Hartnäckig
Wer betet, rechnet mit Gott und seinem Willen, die Welt zu verändern und zu erlösen, noch mehr: Gerechtigkeit zu schaffen
Predigttext | Lukas 8,1-8 |
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Kirche / Ort: | Karlsruhe |
Datum: | 10.11.2013 |
Kirchenjahr: | Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr |
Autor: | Pfarrer PD Dr. Wolfgang Vögele |
Predigttext: Lukas 18,1-8 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
(Jesus) sagte ihnen aber ein Gleichnis darüber, dass sie allezeit beten und nicht nachlassen sollten, und sprach: Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher! Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue, will ich doch dieser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage. Da sprach der Herr: Hört, was der ungerechte Richter sagt! Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er's bei ihnen lange hinziehen? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze. Doch wenn der Menschensohn kommen wird, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?
Schon der hellblaue Brief des Amtsgerichtes im Briefkasten kann eine gewisse Unruhe verursachen. Der Familienvater wird als Zeuge eines Verkehrsunfalls zur Verhandlung geladen. Zu festgesetzter Uhrzeit hat er sich im Gerichtsgebäude einzufinden. Auch wenn er den Unfall nur als Passant beobachtet hat, erfaßt ihn eine gewisse Unruhe. Was wird der Richter ihn fragen? Woran wird er sich erinnern? Stimmen seine Aussagen mit denen der anderen Zeugen überein? Auch wenn solche Verhandlungen in nüchternen, sparsam möblierten Räumen mit grellem Neonlicht stattfinden, so umgibt das Gericht, den Gerichtssaal und den Richter doch eine gewisse Aura. Diese strenge und ernste Atmosphäre kann kein weißer Resopaltisch, kein schmuckloser, lieblos eingerichteter Raum und keine flackernde Neonleuchte zerstören. Bei der Person des Richters macht sich die Aura zuerst einmal an der Robe fest, in der Regel in schlichtem Schwarz, bei den oberen Gerichten in Karlsruhe, Kassel und Berlin in Rot. Richter zeichnen sich durch ihre Unabhängigkeit aus. In Deutschland muß jeder Richter vor Amtsantritt einen Eid schwören: “Ich schwöre, das Richteramt getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und getreu dem Gesetz auszuüben, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen, so wahr mir Gott helfe.” Die religiöse Beteuerung am Ende des Eides kann wegbleiben. Trotzdem ist es kein Zufall, daß dieser Eid Richter in der Bundesrepublik in drei Verhältnisse stellt. Erstens: Richter binden sich an Verfassung und Gesetz. Zweitens: Sie behandeln alle Menschen gleich, ohne Ansehen der Person. Drittens: Sie hoffen dabei auf die Hilfe Gottes. Um es zusammen zu fassen: In ihrer großen Verantwortung, Gesetze auszulegen und Urteile zu fällen, sind Richter unabhängig von fremder Einflußnahme und gebunden an das Gesetz. Diese Unabhängigkeit der Richter ist ein sehr hoher Wert und darum gesetzlich besonders geschützt. Denn diese Unabhängigkeit ist stets gefährdet und der Möglichkeit des Mißbrauchs ausgesetzt. Aber die Möglichkeit des Mißbrauchs schränkt das Leitbild des unabhängigen Richters nicht ein.
Wendet man dieses Leitbild auf den Richter an, von dem Jesus erzählt, so erkennt man mit Erschrecken: Dieser Richter beachtet weder die Gebote Gottes noch die vernünftigen Regeln der Menschen. Offensichtlich bewußt gestaltet er seine Urteile in eigener Willkür, ohne sich darum zum kümmern, was Gott, die Bibel oder andere Menschen sagen. Um den Graben von zweitausend Jahren historischem Abstand kühn zu überspringen: In Deutschland würde diesem Richter ein Disziplinarverfahren, Entlassung und der Verlust der Pension drohen. Sein Verhalten schädigt das Rechtssystem, er ist bestechlich. Die Urteile des Richters sind moralisch fragwürdig, gerade weil er der Hartnäckigkeit der Witwe nachgibt. Nun stehen Witwen nach den Geboten des Alten Testaments unter dem besonderen Schutz des Gesetzes. Das hat seinen Grund darin, daß Frauen, die ihren Ehemann verloren hatten, sozial oft nicht richtig abgesichert waren und um ihren Lebensunterhalt betteln mußten. Das Neue Testament erzählt darum mehrere Geschichten von armen Witwen. Die Witwe dieses Gleichnisses will ihr Recht haben. Es wird nicht erzählt, was der Fall war, denn das spielt für die Pointe keine Rolle. Jesus erzählt keine Gerichtsstory mit einer Angeklagten, die gerade so eben der Freiheitsstrafe entgeht. Solche Geschichte gehören in die Gerichtsfilme Hollywoods. Entscheidend ist nicht der Fall, den der Zuhörer oder Leser verfolgt, um sich dann ein eigenes Urteil zu bilden. Entscheidend ist die Hartnäckigkeit, mit der die Witwe gegenüber dem ungerechten Richter ihr Anliegen verfolgt. Es ist zu vermuten, daß sie damit auch ein gewisses Risiko eingegangen ist, denn sie konnte sich nicht sicher sein, daß der unberechenbare Richter ihr letztendlich helfen würde.
