Hauptsache

Als Christen können wir uns auf Augenhöhe begegnen, weil wir alle aus Gottes Gnade leben

Predigttext: 1. Korinther 6, 9- 12(20)
Kirche / Ort: 07381 Pössneck
Datum: 29.07.2012
Kirchenjahr: 8. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Jörg Reichmann

Predigttext: 1. Korinther 6, 9- 12 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

(9) Oder wisst ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden? Lasst euch nicht irreführen! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben, Knabenschänder, (10) Diebe, Geizige, Trunkenbolde, Lästerer oder Räuber werden das Reich Gottes ererben. (11) Und solche sind einige von euch gewesen. Aber ihr seid rein gewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes. (12) Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangen nehmen.

Vorbemerkungen zum Predigttext und zur Predigt

In der Perikope 1. Kor.6, 9- 20 konzentriert sich die Predigt auf die Vv. 9 -12. Erste Grundlage dieser Entscheidung ist die exegetische Erkenntnis, dass Vv. 9 -20 mit großer Sicherheit aus zwei Paulusbriefen redaktionell vereint wurden, in denen der Apostel auf unterschiedliche ihm berichtete „Missstände“ in der Christengemeinde Korinths reagierte. Während Vv. 13 ff um ein christliches Verständnis der Leiblichkeit ringen, bedenkt die Auswahl Vv. 9-12 unter inhaltlicher Einbeziehung des Kontextes der Vv. 1 -8  das Miteinander in der Gemeinde, welches in Korinth offensichtlich alles andere als einträchtig und harmonisch verlief. Streitsituationen zwischen Gemeindemitgliedern, die auch vor und mit Hilfe von Außenstehenden („ungläubige Richter“, V. 1) ausgetragen wurden, drängten sich dem Text nach in den Vordergrund. Paulus beschreibt die belastende Situation für die Gemeinde genau und ruft zur Einheit im Geist auf, die vor allem dadurch wieder gewonnen werden soll, dass die Christen ihre Konflikte geschwisterlich in der Gemeinde austragen.  Dabei erfüllt der Lasterkatalog aus meiner Sicht die Funktion, die moralische Integrität der „Ungläubigen“ (bei Luther: „Götzendiener“)  recht drastisch und plakativ infrage zu stellen. Diesem „Sumpf“ sind nach Paulus die getauften Gemeindemitglieder durch die Annahme des Glaubens  entkommen und können zu einem völlig neuen Selbstverständnis finden, das er in V. 12 lehrsatzartig formuliert.

Die zweite Grundlage der Textauswahl Vv.9-12 ist die homiletische Situation. Der zu erwartenden Gottesdienstgemeinde bleibt, wenn sie nicht vorwiegend aus Menschen des Hochgebildetenmilieus besteht, das in Vv. 13 ff  bedachte geistliche Problem der Körperlichkeit vor hellenistischem Hintergrund weitgehend fremd. Dies hat zur Folge, dass die Predigt zu diesen Versen zwischen der Gefahr religionskundlicher Belehrung und der Versuchung oberflächlich moralisierender Betrachtung steht, die über bestimmte Frömmigkeitskreise z. Zt. starken Aufwind erlebt. Einen viel direkteren Bezug zwischen Bibeltext und eigenem Erleben findet dagegen die Gottesdienstgemeinde bei Vv. 9 -12, und es ist gut paulinisch, zur Einheit im Glauben zu finden, wenn die Schwierigkeiten des Zusammenlebens in der Gemeinde geschwisterlich bedacht werden. Diese mögen regional oder lokal unterschiedlich gewichtet sein, doch lässt sich ohne Zweifel eine gewisse Grundstruktur entdecken. Die zur Selbsterkenntnis und Reflektion notwendige Distanz wird durch die Form der narrativen Predigt geboten.

