Probleme über Probleme
Es ist alles viel zu schön, um wahr zu sein – bzw. um wahr werden zu können – mit diesen Worten könnte man meine Probleme mit diesem Abschnitt des Römerbriefes zusammenfassen. Es hört sich alles so gut an, aber ich finde, wenn man diese Anweisungen von Paulus einmal konsequent durchdenkt, dann stimmen sie nicht unbedingt – und nach allem, was wir wissen, hat auch Paulus selbst sich nicht unbedingt daran gehalten.
„Vergeltet niemandem Böses mit Bösem“, das klingt gut und überzeugend. Wir alle wissen um die Gewaltspirale. Menschen tun einem anderen etwas Böses, der rächt sich, vielleicht ein wenig stärker als der ursprüngliche Angreifer, dann rächt der sich wieder… und so weiter und so fort. Blutrache ist eine der bekanntesten Formen, und in einigen Ländern sollen Jungen über 12 Jahre sich nicht mehr aus dem Haus trauen – und selbst als zu uns Geflüchtete anschließend noch in Angst leben – weil ihre Familie in Blutrache mit einer anderen Familie verwickelt ist.
„Seid auf Gutes bedacht gegen jedermann“, auch das klingt gut. Wir sollen anderen Gutes tun, jedem helfen, wie der barmherzige Samariter einem Feind in Not half. Aber wer ist dieser Jedermann oder diese Jedefrau? Ist es unsere Familie, sind es unsere Nachbarn, andere Deutsche, oder sind es alle Menschen in Not in der ganzen Welt? Da kann man unterschiedlichster Auffassung sein, es gibt die verschiedensten Hilfsorganisationen für alle möglichen Gruppen in praktisch allen Winkeln der Erde. Ich glaube nicht, dass Paulus auf die Idee gekommen wäre, Hilfspakete an hungernde Germanen zu schicken, und trotzdem handeln wir heute so, fühlen uns dazu durch diese Worte beauftragt.
Auch darüber, was „gut“ ist, kann man verschiedener Meinung sein, das sieht man, wie „Brot für die Welt“ -Projekte sich in den letzten 50 Jahren verändert haben. Im Moment wird Gartenbau propagiert – und ich frage mich immer, was die armen Menschen in solch einem Projekt tun sollen, die solche schwarze Daumen haben wie ich.
Immerhin ist die nächste Aufforderung eingeschränkt, sonst wäre sie gar nicht einzuhalten. „Ist‘s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden“. Mit allen Menschen, das ist ein Wunschtraum, den wohl die meisten von uns hegen. Viele Gemeinden singen zum Abschluss eines Gottesdienstes: Verleih uns Frieden gnädiglich. Der Segen, dass Gott uns Frieden geben möge, beendet den Gottesdienst. Trotzdem ist es gut zu sehen, dass Paulus bemerkt, dass es manchmal nicht geht – dass man manchmal tun kann, was man will, es gibt Menschen, mit denen man einfach keinen Frieden halten kann – z.B. weil sie keinen Frieden halten wollen.
Dieser Abschnitt wird ja oft zitiert, wenn wir die andere Wange hinhalten sollen, nachgeben sollen, ertragen sollen, was andere uns antun. Solche Worte werden zitiert, wenn wir Verständnis haben sollen für Leute, die anders handeln, die uns Böses oder Gewalt antun. „ Als PastorIn sollten Sie so etwas nicht tun“, das wird dann gerne mit Hinblick auf diese Paulusworte festgestellt.
Kann man das einhalten?
Das genau ist mein Problem mit diesem Abschnitt des Römerbriefes: Er ist schlichtweg nicht praktikabel. Wir Menschen sind einfach nicht so. Und ich denke auch nicht, dass es immer gut ist, Böses mit Gutem zu vergelten, Unrecht still zu ertragen oder sich vielleicht sogar zu fragen, wo denn die eigenen Anteile an der erlittenen Gewalt sind.
Frauen, die von ihren Partnern misshandelt werden, haben zum Teil schon jahrzehntelang die Schuld bei sich gesucht, haben versucht, sich so zu verhalten, dass ihnen nichts geschieht, haben niemals Böses mit Bösem vergolten – aber es hat ihnen nichts genützt. Manchmal wird die Situation dadurch sogar noch schlimmer.
