Ist es nicht verstörend, wie Jesu hier reagiert? „Wer ist meine Mutter, wer sind meine Brüder, meine Geschwister?“ Das kann doch nicht sein. Haben wir nicht ein ganz anderes Bild von Jesus? „Die Heilige Familie“ können wir leicht vor uns sehen: Maria, Josef, das Kind in der Krippe.
I.
Mutter, Vater, Kind(er)
Vielleicht möchten wir zur Mutter Jesu sagen: Du, Maria hast einen besonderen Sohn. Der Engel Gabriel kündigte es dir an. Deine Cousine Elisabeth spürte es und bestärkte dich, als du sie vor der Geburt besuchtest. Erinnere dich an das Magnificat, das du anstimmtest: Dein Sohn wird die Mächtigen, die Tyrannen, vom Thron stürzen und für Gerechtigkeit und Frieden unter den Menschen sorgen. Die Hirten in der Nähe von Bethlehem glaubten und vertrauten der Botschaft des Engels. Sie machten sich auf den Weg zu eurem Kind, um es mit eigenen Augen zu sehen und weiterzusagen, was sie erlebt hatten. Du warst von ihren Worten über euer Kind bewegt und hast sie nicht mehr vergessen.
Auch die Weisen aus dem fernen Osten ahnten, welcher Stern durch euer Kind über dieser Welt aufging. Wie habt ihr, du und dein Mann Joseph, später das Kind gesucht, als es im Alter von zwölf Jahren mit euch zum Pessachfest nach Jerusalem gehen durfte und es auf dem Rückweg plötzlich nicht mehr bei euch war. Was dachtet ihr damals, als ihr euren Sohn im Tempel bei den Schriftgelehrten fandet und er euch entgegenhielt, dass er sich Gott mit ungeteilter Hingabe widmen müsse? Hattet ihr Angst, ihn ganz zu verlieren? Inzwischen, Maria, verstarb dein Mann. Die Familie ist kleiner geworden, und alle Verantwortung lag jetzt bei dir. Jesus war erwachsen und kaum mehr zu Hause, weil er als Wanderprediger unterwegs war. „Wer ist meine Mutter und meine Brüder, meine Schwestern?“ Verkrampfte sich dein Herz, als dein Sohn so in den Kreis derer fragte, die ihm zuhörten? Wollte der junge Mann nichts mehr mit der Mutter und den Geschwistern zu tun haben?
II.
Geschwister
Auch die Brüder, die Schwestern, möchten wir vielleicht fragen: Ihr wurdet zusammen groß. Habt gespielt, gestritten, euch nach guter Kinderart schnell wieder vertragen, und ihr habt zusammen gelernt, was im Leben wichtig ist. Ihr habt gespürt, dass euer Bruder etwas Besonderes war. Vielleicht wart ihr manchmal eifersüchtig, aber ihr hieltet zusammen, und jetzt das! Was habt ihr empfunden, etwa: Will unser Bruder nichts mehr von uns wissen?
III.
Eltern und ihre erwachsenen Kinder
Jetzt möchte ich die Eltern unter uns fragen: Wie sieht der Alltag, das „reale“ Leben, aus, wenn wir Mütter oder Väter erwachsener Kinder sind? Wurden unsere Kinder so, wie wir sie einmal erträumten, als sie auf die Welt kamen und die Zukunft vor ihnen lag? Manche Kinder gehen Wege, die Eltern nicht verstehen können. Sie haben ganz andere Vorstellungen vom Leben und darüber, wer und was zu ihnen passt. Als Eltern betrachten wir dies nicht immer mit Wohlwollen. Es kann schmerzlich werden, besonders wenn Eltern Sorge haben müssen, dass ihr Kind ins Unglück rennt. Einer harten „Realität“ müssen sich manche Eltern stellen, und viele kämpfen für und um ihre erwachsenen Kinder. Es wäre nicht angebracht, solchen Eltern zu unterstellen, sie könnten nicht los lassen. So wissen wir z. B. von Maria, dass sie unter dem Kreuz ihres Sohnes stand (Johannes 19,25).
Wenden wir uns noch den erwachsenen Kindern, Söhnen und Töchtern, zu. Sie müssen nicht die Träume ihrer Eltern erfüllen. Ihre eigenen Träume sind ihr Ziel, sie sollen ihre Leidenschaft im Leben sein, wie es Khalil Gibran wunderbar beschrieb: Kinder sind wie Pfeile, die, einmal ins Leben gesandt, in eine Zukunft fliegen, in die Eltern nicht folgen können.[1] Dies bedeutet: Unsere Kinder entwickeln eigene Kräfte, um die Herausforderungen des Lebens zu bestehen. Sie gehen ihren eigenen Weg. Ebenso ändert sich im Erwachsenenalter die Beziehung zu den Geschwistern. Gut, wenn sie auf Augenhöhe und mit Wohlwollen gestaltet wird.
IV.
