„How dare you …“ - Mikroplastik und Erntekrone
Erntedank 2019
Predigttext | Jesaja 58,7-12 |
---|---|
Kirche / Ort: | Karlsruhe |
Datum: | 06.10.2019 |
Kirchenjahr: | Erntedankfest |
Autor: | Pfarrer PD Dr. Wolfgang Vögele |
Predigttext: Jesaja 58,7-12 (Übersetzung nach Martin Luther)
Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der Herr wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«.
Erntedank
Nehmen wir eine der leuchtend roten Tomaten vom Erntedank-Altar. Sie wuchs an einer Staude im Garten der Kirchendienerin. Liebevoll ist die Tomatenstaude monatelang jeden Abend gegossen worden. Sie hat Regentage und Hitzeperioden erlebt, kein Schädlingsbekämpfungsmittel hat ihre glänzende Haut berührt. Morgen wird sie zusammen mit anderen Tomaten kleingeschnitten und zu Bolognesesauce eingeköchelt. Heute strahlt sie auf dem Altar. Nicht nur die Hobbygärtner und Nebenerwerbslandwirte haben Grund, dankbar zu sein, für leuchtend rote Tomaten, für knollige Kartoffeln und lange, gerade gewachsene Zucchini, für Boskop, Goldparmänen und Tafelbirnen von der Streuobstwiese, für Garben von Weizen- und Roggenähren, für Broccoli und Rosenkohl, Spinat und Mangold, leider sehr unbeliebt bei Konfirmanden und Taufkindern.
Sorge
Leider tropft unsere winzige, lokale, kinderfreundliche Erntedankbarkeit auf einen sehr heißen Stein aus Unruhe, Besorgnis und zunehmendem Druck auf Politik und Gesellschaft, endlich zu handeln für eine ökologische Umkehr. Denn neben der Tomate aus dem Gartenbeet, dem Basilikum aus dem Blumenkasten am Balkongeländer und dem Apfel vom regionalen Bauer, der auf dem Markt verkauft, ernähren wir Supermarkt-Konsumenten uns von Gewächshaustomaten, die Lastwagen durch ganz Europa karren, und von Schweineschnitzeln, deren tierische Lieferanten nie den Stall verlassen und die Sonne gesehen haben. Für die alten, in die Jahreszeit eingebundenen Bauern und Hobbygärtner bildete der Herbst noch einen Wendepunkt im Jahr. Wenn die Ernte eingefahren war, war die Versorgung mit Nahrungsmitteln über den Winter gesichert. Heute muß die Lieferkette von Gewächshaus und Stall über den Großmarkt bis zum Supermarkt um die Ecke dauerhaft reibungslos funktionieren. Es ist faszinierend zu sehen, wie die Rädchen der Nahrungsmittelkette ineinander greifen, aber die schöne, alte Dankbarkeit von Erntedank geht darüber verloren.
Noch schlimmer, das Entsetzen über geschredderte männliche Küken, ohne Narkose kastrierte Eber und wäßrige Gewächshaustomaten bettet sich ein in die allmähliche Erkenntnis, daß das Klima dieser Welt sich durch die industriellen Methoden landwirtschaftlicher Produktion von Gemüse, Obst und vor allem Fleisch erheblich zum Schlechteren verändern hat und verändern wird. Und der Dank für die liebevoll gepflegte, persönliche Gartentomate ist plötzlich eingebettet in einen Schaum aus Erregung, Zorn, Ungeduld und Ohnmacht. Selbst die unpolitischen Omas und Opas besuchen jetzt Fridays for Future Demonstrationen.
„How dare you …“ – „Wie könnt ihr es wagen …“
Und vor ein paar Tagen schauten alle Fernsehzuschauer während der Abendnachrichten in das wütend ausdruckslose Gesicht der schwedischen Schulschwänzerin Greta Thunberg und mußten sich eine telegene Gardinenpredigt anhören: „How dare you!“ – „Wie könnt ihr es wagen“, rief sie mit tränenerstickter Stimme und warf den anwesenden Politikern kollektives Versagen vor – angesichts von Mikroplastik in den Innereien von Seefischen, schmelzenden Gletschern, Müllbergen aus überflüssigen Plastikverpackungen und achtlos weggeworfenem Einweggeschirr. Ein paar Tage später mahnte der bekannte Klimaforscher Mojib Latif aus Kiel, daß die Gesellschaft unfähig sei, aus dem Wissen, das Tausende von Klimaforschern zusammengetragen haben, die richtigen politischen Schlüsse zu ziehen und dann zu Taten zu schreiten. Er lobte darum die Unheilsprophetin Greta Thunberg, weil sie die zerfaserte Diskussion über die Klimakatastrophe neu belebt und den überangepaßten Politikern endlich ihre gewohnheitsmäßige Tatenlosigkeit vorgehalten habe.
