Predigt

Hoffnung für eine menschlichere Welt

Es gibt Augenblicke, wo wir das Kyrie eleison nicht singen, sondern herausschreien sollten

PredigttextKlagelieder 3,22-26.31-32 (mit exegetischen und homiletischen Hinweisen)
Kirche / Ort:Lübeck
Datum:19.09.2021
Kirchenjahr:16. Sonntag nach Trinitatis
Autor:Pastor em. Rudolf Albrecht

Predigttext: Klagelieder 3,22-26.31-32 (Übers. nach Martin Luther, Rev. 2017):

22Die Güte des HERRN ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, 23sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. 24Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. 25Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. 26Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen.

31Denn der HERR verstößt nicht ewig; 32sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.

Gottesdienstlicher und biblischer Kontext

Am 16. Sonntag nach Trinitatis erklingen österliche Texte: Als Evangelium Joh 11 in Auswahl, als Epistel 2.Tim 1,7-10. Das neue Wochenlied ist EG 115. Der Predigttext Klgl 3 hat nicht die Überwindung des Todes zum Thema, aber sein Bekenntnis zur Güte und Treue Gottes weckt Hoffnung auf Leben.

Die Abgrenzung der Predigt-Perikope ist, wie öfter, umstritten. Die vorgeschlagenen Predigt-Verse sind ohne Hinweis auf den Zusammenhang gefährdet als schöne Kalendersprüche. Deshalb möchte ich in der Predigt aus Kapitel 3 der Klgl einige Verse der Klage lesen. Als Gebet des Tages oder im Fürbittengebet können Worte des Achtzehnbittengebetes in Auswahl nachgesprochen werden.

Die Klagelieder (hebr. ekah/“Wehe“, rabb. Kinoth/Leichenklagen, griech. threni, lat. lamentationes) sind nach der Katastrophe von 587 v. Chr. entstanden, wohl in Jerusalem, c. 1 vielleicht schon nach 597. Sie haben wahrscheinlich nur einen Verfasser. In den Klagefeiern, in denen die in Jerusalem und Judäa Verbliebenen den Untergang Jerusalems beklagten, wurden sie gesungen. Näheres zu Namen, Stellung im Kanon, Formen und Gattungen, Entstehungsort und -zeit, zur Verfasserfrage und der religiösen Bedeutung s. die Einleitungen und Kommentare.

Kapitel 3 ist das zentrale und längste Kapitel. In V.1-20 dominiert die Einzelklage, die in V.21-24 in ein Vertrauensbekenntnis und Danklied übergeht, dem sich in V.25-33 paränetische weisheitliche Reflexionen, 34ff seelsorgerliche Mahnungen, 40ff ein Sündenbekenntnis, 43ff die Klage des Volkes etc. anschließen.

Kurze Exegese

V22 Nach der Selbstbesinnung und Selbstkritik V.18ff wendet sich der Autor von der Klage ab und vollzieht eine Wendung zur Hoffnung (V21). V.22 ist keine neue Erkenntnis, sondern er nimmt sich zu Herzen, „ruft sich in den Sinn zurück“, dass Gottes Zorn befristet, seine Güte und Barmherzigkeit nicht beendet ist.

V23 ist mit V.22 ein hymnisches Bekenntnis, das in V.23b zur Gebetsform wechselt. „Dem Inhalt nach handelt es sich um nichts anderes als um eine recapitulatio der fundamentalen Sätze aus der Festperikope von der Uroffenbarung Jahwes am Sinai“ (Weiser, S.339), vgl. z.B. Ps 86,15 = Ps 103,8 = Ps 145,8. Die grundlegenden Zusagen Gottes aus 2. Mose 34,6 gelten wie in der langen Heilsgeschichte unverbrüchlich auch für die Gegenwart der Bundesgemeinde. Das Dankbekenntnis setzt eine persönliche Heilserfahrung voraus.

V24 ist ein persönliches Bekenntnis. Die Aussage „Der HERR ist mein Teil“ erinnert an Ps 16,5f und geht wohl auf die Landverteilung zurück.

