“Hauptsache gesund”
Ist es manchmal so, dass ein Mensch eine Krankheit braucht, um seelisch wieder zu sich zurück zu finden?
Predigttext: Markus 2, 1-12 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Und nach einigen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war.
2 Und es versammelten sich viele, so dass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.
3 Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen.
4 Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.
5 Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.
6 Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen:
7 Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?
8 Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen?
9 Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher?
10 Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten:
11 Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!
12 Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, so dass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.
Exegetische und homiletische Einführung
In Mk 1,45 (vgl. V. 35.38) verlässt Jesus Kapernaum, weil ihm der Erwartungsdruck aufgrund seiner Heilungen zu groß wird. Wieder zurückgekehrt, sagt er ihnen „das Wort“ (2,2). Demzufolge läge der Akzent der Geschichte nicht auf der Heilung, sondern auf der Sündenvergebung! Dennoch ist die Szene so bildhaft gemalt, dass man den Kranken förmlich vor Jesu Füßen liegen sieht. Als Person ist er wahrgenommen. So wird eine Spannung aufgebaut, durch die die in V. 9 gestellte Frage eine echte und keine bloß rhetorische ist. Was ist leichter? Und was ist wichtiger?
In V. 9 wird das „Sagen“ betont, im Gegensatz zum Tun, aber auch als Kommunikations- und damit Beziehungsakt zwischen Jesus und dem Gelähmten. Es ist leicht zu sagen, dass Sünden vergeben sind – wer könnte es nachprüfen? Der Erfolg einer Heilung dagegen liegt vor Augen. Der Gelähmte könnte enttäuscht sein (und die Kirche ertappt: Vergebung verkünden ist leicht – aber wo bewirken wir Heilung)? Die Schriftgelehrten dagegen nehmen gerade an der Zusage der Vergebung Anstoß. Verständlich: Wunderheiler gab es viele, aber Sündenvergebung rührt an die Dimension zwischen Himmel und Erde, das kann nur Gott. Jesus widerspricht ihnen nicht. Aber er argumentiert auf einer anderen Ebene. Er zieht das Dogma von der Sündenvergebung ins Leben hinein – in die konkrete Beziehung zwischen dem Kranken und ihm. Es geht um das „Sagen“ der Sündenvergebung. Will der Kranke es hören? Jesus sah den Glauben seiner Freunde (V.5) – hat der Gelähmte den Glauben und damit sich selbst schon aufgegeben?
Mit dem Zuspruch der Sündenvergebung riskiert Jesus Enttäuschung und Abwehr. Vor allen Leuten spricht er den Kranken auf seine gestörte Gottesbeziehung an. Er scheint sogar der unbarmherzigen Meinung Nahrung zu geben, als sei die Krankheit eine Strafe für seine Sünden! Dabei ist sein Zuspruch der erste Schritt zur Heilung. Jesus reduziert den Kranken nicht auf seine Lähmung. Er entdeckt in ihm den ganzen Menschen und hilft ihm, der sich selbst vielleicht schon längst auf seine Lähmung reduziert hat, sich als ganzen Menschen wieder zu verstehen. Vergebung öffnet den Weg, an Leib und Seele Gottes Heil zu erfahren. Die körperliche Heilung die folgt stellt Jesus in dieses Licht und lässt sie für die Schriftgelehrten im logischen Schluss vom Geringeren auf das Größere zum Zeichen seiner Vollmacht werden. Zum Gelähmten sagt Jesus „Geh heim“ und nicht wie vorher (V. 9) „geh umher“ und meint damit ein Aufgehobensein an Leib und Seele.
Den Gottesdienst in der Lutherkirche feiere ich zusammen mit dem Team der Gemeindebücherei. Das Buch zum Film „Ziemlich beste Freunde“ (Philippe Pozzo di Borgo, Frankfurt, 3. Aufl. 2013) wird, in kleinen Auszügen gelesen, die Predigt begleiten.
Ganz im Ernst, wie hätten Sie reagiert, wenn Sie da so vor Jesus gelegen wären, von unten auf Ihrer Matte zu ihm hochschauend und er von oben auf Sie herab, und hätten ihn sagen hören: Deine Sünden sind dir vergeben? In dem Buch zum Film „Ziemlich beste Freude“ beschreibt ein Gelähmter, wie es ihm in seiner Rehabilitation gelingt, wieder vom Liegen ins Sitzen zu kommen: Philippe Pozzo di Borgo, ein reicher gebildeter Adliger, querschnittgelähmt durch einen Unfall beim Gleitschirmfliegen. Zentimeterweise kommt er ins Sitzen zurück. Die Befreiung aus der „Nasenlochperspektive“, wie er sie nennt, gibt ihm ein Stück seiner Würde zurück. Er kann im Rollstuhl sitzen und ihn auch steuern, er kann sein eigenes Leben wieder steuern. Der Gelähmte, der vor Jesus liegt, kann das nicht. Alle Leute starren auf ihn. Und da sagt Jesus: Deine Sünden sind dir vergeben. Was hat das in ihm ausgelöst? Ich glaub ich bin im falschen Film – so etwas ähnliches muss er doch gedacht haben! Meine Freunde haben mir diesen unglaublich schmerzhaften Transport zugemutet, hierher zum Haus und dann noch hinauf aufs Dach und wieder durch das Loch hinunter, weil du mich vielleicht heilen kannst, Jesus.
