Heute Kirche bauen und dafür Menschen gewinnen
Auf Menschen zugehen, sie anhören, hören, was sie brauchen
Predigttext | Lukas 9,62 (Wochenspruch) |
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Kirche / Ort: | Gaiberg b. Heidelberg |
Datum: | 23.03.2025 |
Kirchenjahr: | Okuli (3. Sonntag der Passionszeit) |
Autor: | Pfarrer i. R. Helmut Staudt |
Predigttext, Wochenspruch zum Sonntag Oculi: Lukas 9,62 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017) Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes.
„Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes.“ Diese Worte Jesu haben mich oft verwundert. Warum nicht zurück schauen, wo du geackert, gesät hast? Warum? Warum nur den Blick nach vorn richten? Nach vorn blicken oder zurückschauen? Warum es so kam in unserer Kirche? Warum wir so wenige wurden? Warum Leute ausgetreten sind, das ist derzeit das große Thema. Weil damals dasund jenes geschah und am Ende fehl lief. Weil das damals so war!
I
Nun mal ehrlich: wenn wirunsere Kirche anschauen, warum nicht zurück schauen, was gewesen ist, was alles Großartiges oder auch Schlimmes geschah? Sollen wir denn alle die Kirchenväter und Mütter der Kirche vergessen? Ach, wenn wenn wir nur einige Dutzend behalten. Ihre Taten, ihre Schicksale, ihr Leiden. Warum nicht zurückschauen?
Ich gehöre selbst zu denen, die es gerne tun und meine oft, wir tun es zu wenig. Die Biographien und die Geschichte sollten uns häufiger wachrufen. Können wir nichts daraus lernen? Und doch hat Jesus recht, wenn er uns vorhält: Wer den Acker Christi richtig bestellen will, soll sich nicht mit Rückblicken aufhalten. Das wirft uns im wahrsten Sinn des Wortes zurück. Wer eine Kirche bauen will, soll nicht darauf schauen, was er nicht hat, sondern wie viel Potential bereit liegt. Das ist unser Manko in dieser Zeit.
Ich verstehe es so: Habe mit vielen Menschen gearbeitet und versuchte, etwas im wahrsten Sinn für das Reich Gottes für unsere Mitmenschen zu erreichen. Ich entsinne mich noch an ein Gespräch in einer jungen Familie, die an sich gutwillig warund sagte: Wir kommen schon gern zum Gottesdienst. Aber mehr ist nicht drin. Wir sind beide berufstätigund für mehr überhaupt nicht qualifiziert. Ich sagte, ich hätte gern jemand, der ohne viel Aufwand oder Vorkenntnisse meinen Konfirmandenunterricht kritisch begleitet, jemand wie Sie. Stille Reaktion, Staunen, Pause, Raunen. Wieder ein Einwand: Ich habe davon überhaupt keine Ahnung. Mein eigener Konfirmandenunterricht, sagte der Mann, liegt lange zurück, ich weiß gar nicht, was wir damals gemacht haben. Bin dafür nicht qualifiziert…
Ist überhaupt nicht wichtig, sagte ich,ich will Ihnen auch nicht viel Zeit nehmen, eher eine Abwechslung bieten. Kommen Sie und hören Sie einfach zu. Was gewesen oder nicht gewesen ist, ist gar nicht so wichtig… – Und was glauben Sie? Er kam. Er kam das erste Mal zu spät, aber er kam. Und er hörte zu und stellte vorsichtig Fragen über meine Unterrichtsplanungen, über die Jugendlichen, wurde neugierig und war das zweite Mal pünktlich. Was mich überraschte: Er mischte sich bald in die Gespräche der Konfirmanden ein. Ich staunte, und die Jugendlichen staunten auch, und wir wurden Freunde. Er wurde mir ein guter Begleiter und Helfer, egal was vorher war oder nicht war.
II
Da hatte ich erst aus meiner unsicheren Suche nach einem möglichen Begleiter diesen Menschen angesprochen, ohne ihn richtig zu kennen, nur ein paarmal gesehen. Hätte ich ihn nach seinen Vorkenntnissen gefragt, wären wir nie zusammen gekommen. Ich sage nicht, dass das mein Geschick war, es war eher ein Gefühl. Das trifft für so große Teile unserer Gemeindearbeit zu. Wie oft wird gefragt: Wer ist das? Was macht er? Hat er eine Ahnung von Kirche? Vom Evangelium? Ich sage nicht, dass solche Fragen unberechtigt sind. Aber wie oft halten sie uns davon ab, frei aufeinander zuzugehen.