 

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Frau Schulze war stinksauer. Das ging nun wirklich zu weit! Jetzt spielten die Kinder der neuen Nachbarn schon direkt vor ihrem Gartentor! Dieser Lärm! Und überhaupt, was hatten die da zu suchen? Sie war ja gleich skeptisch gewesen, als die Familie mit den drei kleinen Jungen ins Nachbarhaus zog. Gekauft hatten sie es von den Kindern des alten Herrn Bauer. Mit dem hatte sie sich immer gut verstanden. Schade, dass er gestorben war. Schade, dass seine Nachkommen kein Interesse mehr an dem Haus hatten. Erstaunt war Frau Schulze gewesen, als die neuen Nachbarn kurz nach dem Einzug bei ihr klingelten. Sie hatte sich sogar ein wenig gefreut über die Einladung zur Einzugsfeier. Und als sie die Familie dann im Sonntagsgottesdienst sah, war sie fast bereit, ihre Skepsis aufzugeben. „Christenleute wie ich“, dachte sie. „Schön, dann wirds schon werden.“ Denn „Christenleute“, das bedeutete für sie „klare Verhältnisse“, wie sie es nannte. Mutter und Vater verheiratet, Kinder ordentlich erzogen. Doch dann stellte sich heraus, was das für Leute waren, diese Nachbarn. Von wegen Mutter und Vater verheiratet! Von wegen ordentlich erzogene Kinder! Nur das dritte Kind hatten die beiden gemeinsam. Die anderen beiden hatten sie mitgebracht in die Beziehung. Jeder eines. Alle zwei Wochen kamen die anderen Elternteile und holten die älteren Jungs übers Wochenende. Was Frau Schulze überhaupt nicht verstand: Da gab es kein böses Wort! Die Erwachsenen gingen völlig normal miteinander um!

Kein Wunder, dass die Nachbarjungs solche Früchtchen waren! Natürlich würde sie sich das nicht gefallen lassen. „Mit den Eltern zu reden hat eh keinen Zweck“, dachte sie. „Die wissen ja nicht, was Anstand ist. Da geh ich lieber gleich zum Anwalt.“ Der Anwalt hörte Frau Schulze aufmerksam zu. „Da lässt sich was machen“, sagte er zu ihr. Nachbarschaftsstreite wie dieser waren inzwischen zu einer sehr guten Einnahmequelle für ihn geworden. So wusste er, wie er geschickt Öl ins Feuer gießen konnte. „Das brauchen Sie sich wirklich nicht bieten zu lassen“, sagte er zum Abschied. Mit dem Gefühl, im Recht zu sein und sich dieses auch zu erstreiten, ging Frau Schulz. Als sie daheim ankam, leerte sie den Briefkasten am Tor. Das neue Gemeindeblatt lag drin. Sie freute sich und begann zu lesen, als sie sich eine gute Tasse Kaffee gekocht hatte. „Schön! Übermorgen ist wieder Bibelkreis“, sagte sie zu sich selbst. „Hätte ich beinahe vergessen wegen des Ärgers.“ Sie legte das Gemeindeblatt aufs Telefontischchen. Dort lagen alle ihre Sachen, die sie nicht vergessen wollte. Denn jeden Tag telefonierte sie mit ihrer Tochter, die in der Großstadt lebte. Dabei ging sie alle Zettel und Zeitschriften auf dem Tischchen durch, um nichts zu vergessen.

