Hoffnung, die verbindet
Auf der Suche nach Gott und auf der Suche nach Frieden
Predigttext | Sacharja 8,20-23 - Zum Israelsonntag |
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Kirche / Ort: | Magnuskirche / Worms |
Datum: | 04.08.2024 |
Kirchenjahr: | 10. Sonntag nach Trinitatis |
Autor: | Ulrike Scherf, stellvertretende Kirchenpräsidentin Evangelische Kirche in Hessen und Nassau |
Predigttext: Sacharja 8,20-23 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
20 So spricht der HERR Zebaoth: Es werden noch Völker kommen und Bürger vieler Städte, 21 und die Bürger der einen Stadt werden zur andern gehen und sagen: Lasst uns gehen, den HERRN anzuflehen und zu suchen den HERRN Zebaoth; wir wollen mit euch gehen. 22 So werden viele Völker und mächtige Nationen kommen, den HERRN Zebaoth in Jerusalem zu suchen und den HERRN anzuflehen. 23 So spricht der HERR Zebaoth: Zu jener Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Völker einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.
Sacharja - Gott hat sich erinnert
Ungefähr 520 v.Chr. lebt der Prophet Sacharja. Sein Name bedeutet „Gott hat sich erinnert“. Sacharja stammt aus einer Priesterfamilie. Seine Vorfahren haben erlebt, wie die Babylonier die Stadt Jerusalem erobert und zerstört haben. Gemeinsam mit vielen anderen sind sie weggeführt worden aus ihrer Heimat, deportiert nach Babel. In dieser Zeit, da in der Fremde, sind viele Ideen und Visionen entstanden. Die Hoffnung, eines Tages zurückzukehren nach Jerusalem, in das heilige und verheißene Land, hat die Menschen am Leben erhalten. Und dann – „Gott hat sich erinnert“ – kam mit dem Perserreich die Rückkehr in diese Heimat und die Sehnsucht danach, für immer in Frieden und Freiheit dort zu leben.
Sacharja gehört zu den Menschen, die Worte für diese Sehnsucht finden. Er träumt und schreibt seine Traumbilder auf. „Nachtgesichte“ werden sie genannt. Er sieht rätselhafte Dinge: Pferde und Wagen, Leuchter und Ölbäume, menschliche Gestalten. Und immer wieder ist da ein Engel, der ihm hilft, diese Bilder zu deuten und zu verstehen. Ein Friedensreich soll entstehen, an dem alle Menschen teilhaben können und Gott wird in der Mitte sein. Davon träumt Sacharja und sagt es so – ich lese aus dem 8. Kapitel des Sacharjabuchs:
20 So spricht der HERR Zebaoth: Es werden noch Völker kommen und Bürger vieler Städte, 21 und die Bürger der einen Stadt werden zur andern gehen und sagen: Lasst uns gehen, den HERRN anzuflehen und zu suchen den HERRN Zebaoth; wir wollen mit euch gehen. 22 So werden viele Völker und mächtige Nationen kommen, den HERRN Zebaoth in Jerusalem zu suchen und den HERRN anzuflehen. 23 So spricht der HERR Zebaoth: Zu jener Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Völker einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.
Wie schön wäre das. Wenn es einfach aufhören würde. Das Kämpfen. Das Töten. Das Sterben. Wenn das Gegeneinander der Völker und Nationen zu einem gemeinsamen Aufbruch würde. Wenn wir wirklich sagen könnten „Wir wollen mit euch gehen“, so wie Sacharja das vor tausenden von Jahren in seiner Vision vor Augen stand.
Seit dem Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 scheint so ein Frieden und so ein gemeinsamer Weg in weite Ferne gerückt. Jeden Tag hören wir neue Schreckensnachrichten und die Wunden und Traumata, die sich durch die Verbrechen der Hamas und all ihre Folgen und Reaktionen daraufin die Körper und Seelen der betroffenen Menschen gegraben haben, die kann man so schnell nicht heilen.
"Der Engel der Geschichte"
Ich denke an Walter Benjamins „Engel der Geschichte“. Vielleicht kann man sich so auch den Engel Sacharjas vorstellen. 1921 hatte Walter Benjamin eine Zeichnung von Paul Klee erworben. Sie heißt „Angelus Novus“. Ein seltsamer Engel. Sein Kopf ist übergroß, seine Augen sind schreckensstarr geweitet. In seinem aufgerissenen Mund sind spitze Zähne zu sehen. Seine Flügel, wie dürre Ärmchen emporgereckt, sind angstvoll ausgebreitet, hilflos scheint er in der Luft zu rudern, um nicht zerrissen zu werden von den Kräften, die auf ihn einzustürmen scheinen. Mit weit offenen Pupillen starrt er auf etwas, das sich den Blicken des Betrachters entzieht. Walter Benjamin schreibt über diesen Engel:
„Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, verfängt sich in seinen Flügeln, und ist so stark, dass der Engel sie nicht schließen kann … Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“[1]
Walter Benjamin hat so einen Sturm erlebt und ist am Ende, so kann man vermuten, daran zugrunde gegangen. 1940 nahm er sich auf der Flucht vor den Nazis das Leben. Aber sein Engel der Geschichte – der Angelus Novus von Paul Klee, der hat überlebt und ist jetzt in einem Museum in Jerusalem zu sehen.