V25 In didaktisch-paränetischen Formen und Gedanken weitet der Dichter seine eigene weisheitliche Erfahrung aus zu allgemein gültiger Belehrung und Ermahnung (V.25-39). V.25a ist ein allgemein gültiger Glaubenssatz, der in der Hoffnung auf Gottes Güte gründet. Nach Gott fragen, Gott mit ganzem Herzen und ganzer Seele suchen, hat die Verheißung, dass Gott sich finden lässt (5. Mose 4,29 u.ö.; Jer 29,14 u.ö.- s. Wortkonkordanz).

V26 Im Stil des allgemeinen Weisheitsspruches wird der Gemeinde empfohlen: Gut ist es zu hoffen, „und zwar still“ (s. Gesenius z.St.) auf die Hilfe des HERRN.

V31 Die Glaubenssätze V.31f gründen in Gottes Wesen der Erbarmung und Güte. Sie hat der Dichter an Gottes Handeln in der Heilsgeschichte und der eigenen Erfahrung erkannt.

V32 Es ist das Geheimnis göttlicher Wirklichkeit, durch Zorn und Gericht zu betrüben, und sich dann nach seiner großen Güte zu erbarmen.

Hinführung zur Predigt

V.22-23 sind Mittel- und Höhepunkt des 3. Kapitels. Mit ihnen beginne und beschließe ich die Predigt. Auch nach dem furchtbaren Gottesgericht hat das Erbarmen Gottes mit der Not des Volkes kein Ende. Das hat der Verfasser in seiner Anfechtung erfahren. In dieser Heilserfahrung hat sein angefochtener Glaube wieder eine feste Existenzgrundlage und gründet seine vertrauensvolle Hoffnung.

„Die bejahende Einstellung zu Gottes Gericht ist die notwendige Voraussetzung der Hoffnung auf seine Gnade. … Ob er straft oder vergibt, bleibt Gott immer derselbe und will in beidem als Gott gleichermaßen ernstgenommen werden“ (Weiser, S.341).

Einer wirklichen persönlichen Begegnung mit Gott und seiner Vergebung muss die Umkehr des Volkes vorausgehen. Der Dichter hat Gottes Gericht angenommen, ihm seine Not geklagt und sich seiner Bewahrung erinnert. Die Erinnerung schuf Hoffnung. So hat er seinen Glauben durchgehalten und wurde zum Lobgesang ermutigt.

Ich möchte zum Verständnis in der Predigt den historischen Hintergrund kurz beleuchten, nicht die Substantive Güte/Gnade, Barmherzigkeit, Treue, An-Teil, Hilfe des HERRN ‚ erklären‘. Das Verb hoffen/harren (jachal) ist zu bedenken. Hoffen ist verwandt mit hüpfen, in Erwartung aufspringen (Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 6. Auflage, S.652).

Während der dritten Corona-Pandemie (und im Blick auf die vierte!) und der Überschwemmungskatastrophen und der Waldbrände und des Flüchtlingselends ist auch unter uns geklagt worden. Die Katastrophen wurden nur selten im Zusammenhang mit der Gottesfrage diskutiert. Gott verschwindet immer mehr aus unserem Alltag.

Die Predigt will die Gemeinde ermutigen, zu klagen, Gott anzuklagen und auch zu danken für erfahrene Bewahrung und manches Gelingen, in allem mehr nach Gott zu fragen und seine Güte und Gaben in unserem Leben zu suchen. Da dürfen wir uns von Israel anleiten lassen, unsere Anliegen klagend und lobend vor Gott zu bringen, besonders auch während des Gedenkens an 1700 Jahre Juden in Deutschland. Als Beispiel für Israels Glauben und zu diesem Gedenken weise ich auf Elie Wiesel hin.

Literatur in Auswahl

A.Weiser, Klagelieder, ATD Teilband 16, Göttingen 1967, S. 295-350 / H.-J. Kraus, RGG3, Band 3, Klagelieder Jeremiä, Sp. 1627-29 / Artikel zu den Stichworten im Theol. Wörterb. zum NT. / H.-J. Kittel, GPM 1975,29. Jahrg., Heft 4, Dritte Reihe, S. 399-405 / H. Martens, C. Butt, Predigtstudien für das Kj. 2020/21, Reihe III, 2. Halbband, 16. Sonntag n. Tr.-19.09. 2021; vgl. auch ältere Bände! / Internet! / Elie Wiesel, Die Nacht zu begraben, Elischa. Ullstein-Buch, Nr.20823, 1996.

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