Heute war es nun soweit. Sie machte sich „ausgehfertig“, wie sie sagte. Der Kleinbus der Gemeinde kam und holte sie wie immer ab. Im Bus begrüßten sie die anderen Damen. Sofort kam das Gespräch in Gang, wie immer. Frau Schulze erzählte ihre Geschichte mit den neuen Nachbarn und von den Worten des Anwalts. Frau Meier und Frau Lehmann hatten ebenfalls Ärger mit den Nachbarn. Der Bus musste im Stau an der Baustelle warten. So blieb genug Zeit, um sich einig zu werden. Nein, das alles brauche man sich nicht gefallen zu lassen. Der Bibelkreis begann mit Lied und Wochenpsalm. Dann kündigte der Pfarrer den Bibeltext an. 1. Korintherbrief. „Na ja“, dachte Frau Schulze, die sich recht gut auskannte. „Paulus, meist ziemlich trocken und schwer. Ich habe lieber so einen lebendigen Evangelientext oder meinetwegen auch einen Psalm. Damit kann ich eher was anfangen.“ Der Pfarrer gab eine kurze Einführung. Er beschrieb die Situation in Korinth, wie die Gemeindemitglieder sich wegen Alltagsstreitereien gegenseitig vor Gericht zerrten. Ohne Rücksicht auf das eigene Recht pochten, auch vor heidnischen Richtern. Und dann lasen sie den Text aus dem 1. Korinther im 6. Kapitel, die Verse 9 bis 12:

(Lesung des Predigttextes)

Zuerst wollte Frau Schulze freudig zustimmen. Triumphierend hatte sie den anderen Damen zugenickt. So war es recht! Dieses ganze  unmoralische Gesindel war vom Gottesreich ausgeschlossen! Sollten sie doch in die Kirche rennen, so oft sie wollten! Aber dann glaubte sie ihren Ohren nicht zu trauen. Hatte sie richtig gehört? Das sollte jetzt alles keine Rolle mehr spielen. „Ihr seid rein gewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.“ „Dass wir Christen sind, ist die Hauptsache, hinter die alles andere zurück tritt“, hörte sie. Das hatte der Pfarrer gesagt. „Als Christen können wir uns auf Augenhöhe begegnen, weil wir alle aus Gottes  Gnade leben.“  Frau Schulze fasste sich schnell. „Ja aber“, warf sie ein und wunderte sich über sich selbst. Sonst war sie eher eine der Stillen, sagte kaum etwas während des Bibelkreises. „Ja aber sollen wir uns denn alles gefallen lassen? Es muss doch wohl noch erlaubt sein, mein gutes Recht einzuklagen!“ „Selbstverständlich“, antwortete der Pfarrer. „Erlaubt ist es. Aber ist es auch immer gut?

Wie hat Paulus geschrieben: Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangen nehmen. Das finde ich sehr nachdenkenswert“, fügte der Pfarrer hinzu. „Als Christen sind wir dem verpflichtet, der zum Guten führt. Als Christen sind wir dem verpflichtet, der in die Freiheit führt. Das betrifft nicht nur Recht haben und Recht bekommen wollen. Das betrifft unser ganzes Leben, unsere ganze Person.“ So nachdenklich wie von diesem Bibelkreis war Frau Schulze noch nie nach Hause zurückgekehrt. Als sie aus dem Kleinbus stieg, sah sie den jüngsten Nachbarsjungen. Er stand direkt vor ihrem Gartentor und lächelte. Er streckte ihr die Hand mit einem Gänseblümchen entgegen. „Bitte schön, für dich“, sagte er. „Danke“, sagte Frau Schulze leise und ging hinein.Sie stellte das Blümchen in eine winzige Vase vor sich auf den Tisch. Sie nahm die Bibel zur Hand und las die Verse aus dem Korintherbrief noch einmal: (Lesung des Predigttextes). Ihr Anwalt konnte seine Enttäuschung nicht verbergen, als sie ihn wenig später anrief.

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Ein Kommentar zu “Hauptsache

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Mit einem alltäglichen Problem wird der Predigttext aktualisiert. Es geht um Spannungen unter Christen damals und heute. Am Ende der interessanten und lebendigen und anschaulichen Erzählung des Konflikts in der Predigt, bei dem auch ein Rechtsanwalt eingeschaltet wurde, ergibt sich die Lösung im Bibelgespräch über den Predigttext. Erlaubt ist es, sein Recht einzuklagen. Mit Paulus muss man sich aber nachdrücklich der Frage stellen, ob es auch gut ist. “Als Christen sind wir dem verpflichtet, der zum Guten führt.”

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