Was sieht er heute, dieser Engel der Geschichte? Er sieht verzweifelte Menschen allerseits. Er sieht getötete Kinder. Er sieht Frauen, Männer und Kinder, die sich auch in deutschen Städten nicht mehr trauen, zu zeigen, dass sie Jüdinnen und Juden sind. Und über allem sieht er den langen Schatten der Shoah. Und er sieht auch: bedrängte Zivilistinnen in Gaza, rollende Panzer, Kugeln, die Menschen ins Herz treffen, die einfach nur leben wollen ohne Not und Bedrängnis. Er sieht rücksichtslose Siedler. Er sieht Kinder, die zu Schutzschilden gemacht werden. Er sieht, wie die Weltgemeinschaft ratlos davorsteht und nun - nach der gezielten Tötung von Verantwortlichen der Hammas und der Hisbollah - eine weitere Eskalation fürchtet. Und er sieht wohl auch uns hier: Christinnen und Christen, zum Gottesdienst hier in der Wormser Magnuskirche, auf der Suche nach Gott und auf der Suche nach Frieden.
Alte Worte Israels aus der Thora
»Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt[3] und mit all deiner Kraft« 31 Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« Es ist kein anderes Gebot größer als diese. (Markusevangelium 12,29-31)
So sagt Jesus das. Alte Worte Israels aus der Thora sind es, die Jesus da zitiert. Sie haben Gültigkeit im Judentum und sie sind auch für das Christentum zu einem Kern des Glaubens geworden. Jesus hat das vorgelebt. Und zugleich ist es in unserer „Menschenwelt“ nicht immer gelungen, nach diesen Geboten zu leben und zu handeln, und es gelingt auch heute nicht. Trotzdem: Es bleibt uns nichts, als daran festzuhalten und uns daran auszurichten. Immer wieder. Um Liebe unter den Menschen und um Frieden zu bitten und Zeichen der Hoffnung zu suchen.
Im April schreibt der jüdische Historiker und Autor Yuval Noah Harari in einem Zeitungsbeitrag[2] von seiner Vision des Friedens trotz der schon lange verfahrenen Situation des Konflikts. Er schreibt: „Technisch ist eine friedliche Lösung des Konflikts machbar. Zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer gibt es genug Land (…). Aber sie kann nur verwirklicht werden, wenn jede Seite ehrlich sagt, dass sie die andere nicht vertreiben möchte. (…) Ein solch tiefgreifender Wandel in den Absichten wird die Angst und den Hass abbauen und Raum für echten Frieden schaffen.“
Darauf schauen können, was uns verbindet
Ich hoffe darauf, dass es so sein kann. Dass Jüdinnen und Juden in dieser Welt in Sicherheit sind. Dass es eine Welt geben wird, in der Israel und Palästina Orte sind, wo Frieden ist und auch alle Palästinenserinnen und Palästinenser und all die anderen Bevölkerungsgruppen, die sich solchen Frieden genauso wünschen, ohne Angst in Freiheit leben können. Ich wünsche mir eine Welt, in der wir Menschen alle zuerst darauf schauen können, was uns verbindet und nicht, was uns trennt. Dass wir versöhnlich und freundlich miteinander sein können – in der Politik, in unserer Kirche und im Miteinander der Religionsgemeinschaften. Und auch auf unseren ganz eigenen, manchmal krummen und verworrenen Lebenspfaden mit all ihren Begegnungen und Verwicklungen. Dass es gelingt, was die Worte der Thora sagen: „Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst.“
Die Schatten der Geschichte nicht vergessen
Wir dürfen die Schatten der Geschichte, auch unserer deutschen, bitteren und finsteren Vergangenheit nicht vergessen. Und zugleich die Hoffnung nicht aufgeben, dass es eine Zukunft geben kann, in der der Engel der Geschichte sich eines Tages umdreht: Und auf starken Schwingen der Zukunft entgegenfliegt. Einer Zukunft, in der Menschen aus allen Sprachen der Völker Seite an Seite gemeinsam gehen, wie in Sacharjas Vision. Sacharja und auch Jesus haben daran geglaubt, dass es möglich ist, denn Gott hat es versprochen.
Darauf vertraue ich, wie viele andere. Rula Daood und Alon Lee Green, die Vorsitzenden von „Standing Together“, der größten arabisch-israelische Friedensinitiative in Israel, bitten uns: „Protestiert doch bitte für die Freiheit und Sicherheit für Palästinenser und für Israelis. Wenn wir es hier schaffen, das unter Raketenalarm zu sagen, dann müsst ihr es in Europa doch auch können!“ [3]
Die Hoffnung auf Frieden und Versöhnung nicht aufgeben
Ich schaue noch einmal auf den Engel der Geschichte. Ich sehe sein zerzaustes Haar. Seinen weiten Blick. Das, worauf er zurückschaut, auf das, was er heute sieht. Und ich stelle mir vor: Wenn es Menschen gibt, wie Rula, wie Alon und wie die vielen anderen, die die Hoffnung auf Frieden und Versöhnung nicht aufgeben, dann kann der Wind sich drehen. Und diesen Engel in die Zukunft tragen. Seine kleinen Arme werden weiter ausgestreckt. Es gelingt, das Zerschlagene zusammenzufügen. Und dann, so hoffe ich, erhebt er sie zum Segen. Dass Friede werde auf Erden. Dass es eine Zukunft gibt, in der Menschen aus allen Sprachen der Völker Seite an Seite gemeinsam gehen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
[1] Benjamin, W. Über den Begriff der Geschichte (1940) verfügbar unter https://www.burg-halle.de/home/129_baetzner/SoSe_2017/benjamin_Ueber_den_Begriff_der_Geschichte.pdf, s.12.
[2] Gaza: Yuval Harari macht Israel und den Palästinesern Hoffnung (nzz.ch) abgerufen am 11.07.2024, 11.54.
[3] Friedensaktivisten in Israel: »Den Schmerz beider Seiten aushalten« | Jüdische Allgemeine (juedische-allgemeine.de) abgerufen am 15.07.2024, 11.10.