgewählten Monatsliedes. Im November ist dies bei uns das Lied: „Herr, wir bitten, komm und segne uns“ (EG Nr 610, Badische Ausgabe). Dort heißt es: „In die Nacht der Welt hast du uns gestellt, deine Freude auszubreiten. In der Traurigkeit, mitten in dem Leid, lass uns deine Boten sein“. Solche Botin und Botschaft soll die Predigt sein.
Lied: " Befiehl du deine Wege" (EG 361, 1-3 u. 12)
November, Allerheiligen, Gedenken der Verstorbenen. Für viele Menschen sind diese Tage besonders belastend. Wer unter uns einen lieben Menschen verloren hat, lebt jetzt voller Erinnerungen. Ehrlich gesagt: An solchen Tagen erwarte ich von einem Predigtwort Positives, Aufbauendes – und was finde ich hier: „Der Mensch … lebt nur kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.“ Aua, das tut jetzt noch mehr weh! Meine eigene Endlichkeit wird mir stärker bewusst, wenn ich an die Abschiede der vergangenen Jahre denke. Hiob verstärkt dies noch. In diesem Predigtwort werde ich noch länger nach dem Evangelium suchen müssen, auf das ich hoffe.
Hat Gott ein Wort des Friedens, des Trostes für mich, einen liebenden Gedanken? Was hält mich in meinem Alltag, in meinem Glauben aufrecht? Immerhin will ich Gott nicht nur an Sonn- und Feiertagen aufsuchen, in der Kirche, an besonderen Orten. Mich trägt, dass Gott durch alle biblischen Zeugnisse hindurch immer wieder seine Zusage gibt: Im Ersten Testament offenbart er sich dem geknechteten Volk in seiner Not als der „Ich bin, der ich bin“ (2. Mose / Exodus 3,14). Gott geht mit durch Zeiten, die nicht nur Glanz und Gloria bedeuten, sondern auch Not und Hilflosigkeit. Die Beter und Beterinnen der Psalmen vertrauen auf den mitgehenden Gott, auch in Schicksalsschlägen, düsterer Zeit. Der Mensch gewordene Gottessohn verheißt nach dem Leid des Kreuzes und der Überwindung des Todes seine mitgehende Botschaft an alle, die ihm nachfolgen wollen: „Siehe, ich bin bei euch, alle Tage, bis an der Welt Ende“ (Matthäus 28,20). Wo aber spüre ich diesen mitgehenden, mitfühlenden, tragenden Gott und Gottessohn?
Hiob bleibt in seiner Trauer erst einmal gefangen in seinem Kummer. Im Tod kann er nicht Erlösung erkennen, wie wir es oft bei Todesanzeigen lesen, sondern er setzt noch eins drauf in der Depression: das Gericht. Da ist: Nicht einer, der vor Gott bestehen kann. Uff, das ist hart! Ich will aber in meinen eigenen Erfahrungen nach den Spuren Gottes suchen, der auch in Kummer und Leid mich nicht allein lässt, der seine Zusage gibt, zu mir zu stehen. Wenn ich von mir spreche, beziehe ich Sie, die Predigthörer und – hörerinnen mit ein. Wo sind unsere Erfahrungen von Gottes Nähe? An einem Tag voller Sorgen bin ich auf dem Rückweg von einer mich immer wieder psychisch anstrengenden Untersuchung in der Heidelberger Uniklinik. Die Krebserkrankung scheint überwunden, doch die Folgen haben meinen Körper, meinen Geist gezeichnet. Noch andere Sorgen um Angehörige, Abschied und Trauer überschatten diesen Tag im Oktober 2012. Im Autoradio läuft entspannende Musik, eine Hitparade. Dann höre ich ein Lied, das mir in diesem Moment wie aus dem eigenen Herzen zu entstammen scheint. Ein ruhiges Lied der sonst so lauten „Toten Hosen“ mit Sänger Campino, ganz leise, ganz unaufgeregt. Offensichtlich ist es von großer Bedeutung für viele Menschen, denn sie haben dem Lied „Nur zu Besuch“ (2002 alle Rechte bei: JKP – Jochens Kleine Plattenfirma) einen vorderen Platz in der Hitparade eingeräumt:
„Immer wenn ich dich besuche, fühl ich mich grenzenlos. Alles andere ist von hier aus so weit weg.
Ich mag die Ruhe hier zwischen all den Bäumen, als ob es den Frieden auf Erden wirklich gibt.
Es ist ein schöner Weg, der unauffällig zu dir führt. Ja, ich habe ihn gern, weil er so hell und freundlich wirkt.
Ich habe Blumen mit, weiß nicht, ob du sie magst. Damals hättest du dich wahrscheinlich sehr gefreut.
Wenn sie dir nicht gefallen, stör dich nicht weiter dran. Sie werden ganz bestimmt bald wieder weggeräumt.
Wie es mir geht, die Frage stellst du jedes Mal. Ich bin okay, will nicht, dass du dir Sorgen machst.
Und so red‘ ich mit dir wie immer, so als ob es noch wie früher wär, so, als hätten wir jede Menge Zeit.
Ich spür dich ganz nah hier bei mir, kann deine Stimme im Wind hör’n,
und wenn es regnet, weiß ich, dass du manchmal weinst, bis die Sonne scheint, bis sie wieder scheint.
Ich soll dich grüßen von den andren, sie denken alle ganz oft an dich.