Skeptiker können die Dimensionen des Klimawandels für überschätzt halten und sich über Details streiten. Auch Greta Thunberg bietet eine Reihe von Angriffsflächen. Ich weiß auch, daß die Leugner des Klimawandels ihr Idol und ihre Führungsfigur im amerikanischen Präsidenten sehen und jede Warnung gleich als Klimahysterie abtun. Aber es ist nicht zu bestreiten, daß sich in diesem Jahr an diesem Erntedankfest die Freude über gute Ernte nicht ohne eine gewichtige Beilage zu haben ist. In Dank und Jubel über Kürbisse, Walnüsse und Sauerkirschen mischen sich Sorgen und Ängste über CO²-Emissionen, brennende oder abgeholzte Regenwälder und übermäßigen Verbrauch fossiler Energien.
Rufer in der Wüste
Es lohnt sich, nicht nur auf eine Stimme zu hören. Und deshalb will ich der Unheilsprophetin Greta Thunberg den lange verstorbenen Unheilspropheten Jesaja, den Rufer in der Wüste, an die Seite stellen, genau zwischen die Warner und die Leugner des Klimawandels. Er besitzt kein Gesicht wie die allgegenwärtige Bildschirmikone Greta, aber seine flammenden Bußrufe und Mahnungen lesen Glaubende seit Jahrhunderten, um sich bis in die Gegenwart davon bewegen zu lassen.
Das Volk Israel, an das Jesaja sich wandte, zeichnete sich aus durch Wankelmut, Gleichgültigkeit, Vergeßlichkeit. Die Menschen schwankten in ihrem Glauben zwischen Zweifel und Enthusiasmus. Sie waren kurzsichtig, anspruchsvoll, hin- und hergetrieben. Jesajas wichtigste Botschaft findet sich in der Mitte der Predigtpassage. Umgeben von den anderen Aufforderungen geht sie leicht unter. „Wenn du schreist, wird [Gott] sagen: Siehe, hier bin ich.“ Kein Gotteszweifel, keine ökologische oder außenpolitische Torheit, keine kurzsichtige Politik und keine Lethargie können den Gott Israels davon abhalten, seinem Volk beizustehen. Gott ist anwesend, aufmerksam, konzentriert; er fühlt mit. Und weiter: Wer Gott anruft, wer betet, wer klagt und wer ihn bittet, den hört er an. Dem hört er zu. Gott ist gegenwärtig, singt die Gemeinde im Choral von Gerhard Tersteegen. Das hätte auch Jesaja über Gott schreiben können: Siehe, hier bin ich. Ich höre dir zu. Und ich werde antworten.
Ökologische Verantwortung
Der theologische Gedanke von Gottes Gegenwart verbindet sich mit einem zweiten Gedanken, den ich aus der aktuellen Klima-Diskussion entnehme: Alles ist miteinander vernetzt. Alles hängt mit allem zusammen. Der Flügelschlag des Schmetterlings in einem Park in Peking pflanzt sich über viele Glieder so fort, daß er auf den Bahamas einen schweren Hurrikan verursacht. Anderes Beispiel: Wenige Dieselmotoren belasten die Luft nicht mit Feinstaub. Aber wenn das Fahren von Autos mit Dieselmotor zu einem Massenphänomen wird, dann steigt die Belastung der Luft, zuerst unmerklich, aber dann doch meßbar. Daraus folgt: Jeder Mensch muß sein Handeln ökologisch verantworten. Er hinterläßt einen Fußabdruck. Im Nahbereich gilt das in jedem Fall.
Aber je länger wir über die Ergebnisse der Klimaforschung lesen, desto mehr wird deutlich, daß aus kleinem Handeln große Wirkungen folgen können, die der einzelne oft überhaupt nicht durchschaut. Klein- wie großformatiges Handeln ist von erwünschten Folgen, aber eben auch oft von unerwünschten, nicht beabsichtigten Nebenfolgen geprägt. Und gerade beim Klima kann man sehen, wie sich unerwünschte Nebenfolgen gegenseitig steigern und in eine globale Krise münden. Deswegen soll sich niemand davon beirren lassen, wenn die Skeptiker sagen: Einzelne Menschen können gar nichts tun. Selbst wer auf Strohhalme, Plastikverpackungen oder Autofahren verzichtet, hat schon einen – nicht den einzigen – Schritt getan, der in der großen Summe genauso Wirkungen entfalten wird. Alles hängt mit allem zusammen, und in diesem großen Zusammenhang steckt auch eine Gotteserfahrung: Gott ist gegenwärtig. Er läßt die Menschen nicht allein.