Das habe ich auch bei den Hausbesuchen gemerkt. Ich muss dazu erklären, dass ich an den Pfarrstellen, die ich hatte, mich überall durch einen kurzen Hausbesuch vorstellte. Ich fragte nicht: Kommen Sie oft oder manchmal oder überhaupt nicht zur Kirche? Ich lud vielmehr ein: Kommen Sie und schauen Sie, was wir machen. Wenn dann Einwände und vergangene schlechte Erfahrungen zur Sprache kamen, versuchten wir darüber zu sprechen. Ich sah, wie oft sich Menschen ein Erlebnis, das sie negativ einstuften, sich selbst als Hindernis zur Kirche in die Wege legten. Wie oft wurden Kleinigkeiten aufgebauscht und zur Selbstentschuldigung gebraucht. Ich lernte dabei selbst viel und versuchte, das eine oder andere Hindernis klein zu machen, manchmal auch klein zu lachen. Wer zurückschaut und sich an der einen oder anderen Enttäuschung festhält, kommt nicht vorwärts.
Oft brachte ich die berufliche Karriere ins Gespräch: Angenommen, Sie fühlten sich von ihrem Vorgesetzten schlecht behandelt, nicht verstanden, haben Sie das geschluckt oder was haben Sie getan? Viele haben solche Vorkommnisse geschluckt und verdrängt, überspielt und verziehen. Oder in krasseren Fällen wussten sie, dass das Verhältnis belastet war. Manche haben bei irgendeiner Gelegenheit den Mut gefasst, das Problem bei dem Vorgesetzten doch noch einmal vorsichtig zur Sprache zu bringen, aber zurückhaltend: Sehen Sie, ich hatte doch nicht so ganz Unrecht. Und ein Lächeln konnte entkrampfen. Unangenehme Vergangenheit war weggeräumt, frei die Zukunft.
III
Ich glaube, sogar, dass diese Maßgabe Jesu Christi ganz wichtig für unsere gegenwärtige Situation ist.Denn was geschieht innerkirchlich? Wir starren auf Zahlen, Zahlen von Noch-Mitgliedern und Zahlen von Nicht-Mitgliedern, Zahlen von Menschen, die Kirchsteuer zahlen oder sie nicht mehr zahlen oder gar noch nie gezahlt haben. Wird es gelingen, zu einem Menschen zum Beispiel mit türkischem Namen eine Beziehung aufzubauen, wenn wir zuerst mal nach seinem Glauben, seiner Religion fragen? Wohl kaum.
Einfach und locker mit ihm das Gespräch suchen. Er wird schon seine Fragen oder seine Meinung sagen. Wir starren auf Zahlen und angeblich unkirchliche Massen und sehen überhaupt nicht die Menschen. Es gibt Stadtteile oder ganze Städte, in denen wahrscheinlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung nominell sich nicht bei einer Kirche beteiligen. Sollten sie uns deshalb nichts angehen? Was wäre wenn der Apostel Paulus in Korinth und Ephesus jeden Menschen erst einmal gefragt hätte: Woher kommst Du? Was glaubst Du? Was hast Du getan? Hast Du gesündigt? Solche Fragen kamen in der Gemeinde zur Sprache, aber nicht am Anfang. Auch ist etwas anderes, wenn jemand ungefragt und ohne Druck sich anderen mitteilt.
Wenn wir heute Kirche bauen und Menschen gewinnen wollen, müssen wir zuerst auf sie zugehen. Nicht blind. Mit etwas Menschenkenntnis wird sich schnell herausstellen, woran wir anknüpfen können und ob ein bisschen Mitarbeit drin ist oder mehr. Wer die Hand an den Pflug legt und nicht vorausschaut, wo die Steine liegen, wird seine Pflugschar verletzen, ruinieren. Das möchte ich ergänzen. Vorausschauen und die Steine aus dem Weg räumen oder den Pflug geschickt um die Felsbrocken lenken.
Aus gegenwärtigen Kirchenleitungen hören wir: Genau das tun wir, wir schauen voraus und ebnen das Gelände mit neuen Kooperationsräumen, räumen finanziellen Ballast beiseite, machen die Last leichter. Etliches davon wird zutreffen. Aber verlieren wir nicht den größten Teil unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger aus dem Auge, weildie nicht zahlen und nicht in unseren Mitgliederlisten stehen? Sollten sie uns nichts mehr angehen und uns, wie auch zu hören ist, auf die Menschen konzentrieren, die noch dabei sind? Damit gewinnen wir aber keinen einzigen Menschen dazu, und unsere Gemeinden schrumpfen. Nein, wer seine Hand an den Pflug legt und erst mal Bedingungen und Fragen nach der Vergangenheit stellt, wird keine Gemeinde sammeln. Ich sage nicht blind zusammenklauben. Auf Menschen zugehen, sie anhören, hören, was sie brauchen. Mutig nach vorne schauen, nicht zu viel fragen, etwas wagen. Dazu ermutigen uns auch heute die Worte Jesu.