Schutz und Verantwortung
So fern ist uns die biblische Geschichte, die heute das Predigtwort ist, gar nicht. Jesus begann gerade erst mit seinem Weg (Markus 1,14-3,19). Er sammelte Jünger und Jüngerinnen um sich, zog mit ihnen lehrend und heilend durch Galiläa. Mit seinen Worten und Taten erregte er viel Aufsehen. Volksmengen strömten erwartungsvoll zu den Orten, an denen er sich aufhielt, und es gab Menschen, die Anstoß an ihm nahmen, sich über ihn ärgerten. Seine Gegner erhoben schwere Vorwürfe, als er am Sabbat einen Menschen heilte. Sie planten daraufhin sogar, ihn zu töten (Markus 3,1-6). Vielleicht können wir jetzt die Mutter und die Geschwister verstehen, wenn sie unter diesen Umständen Jesus aufsuchen, mit ihm reden (so Matthäus) und ihn sehen (so Lukas) wollten. Hatten sie tatsächlich kein Verständnis für seinen Weg, waren sie verblendet oder stellten seine Berufung in Frage, wie oft erklärt wird? Aus unserer biblischen Erzählung geht dies nicht eindeutig hervor.
Es gibt eine andere Möglichkeit, das Handeln der Mutter und der Geschwister zu verstehen: Sie wollten Jesus vor dem Zugriff seiner Gegner bewahren und ihn schützen. Auch ihre vorangehende Bemerkung, er sei „von Sinnen“ (3,20f.), kurz nachdem von seinen Gegnern bereits seine Beseitigung beratschlagt wurde, muss nicht als gegen Jesus gerichtet verstanden werden, sie kann vielmehr Ausdruck der Sorge um ihn sein. Aber was Mutter und Geschwister nicht sehen konnten, war die Verantwortung Jesu gegenüber seinen Anhängern. Da waren die Jünger und Jüngerinnen, die „Apostel“, auch sie waren wie Jesus berufen, das Evangelium, die Reichgottesbotschaft, zu verkündigen, zu lehren und zu heilen (3,14). Jesus selbst hatte sie eingesetzt. Eigentlich waren sie durch ihren Auftrag den gleichen Anfeindungen ausgesetzt wie Jesus.
„Wer ist meine Mutter, wer sind meine Brüder, meine Schwestern?“ Diese Frage Jesu muss nicht als Abweisung seiner Familie gehört werden. Jesus nahm damit die Menschen, die ihm folgten, in Schutz und übernahm Verantwortung für sie. Die Mutter und Geschwister gehörten in diesem Augenblick nicht dazu. Sie waren nicht gefährdet, aber Jesus und die Menschen, die sich um ihn scharten und von ihm lernen wollten, befanden sich in großer Gefahr. Wie den Jüngerinnen und Jüngern wird auch der Familie Jesu das Geheimnis des Sohnes erst nach Ostern offenbart.
V.
Offene Familie Kirche
„Und er sah ringsum auf die, die im Kreis saßen…“ Familie bekommt unter Jesu Augen eine umfassendere Bedeutung. Die Menschen, mit denen ich meinen Glauben, meine Hoffnung, meine religiösen Erkenntnis teile, sind nicht weniger als meine Familie. In der besonderen Situation können wir Jesus auch als den hören, der Menschen in einem Kreis versammelt, in dem alle einander sehen: Wie in meiner Familie stehe ich für euch ein, wir gehören zusammen, ich gehöre untrennbar zu euch. Jesus überträgt sein Familienbild auf seine Anhängerschaft.
Ob Jesus zu seiner leiblichen Familie keinen Kontakt mehr aufgenommen hat, wissen wir nicht. In der Bibel wird nichts davon berichtet. Darum kann sich niemand auf Jesus berufen, der aus religiösen oder anderen Gründen seine leibliche Familie verleugnet, sie ablehnt, sich von ihr los sagt. Jesus lehrte die Menschen „Gott“ und lebte vor, was dieser Gotteslehre („Theologie“) entsprach. Die Menschen, die ihn verstanden, im Glauben und Handeln seiner Lehre folgten („Spiritualität und Ethik“), gehörten zu seiner Familie. In diesem Sinn dürfen sogar wir Nachfolgenden im dritten Jahrtausend nach Christi Geburt uns zu seiner, inzwischen weltweiten, Familie dazugehörig und aufgenommen fühlen. Familie ganz konkret, sehr irdisch. Bis heute eine „heilige Familie“, aber nicht weil sie ohne Makel und vollkommen wäre, sondern weil Gott sie heiligt, sie ihm angehört.
Die Familie hat den Namen Kirche, Familie Gottes („familia Dei“). Es ist „die heilige christliche Kirche“, zu der wir uns heute mit einem Drittel der Weltbevölkerung bekennen. Kirche – ein weiter Kreis, die große Menschenschar, die sich um Jesus von Nazareth versammelt, auf seine Worte hört und sich durch seine Taten bestärken lässt. Kirche – ein offener, einladender, „globaler“ Kreis, niemand muss draußen stehen bleiben. Kirche – „Gemeinschaft der Heiligen“, die füreinander da sind und so den Willen Gottes „von ganzem Herzen“[2] und ungeteilter Hingabe tun. Es gibt in dieser Kirche wie in allen Familien verschiedene Meinungen, Streitigkeiten und Uneinigkeit – aber auch ganz viel gutes Handeln, viel Liebe, Hoffnung und Vertrauen in Gott und seinen Sohn Jesus, unseren Bruder.
[1] Sinngemäß nach dem Gedicht „Eure Kinder“ von Khalil Gibran (1883-1931).
[2] 5. Mose 6,5.