Philippe Pozzo di Borgo beschreibt, wie Phantomschmerzen ihn quälen, jede Bewegung, jede Berührung tut weh. Eine seelische Marter dazu noch, täuschen sie doch das Gefühl für einen Körper vor, der gar nicht mehr fühlen kann. Solche Schmerzen will der Gelähmte doch nicht umsonst ausgehalten haben! Aber wir können nur vermuten. Der Gelähmte mit allem was er denkt und fühlt bleibt uns in der Geschichte verborgen. Wir erfahren etwas über seine Freunde, über die Schriftgelehrten, über Jesus, sogar über die einfach so Dabeigewesenen – von ihm erfahren wir nichts. Er sagt nichts, er bittet Jesus nicht um Heilung, er dankt nicht – gar nichts! Er bleibt als Person unkenntlich. Wahrscheinlich deswegen, weil er sich selbst als Person unkenntlich geworden ist. Seine vier Freunde müssen ihn nicht nur herbeibringen, sie müssen auch für ihn glauben, für ihn auf Heilung hoffen: Als nun Jesus ihren Glauben sah … Wir wissen noch nicht einmal, ob es Freunde waren. Es ist nur von den Vieren die Rede. Vielleicht war der Freundschaftsdienst, den sie ihm erwiesen, mehr eine Erinnerung an früher, vielleicht war er zur Freundschaft gar nicht mehr fähig. Er ist stumm geworden, beziehungsleer. Und da spricht Jesus ihn direkt an: Deine Sünden sind dir vergeben. Ich glaube, unser erstes Gefühl dabei ist Unverständnis. Und Auflehnung. Was soll das? Will Jesus damit sagen, dass er an seiner Krankheit selber schuld ist? Dass die Krankheit eine Strafe für frühere Sünden ist?
Auch die Schriftgelehrten, die dabei sind, empören sich. Allerdings aus einem ganz anderen Grund. Wunderheiler gab es damals viele. Gesundheit oder Krankheit gehören auf den Boden der Welt. Aber Sündenvergebung ist Sache von Gott allein! Nur Gott kann die Beziehung heilen, die ein Mensch gestört oder sogar zerstört hat. Wie kann Jesus solches sagen? Unsere Perspektive ist heute eine andere. Wir sagen „Hauptsache gesund“ und nicht „Hauptsache sündenfrei“. Die Frage, die Jesus den Schriftgelehrten stellt: Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh heim? Wir würden sie spontan beantworten mit: Natürlich Sündenvergebung. Sünden vergeben geht schnell. Nur ein Satz. Und wer kann das schon nachprüfen? Heilung dagegen, die kann man nachprüfen. Jesus allerdings scheint anderer Meinung zu sein. Ja, er scheint mit den Schriftgelehrten geradezu einer Meinung zu sein! Er widerspricht ihnen nicht. Er heilt den Gelähmten wie als Beweis dafür, dass er auch Sünden vergeben kann. Ist das glaubhaft?
Wenig später reden die Pharisäer darüber, wie sie Jesus töten können, eben weil er für sich in Anspruch nimmt zu tun, was eigentlich nur Gott kann. Aber vor allem: Die Frage was leichter ist, zu heilen oder Sünden zu vergeben, ist damit noch nicht beantwortet. Wenn jemand heilen kann, muss er aus Sicht der Schriftgelehrten noch lange nicht Sünden vergeben können. Oder ist Jesus doch anderer Meinung? Sagt er doch: Heilen ist schwerer – und wenn ich das kann, dann kann ich auch das andere. Den Gelähmten selber wird diese Diskussion bestimmt nicht interessiert haben. Sie geht über seinen Kopf hinweg. Aber in seinem Kopf – was geht da vor? Jesus hat gesagt: Deine Sünden sind dir vergeben. Er lässt ihn mit diesem Satz erst mal allein. Da geht der Satz mit ihm um – geht mitten in ihn hinein. Jesus lässt ihm die Zeit dazu. Ich kann nicht ergründen, was in ihm vorgeht. Ich weiß nur, dass Sünde und Vergebung Menschen in der Tiefe ansprechen, damals und heute. Da ist also einer, der findet mein Leben nicht in Ordnung. Der sieht nicht nur meine Lähmung, der sieht mich selbst.