Aber es kommt so: Letztendlich half dieser Richter, aus einer schnöden Überlegung des Selbstschutzes heraus. Der Richter will nicht geschlagen werden, obwohl an keiner Stelle in der Geschichte davon zu lesen ist, daß die Witwe dem Richter gedroht hätte. Das ist sogar eher unwahrscheinlich. Denn der ungerechte Richter ist ein Mann mit hohem sozialem Status und wichtigem Amt, und die Witwe ist eine vermutlich mittellose Frau, dazu all den Benachteiligungen ausgesetzt, die Frauen im Israel dieser Zeit zu gewärtigen hatten. Merkwürdig ist die Geschichte, weil beide, Richter und Witwe, ihre normalen Rollen verlassen. Der Richter beschränkt sich nicht darauf, Recht zu sprechen. Er nutzt sein Amt und seine Unabhängigkeit, um sich vor einem vermeintlichen Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit zu schützen. Die Witwe gibt sich nicht mit ihrer sozialen Benachteiligung zufrieden, sondern kämpft ausdauernd und nachhaltig um ihr Recht. Das ist besonders interessant, für damalige Leser, aber auch noch heute, wo bestimmte Prozesse ein riesiges Medienecho hervorrufen. Leser von Tageszeitung und Facebook interessieren sich brennend für den Steuersünder Uli Hoeneß, für den des Vorwurfs der Vergewaltigung freigesprochenen Jörg Kachelmann oder für die amerikanische Studentin Amanda Knox, die in Italien angeklagt war, eine Kommilitonin ermordet zu haben und nach einem Indizienprozeß freigesprochen wurde. Je ungewöhnlicher, je komplizierter, desto besser. Je mehr Indizien und je weniger Beweise, desto spannender. Je mehr human touch und je weniger schwierige, für Laien unverständliche Gesetzesauslegung, desto ergreifender.
Auch die Witwe und der Richter aus Jesu Gleichnis schwimmen noch im Fahrwasser dieses unstillbaren Interesses an schwierigen Rechtsfällen. Aber im Gleichnis steckt noch anderes, ein wichtiges Thema, das weit über die menschlich interessante Geschichte hinausreicht. Gleichnisse haben die Besonderheit, daß die erzählte Geschichte gleichzeitig für eine andere Wirklichkeit steht. Manchmal versuchen die Ausleger dieses Andere Punkt für Punkt anzuwenden. In unserer Erzählung könnte dann der Richter für Gott und die arme Witwe für den bedürftigen Menschen stehen. Aber würde Jesus Gott mit solch einem unglaubwürdigen, sein Amt mißbrauchenden Richter vergleichen? Das kann nicht sein. Der Vergleich Punkt für Punkt führt in dieser Geschichte nicht weiter. Dieses Gleichnis hat seine Besonderheit darin, daß sich der Vergleich auf ein einziges Detail konzentriert: auf die nicht zu ermüdende Hartnäckigkeit der Witwe. Das ist die Botschaft: Seid hartnäckig! Ermüdet nicht! Lasst euch nicht beirren. Hartnäckigkeit kann nun eine ganz zweischneidige Sache sein, je nachdem, worauf sie sich bezieht. Und Hartnäckigkeit kann auch zu einem steifen, starren Nacken führen, zu Muskelschmerzen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. Hartnäckigkeit kann in Sackgassen enden. Die Hartnäckigkeit des Betens führt zu einem anderen Blick auf die Welt. Wer betet, rechnet mit Gott und seinem Willen, die Welt zu verändern und zu erlösen, noch mehr: Gerechtigkeit zu schaffen. Die Witwe hätte ja sagen können, ich probiere es einmal. Und wenn es nicht klappt, dann ziehe ich mich zurück. Vielleicht wäre sie danach in Selbstmitleid versunken. Aber sie gibt nicht auf. Sie bleibt hartnäckig, bis ihr Ziel, Gerechtigkeit in der Sache, die wir nicht kennen, erreicht hat. Was heißt es, hartnäckig im Beten zu sein? Das Gebet braucht Hartnäckigkeit, weil die Schere zwischen der verkehrten Welt, die die Menschen zum Beten treibt, und der Welt in Gerechtigkeit, wie sie Gott geschaffen hat, immer weiter auseinander klafft. Das Gebet braucht Hartnäckigkeit und Geduld, weil die Menschen von seiner vermeintlichen Wirkungslosigkeit zur Aufgabe verleitet werden, so als ob Gott die Welt aufgegeben hätte. So als ob sie ihm gleichgültig sei.