Und dein Garten, es geht ihm wirklich gut, obwohl man merkt, dass du ihm doch sehr fehlst.
Und es kommt immer noch Post, ganz fett adressiert an dich, obwohl doch jeder weiß, dass du weggezogen bist.
Und so red‘ ich mit dir wie immer,
und ich verspreche dir, wir haben irgendwann wieder jede Menge Zeit.
Dann werden wir uns wieder seh’n,
du kannst dich ja kümmern, wenn du willst,
dass die Sonne an diesem Tag auch auf mein Grab scheint,
dass die Sonne scheint, dass die Sonne scheint“.
Empfindungen angesichts eines Abschieds. Nein, es ist kein religiöses Lied, und ich will es auch nicht in diese Richtung umdeuten. Es ist eine Erfahrung, die der Sänger Campino hier mit Vielen teilt. Teilt er diese Erfahrung auch mit Ihnen? Es ist die Erfahrung der Trauer. Im ganzen Lied wird der Tod nicht einmal erwähnt, der Gang zum Grab wird als Besuch und „Reden wie immer“ dargestellt. Erst am Ende, da wünscht sich der Sänger das Wiedersehen, „dass die Sonne auch auf mein Grab scheint“. Ein paar Tage später muss meine Mutter abends als Notfall ins Krankenhaus. Ich begleite sie und bin bis tief in die Nacht bei ihr, bis ich mit dem Taxi heimfahre. Der Taxifahrer kommt mit mir ins Gespräch, und als er bei mir daheim den Taxameter abstellt, sagt er mir zum Abschied. „Wissen sie eins: Am Tage unserer Geburt, da wurde uns schon die Uhr gestellt.“
Hiob – Erfahrungen, damals wie heute. Gut, sich verstanden und aufgehoben zu wissen, Erfahrungen zu teilen. Die Erfahrungen des Hiob sind genauso menschlich – weltlich wie die von Campino. Die Depression wird ausgehalten, nicht abgeschwächt. Aber halt, Eines ist doch entscheidend: Die Erfahrung des Verlustes, der Trauer, sind gemeinsam mit anderen besser auszuhalten. Trost gibt Einer dem Anderen, auch über die Gräber hinweg. Trost ist, sich gegenseitig zu berichten, was Halt gibt in Zeiten des Abschieds – und sich die Gewissheit im Glauben zuzusprechen, nicht allein auf dem letzten aller Wege zu sein. Der Weg in den Tod ist nicht der letzte mögliche Weg. Wir haben die Zusage, dass es weiter geht danach. Davon dürfen wir nicht schweigen angesichts des Todes. Eine Ahnung davon klingt in Campinos Lied an: „Dass die Sonne auch auf mein Grab scheint“. Zugegeben, das ist weltlicher Trost, beinhaltet aber die Hoffnung, die am Leben erhält, nicht verloren zu sein. So wird am Tage unserer Geburt nicht rückwärts gezählt wie in einem großen Countdown, auch wenn uns Tag und Stunde gewiss schon festgelegt sind, wie der Taxifahrer es auch wusste.
Nein, wir zählen vor auf die große Ewigkeit, das letzte Wort Gottes, das er, und nicht Menschen, über unser Leben spricht. Der alte Kirchenlehrer Augustinus, aus dem 5. Jahrhundert, übermittelt uns aus seinem mühsam errungenen Glaubensleben einen Schatz der Mystik. Er spricht, ja er rechtet mit Gott wie Hiob und bekennt gleichzeitig vor Gott: „Du hast uns auf dich hin geschaffen. Und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir!“ Das menschliche Leben mit seinem Unwissen ist voller Unruhe, doch in Gottes ewiger Erfüllung ist Ruhe, Frieden für die Seele! Solange wir alle noch auf dem Weg sind auf diese ewige Ruhe hin, ist es gut, den Begleiter an unserer Seite zu wissen, der den ganzen Weg kennt: Jesus Christus, Gottes Sohn. Stimmen wir mit Paul Gerhardt in den Gegengesang zu Hiob ein, die Umsetzung von Psalm 37 (Str 1 und 12): „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege, des der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann. – Mach End, o Herr, mach Ende mit aller unserer Not, stärk unsere Füß‘ und Hände und lass bis in den Tod uns allzeit deiner Pflege und Treu empfohlen sein, so gehen unsere Wege gewiss zum Himmel ein“.
Die depressive Stimmung des Hiob-Textes wird in der Predigt ausgehalten und nicht abgeschwächt. Der Trost besteht am Ende darin, dass es nach dem Tod weitergeht. Gott hat uns auf ihn hin geschaffen. Bei ihm finden wir Ruhe und Frieden für die Seele. Im Gegensatz zu Hiob können wir mit Paul Gerhardt singen, dass unsere Wege gewiss zum Himmel eingehen. Jesus begleitet uns auf diesem Weg. Ganz aktuell und originell ist das Lied von den Toten Hosen in diese Predigt eingewoben.
Die besten Predigten sind halt diejenigen, die von jemandem gehalten werden, der/die weiß wovon er/sie spricht.
Dann kann man sogar Hiob aushalten.
Sicher gut angekommen! Alle Anerkennung.
Ob am Schluß wenigstens die Hörer direkt (per Du/Sie/Ihr) hätten angesprochen werden sollen? – Zum Beispiel: Macht Besuche, sagt “Dein Erlöser lebt” (Hiob 19,25)