Der Kranke erkennt, dass er in Jesu Augen mehr als nur der Kranke ist. Für ihn ist er Mensch – und hilft ihm, sich innerlich wieder als Mensch zu fühlen. Er konfrontiert ihn mit sich selbst und bringt ihn dadurch zu sich selbst zurück – so schmerzhaft das ist. Was hat die Krankheit nur aus mir gemacht? Und muss das so sein? Das ist der erste Schritt zur Freiheit. Da gerät etwas in Bewegung. Was habe ich nur getan – was habe ich auch mir selber angetan? Wie sehr habe ich die Krankheit über mich Herr werden lassen? Vergebung brauchen wir dann, wenn etwas anderes über uns mächtiger wird als Gott. Dieses Mächtige, das muss keine Krankheit sein. Ein Wunsch kann so mächtig werden, dass er alles einnimmt und Glaube und Vertrauen nimmt. Wer sich völlig überlastet fühlt, gelähmt von Arbeit und Druck, der sehnt manchmal eine Krankheit herbei, die ihn aus diesem Druck ganz heraus nimmt. Eine verkehrte Sehnsucht, genauso verkehrt wie der Druck. Und doch ist es manchmal so, dass ein Mensch eine Krankheit braucht, um seelisch wieder zu sich zurück zu finden.
Unbarmherzig wäre es allerdings, einen Kranken damit trösten zu wollen: Schau erst mal, wofür deine Krankheit gut ist. So einfach ist es nicht. Krankheit kann auch die Seele zerstören.
Es geht in der Geschichte nicht darum, was schlimmer ist, die Krankheit oder das gestörte Verhältnis zu Gott und zu sich selbst. Es geht nur darum was leichter ist zu sagen! Das betont Jesus ja! Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher? Letzteres zu sagen ist sicher sehr leicht – wenn es wahr wird? Aber einen Kranken auf sein Leben anzusprechen, die Enttäuschung und Abwehr auszuhalten, einen Menschen auf den anstrengenden Weg zu bringen, dass sein Leben wieder gelingen kann – das verlangt mehr. Von Jesus und von dem Kranken verlangt das mehr. Für mich ist diese Geschichte aber gerade deshalb ein Trost. Ein Trost nämlich für die, die nicht von ihrer Krankheit geheilt werden können. Und ein Trost für die Menschen, über die nicht eine Krankheit mächtig ist, sondern eine andere Lähmung. Auch ihr Leben ist gemeint. Dass Jesus heilen kann, steht am Ende: Steh auf, nimm dein Bett und geh heim. Vorher hat Jesus gesagt: und geh umher. Geh heim – heim zu Gott. Heim zu dir. Heim in dein Leben. Der Gelähmte steht auf. Wortlos. Wie selbstverständlich. Und alle entsetzen sich, weil sie etwas Großes miterleben: Leben kann wieder beginnen.
Zwischen den Akzenten Sündenvergebung und Heilung kreist die Predigt von Pfarrerin Krumm. Dabei nimmt sie zur Aktualisierung und Veranschaulichung das Buch zum Film: “Ziemlich beste Freunde” zur Hilfe. Der Gelähmte im Film kann durch den farbigen Freund allmählich wieder sein Leben steuern. Der Gelähmte im Predigttext kann das erstmal nicht. Er liegt hilflos – durchs Dach bugsiert – vor Jesus. Der sagt ganz provozierend: Deine Sünden sind dir vergeben. Von dem Gefühl des Gelähmten steht nichts im Text. Nur den stellvertretenden Glauben der Freunde kann man spüren. Vielleicht sind sie und der Gelähmte empört über Jesu Worte, weil sie Heilsworte erwarteten. Aber die Schriftgelehrten sind direkt empört, weil die Sündenvergebung Gott allein zusteht. Später wollen sie Jesus deswegen kreuzigen. Der Kranke spürt, dass er für Jesus nicht nur ein fremder Kranker ist. Er fühlt sich innerlich wieder als ein Mensch, der Vergebung braucht und bekommt. Er wird wieder auf den Weg ins Leben gebracht. Zusammenfassend ist diese Geschichte ein Trost für Menschen, welche nicht von ihrer Krankheit geheilt werden können und für die, in denen eine andere innere Lähmung sie hemmt. Jesus sagt uns allen: Geh heim zu Gott und zu dir und in dein Leben. Durch Jesus kann das Leben wieder beginnen. – Sehr eindringlich, mit prägnanten kurzen Sätzen predigt Pfarrerin Krumm anschaulich, aber abgesehen vom Film dicht am Text. Sie lenkt nicht ab durch aktuelle Bezüge oder psychologische Erläuterungen und Beispiele. Eine schöne eindringliche Predigt.
Gratulation, wesentliche theologische Aussagen anhand des Bibeltextes auf der Höhe der Zeit formuliert.