Es ist klar und verständlich, daß das Gebet keine Maschine zur Erfüllung von Wünschen ist. Wäre es so, das Gebet wäre als ein magisches Tun mißverstanden. Es wäre ein Weg, Gott zu manipulieren. Aber das ist nicht gemeint. Das Gebet ist ein Weg, diese Welt mit all ihrer Schönheit, aber auch mit all ihren Abgründen, mit Lachen und Weinen, mit Krankheit und Gesundheit und Lebensfreude, in all seiner Widersprüchlichkeit vor Gott zu bringen. Das Gebet macht Gott auf die Verhältnisse dieser Welt aufmerksam. Daraus ergibt sich der bleibende Unterschied zwischen der Welt, wie sie ist, und der Welt, wie sie nach Gottes Willen sein sollte. Manches davon, leider viel zu wenig, fällt auf die Beter zurück, weil sie selbst verändern können, um was sie im Grunde bitten. Von dort aus führt ein Weg vom Gebet ins Handeln, auch ins politische Handeln zurück. Anderes steht nicht in der Macht des Menschen, sondern in der Macht Gottes. Das beharrliche Gebet bringt die zu erlösende Welt in Worte, die sich an Gott richten, als Klage, als Schrei, als Seufzer und schließlich als Frage: Wie lange noch? Wie lange noch, bis Gott Gerechtigkeit schafft und diese Welt erlöst? Jesus sagt: Bleibt beharrlich im Gebet. Laßt euch durch nichts beirren. Die Frage: Wie lange noch? setzt das Gebet in ein Verhältnis zur Zeit, zu Dauer, Plötzlichkeit und Zukunft. Das ganze Gleichnis bringt Beten und Zeit miteinander in Beziehung. Und es lohnt sich, gegen Ende des Kirchenjahres, im Bewußtsein von Tod und Ewigkeit darüber nachzudenken.
Die Gleichnisgeschichte bietet dafür zwei Schlüsselworte. Zum einen fordert Jesus seine Zuhörerinnen und Zuhörer auf, “allezeit” zu beten. Die Beharrlichkeit des Betens ist auf Dauer, Wiederholung und Geduld angelegt. Niemand soll sich dadurch irre machen lassen, daß seine Wünsche nicht erfüllt werden. Gott steht zu seinen Verheißungen. Die ausstehende Gerechtigkeit wird verwirklicht werden. Zum anderen sagt Jesus, daß Gott den Menschen “in Kürze” Gerechtigkeit schaffen wird. Man kann das als Verweis Jesu auf das nahende Ende der Welt lesen. Dann würde sich die Frage erheben, wieso dieses Ende der Welt und die Gerechtigkeit von Gottes Reich noch nicht eingetreten ist. Man kann aber die Formel “in Kürze” auch anders lesen. Die Welt ist neben allem Leiden, das nicht abgestritten werden soll, auch durch Erfahrungen der Gnade gekennzeichnet, Erfahrungen der Gemeinschaft, des Vertrauens und der Barmherzigkeit. Gottesdienst und die gemeinsame Feier des Abendmahls sind hoffentlich solche Zeichen und Wegmarken von Gottes Gnade und Barmherzigkeit, Zeichen einer vorläufigen Gerechtigkeit Gottes, die in das doppelbödige, schwankende Leben der Menschen hineinragen. Das geduldige und hartnäckige Gebet ist ein Zeichen des Vertrauens darauf, daß die noch ausstehende Gerechtigkeit Gottes kommen wird, genauso gewiß, wie Gott in der Auferweckung das Kreuz Jesu von Nazareth überwunden hat. Glauben stiftet im hartnäckigen Beter die Gewißheit und die Hoffnung auf eine Zukunft, die alle menschliche Gerechtigkeit übersteigt. Manchmal, Jesus erzählt davon, erkennen wir das überraschend an einem ungerechten Richter und an einer Witwe, die Recht sucht.