Polizisten, Notfallhelfer werden in Deeskalation trainiert – eigentlich nichts anderes, als auf Gutes bedacht sein gegenüber Jedermann, zu lernen, wie man es eben nicht zu Gewalt oder zu einer Spirale der Gewalt kommen lässt. Trotzdem nützt ihnen das in einigen Situationen nichts, die Gewalt in Stuttgart vor zwei Wochen ist ein gutes Beispiel dafür.
Paulus selbst, ich sagte es schon, hat sich auch nicht daran gehalten. Im Galaterbrief schildert er Vorfälle aus der Gemeinde in Antiochien. Petrus war dort, und alle Christen haben zusammen gegessen, gleichgültig, ob sie ursprünglich Juden oder Heiden waren, obwohl genau dies für Juden verboten war. Dann kamen Anhänger von Christen, die vorher Juden waren, nach Antiochien, die sich noch strikt an die jüdischen Gesetze hielten. Plötzlich aß Petrus anscheinend nicht mehr zusammen mit den heidnischen Christen, um diese andere Christen nicht zu verärgern.
Abgesehen davon, dass das eine Situation war, in der er eine Seite verärgern MUSSTE, die Frage war nur, welche – schreibt Paulus: Ich widerstand ihm ins Angesicht, vor allen anderen stellte er ihn zur Rede. Wenn er es nicht getan hätte, wären der christliche Glaube heute anders, wenn es uns überhaupt noch geben würde – weil wir eine kleine unbekannte jüdische Sekte geblieben wären. Gehorsam gegenüber Gott hieß in diesem Fall also nicht: nachgeben, moderieren, diskutieren oder Kompromisse schließen, sondern es hieß Standhalten und Widerstand leisten. Genau das tat Paulus.
Es ist schwierig, mit dem Verhalten untereinander. Immer nur lieb und immer nur friedlich geht einfach nicht, dazu ist die Welt zu kompliziert. Jemand hat einmal gesagt: Wenn der Klügere immer nachgibt, regieren die Dummen. Wenn ich Gewalttäter gewähren lasse und versuche, ihnen mit Gutem zu begegnen, regieren die Brutalen. Ich glaube nicht, dass Paulus das meinte, ich glaube nicht, dass Gott das so will.
Paulus schreibt von Gott her
Ich finde es wichtig zu beachten, dass die Christen damals zur Zeit des Paulus oft gar keine Möglichkeit hatten, sich gegen Unrecht zu wehren. Frauen konnten es sowieso nicht, sie waren rechtlos. Aber auch die sogenannten kleinen Leute, die Sklaven und Sklavinnen, von denen ja viele Christen geworden waren, konnten sich nicht wehren, mussten tun, was ihnen gesagt wurde, mussten ertragen, was ihnen angetan wurde. Es macht einen Unterschied, ob ich Unrecht ertrage, weil es nicht anders geht, oder ob ich Unrecht zulasse, das ich hätte ändern können. Wenn solche Menschen sich gerächt hätten, wäre es schlimm ausgegangen – für sie selbst, aber vielleicht auch für ihre Mitsklaven oder ihre Kinder.
Wichtig finde ich auch das Versprechen, dass Gott für uns Rache üben wird, dass er vergelten wird, was uns angetan wurde. Wenn wir uns nicht rächen, egal ob wir es lassen, weil wir es nicht können oder weil wir es nicht wollen, bei Gott ist unser Leiden aufgehoben. Er wird für Ausgleich sorgen, auch wenn wir es nicht können oder wollen.
Was Paulus hier beschreibt, sind eben nicht nur allgemeine Verhaltensregeln für ein besseres menschliches Zusammenleben. Paulus schreibt von Gott her, dass wir auf Gott sehen sollen, wenn wir anderen Menschen begegnen, dass wir uns an Gottes Handeln orientieren sollen. Und Gott rächt sich – erst einmal in diesem Leben – nicht an uns, denn dann würde keine/r von uns Gottes Ansprüchen genügen.
Weil wir alle aus Gottes Gnade leben, deshalb sollen wir so handeln. Und ich denke, dass Gottes Gnade uns auch die Einsicht schenkt, wann wir wie handeln sollen. Er schenkt uns Einsicht, wenn es gut ist, zurückzustecken und wann, standzuhalten, wann wir uns wehren sollen und wann ertragen. Gottes Gnade umgibt uns mit Seiner Liebe, und diese Liebe sollen wir weitergeben, immer und überall – und wie auch immer.