Institutionelles Handeln
Der Prophet Jesaja, übrigens, redet nicht zu einzelnen, er spricht das gesamte Volk an. Er hatte schon ein Bewußtsein dafür, daß politische Probleme durch institutionelles Handeln verändert werden müssen. Es braucht langfristige Strategien, nachhaltige Verhaltensänderungen. Das geschieht bei Jesaja durch nationale Politik des kleinen Israel. Die gegenwärtige Klimakrise können Länder wie die Bundesrepublik nicht alleine lösen, nicht einmal Staatengemeinschaften wie die Europäische Union. Aber wenn viele Länder wie bei den Vereinten Nationen oder bei den Weltklimakonferenzen in gemeinsamem Interesse handeln sollen, dann blockieren sie sich oft gegenseitig, so sehr, daß selbst die wohlwollendsten Beobachter verzweifeln. Dennoch erscheint dieses sehr langsame Bohren dünner ökologischer Bretter als der einzige Weg, Reformen und nachhaltige Veränderungen auf den Weg zu bringen.
Im Predigttext, das wird aus den Passagen davor und danach deutlich, reagiert Jesaja auf die Fastenpraxis der Menschen. Er sagt: Wenn dieses Fasten nicht ernst gemeint ist, dann macht es keinen Sinn. Jeder (einschließlich Gottes selbst) durchschaut, daß es sich nur um einen Akt symbolischer, vorgeschobener Frömmigkeit handelt. Ähnliches gilt für den Bereich des Politischen: Diese Wut Greta Thunbergs ist zu begreifen, wenn sie Akte symbolischer Politik wütend ablehnt. Denn symbolische Politik soll nur die besorgte Öffentlichkeit ruhigstellen, sie verdeckt die Rat- und die Mutlosigkeit der Politiker, die vor den notwendigen nachhaltigen Maßnahmen zur Änderung lange bestehender Mißstände zurückschrecken. Politiker wollen ja wiedergewählt werden.
Glaube und politisches Handen
Jesaja begreift Politik als eine Frage der Glaubens und umgekehrt Glauben als einen Akt mit politischer Dimension. Damit unterscheidet er sich sehr von heutigen Umweltpolitikern, die den erwärmten klimatischen Zustand der Welt als Folge menschlichen Handelns begreifen und darüber hinaus der Meinung sind, nur durch menschliches Handeln ließen sich globale Erwärmung, CO²-Ausstoß und Meeresverschmutzung auch wieder beseitigen. Ich halte das sogar für richtig, aber dennoch fehlt bei dieser Einstellung eine religiöse Dimension: nämlich das Gefühl, daß diese Welt als Schöpfung verstanden werden muß, als ein Geschenk Gottes, auf dem sich die sterblichen Menschen nur eine vorübergehende Zeit bewegen.
Umkehr
Deshalb mahnt der Prophet Jesaja zur Umkehr. Er fordert energisch, daß sich Politiker und Bürger auf zurückbesinnen auf die Zusagen und Verheißungen Gottes. Und – das muß man zugeben – Jesaja spricht nicht über Bäume, CO² und Feinstaub. Seine Prophetie zielt eher auf das Soziale: auf Obdachlosigkeit und Benachteiligung, auf Elend und Nacktheit. Er bemüht sich um eine Frömmigkeit, die soziale Gerechtigkeit zur Grundlage hat. Aber die Verheißungen, die sich nach der Umkehr der Menschen erfüllen sollen, beschreibt er in wunderbaren Natur- und Landschaftsbildern: Die Wüste lebt. Die Pflanzen verdorren nicht mehr, und das Wasser sprudelt aus gerade erschlossenen Quellen.
Handeln und danken
Und diese Zusage fügt sich ein in das Erntedankfest. Beides gilt: Handeln und Danken. Menschen müssen aktiv werden, um die ökologische Katastrophe zu verhindern, in unserem (Stadt-)Quartier oder in unserem Dorf und in der Welt. Mit Gottes Gnade, einer vernünftigen Politik und dem Einsatz aller Menschen ist das schaffen. Die Aktivitäten ersetzen nicht den genauso notwendigen Dank an Erntedank. Es bleibt ein Rest von Hoffnung – und genügend Gründe, für jede einzelne glänzende und strahlende Tomate zu danken.