Hungern und dürsten – wonach?
„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein…“
Predigttext | Jesaja 55,1-5 |
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Kirche / Ort: | Worms |
Datum: | 29.06.2025 |
Kirchenjahr: | 2. Sonntag nach Trinitatis |
Autor: | Pfarrer Dr. Raphael Zager, wiss. Mitarbeiter |
Predigttext: Jesaja 55,1-5 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
1 Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch! 2 Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben. 3 Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben! Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen, euch die beständigen Gnaden Davids zu geben. 4 Siehe, ich habe ihn den Völkern zum Zeugen bestellt, zum Fürsten für sie und zum Gebieter. 5 Siehe, du wirst Völker rufen, die du nicht kennst, und Völker, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen um des HERRN willen, deines Gottes, und des Heiligen Israels, der dich herrlich gemacht hat.
Hunger und Durst. Davon ist in unserem Predigttext in einer doppelten Weise die Rede: Zum einen ganz konkret, zum anderen in einem übertragenen Sinn. Wer Hunger und Durst hat, wem buchstäblich der Magen knurrt, der soll satt werden – und zwar umsonst. Brot, Milch und Wein soll es für alle geben. Doch der Hunger wird noch in einer anderen Weise gestillt: mit dem Wort Gottes.
Der Prophet Jesaja hat hier eine Gottesrede aufgeschrieben. Nach Jesaja ist es also Gott selbst, der die Menschen einlädt: „Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch!“ Zugleich macht Gott darauf aufmerksam, dass Brot und Wasser, Wein und Milch allein nicht satt machen: „Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben. Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben!“
Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament kommt beides immer wieder vor: Hunger und Durst im eigentlichen Sinn und im übertragenen Sinn. Auch Jesus stellt sich in diese Tradition, wenn er sagt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Munde Gottes geht“ (Mt 4,4)
I
Heute scheint es, als würde beides nur noch eine geringe Rolle spielen. Gerade in unseren westlichen Gesellschaften leidet kaum noch jemand tatsächlich an Hunger und Durst. In Deutschland sorgen Sozialleistungen wie das Bürgergeld und ein großes Netzwerk von Tafeln dafür, dass jeder und jede genug zum Essen und Trinken hat. Mittlerweile ist bei uns eher das Gegenteil ein Problem: Wir sind übersatt. Immer mehr Menschen sind übergewichtig. Wir produzieren und wir konsumieren viel mehr, als wir eigentlich brauchen. Überall gibt es Supermärkte, Kiosks, Restaurants und Lieferdienste, die uns schnell mit Essen versorgen. Das Gefühl, hungrig zu sein: und das über Stunden, Tage und Wochen, kennen nur noch wenige Menschen von uns.
Ähnlich sieht es mit dem anderen Hunger aus. Die Menschen im Volk Israel, zu denen der Prophet Jesaja gesprochen hat, hungerten und dürsteten tatsächlich nach Gottes Wort. Sie lebten damals im Exil, waren aus Jerusalem vertrieben worden, ihr Tempel war zerstört. Sie fragten sich: Wo ist Gott jetzt? Was hat er mit uns vor? Woher sollen wir neue Kraft, neue Orientierung nehmen? Zu diesen Verzweifelten spricht Gott hier: „Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben! Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen.“
Doch wie sieht es bei uns heute aus mit dem Hunger nach des Herrn Wort? Sind wir auch hier übersatt? Vollgefressen? Das Gegenteil ist der Fall: Immer weniger scheinen überhaupt noch diesen Hunger und diesen Durst in sich zu spüren. Sie lesen nicht in der Bibel, sie kommen nicht zum Gottesdienst, sie beten nicht; die Kirche und der Glaube sind ihnen fremd geworden. Sie sind nicht übersatt. Sie haben leere Mägen, ohne es überhaupt zu merken oder darunter zu leiden.
Der Katholik Jan Loffeld hat letztes Jahr ein Buch geschrieben mit dem Titel: „Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt“. Dieser Titel beschreibt ganz gut, was bei vielen offenbar der Fall ist, die nicht oder nicht mehr an Gott glauben: Ihnen fehlt nichts. Sie haben auch keinen Hunger nach Gottes Wort. Ja, das, was wir Christen unter „Gott“ verstehen, spielt für sie überhaupt keine Rolle mehr.
II
Da legt sich die Frage nahe: Nach was hungern und dürsten wir Menschen heute eigentlich? Wenn wir satt und in vielerlei Hinsicht gut versorgt sind, der Kleiderschrank und das Bankkonto voll, warum sind dann doch so viele unzufrieden? Warum steigt die Zahl der Menschen mit Depressionen Jahr für Jahr an? Liebe Gemeinde, natürlich gibt es auf diese Frage keine einfache Antwort. Dennoch scheint es eine Grunderfahrung schon in der biblischen Zeit gewesen zu sein: Der Mensch wird nicht allein vom Brot satt. Es gibt da eine innere Leere, die sich mit Materiellem einfach nicht füllen lässt. Und diese Leere kennen selbst die, die mit dem Wort Gott schon lange nichts mehr anfangen können. Doch was füllt diese Leere? Wonach hungern und dürsten Menschen heute? Ich glaube, es könnte die Anerkennung sein. Von anderen wahrgenommen, gesehen und anerkannt zu werden. Anerkennung ist eine Währung, die in unserer Gesellschaft lange unterschätzt worden ist.
Dabei ist Anerkennung ein Grundbedürfnis, das jeder Mensch von klein auf hat. Als Kind und bis ins Erwachsenenleben hinein ist es uns wichtig, von den Eltern anerkannt zu werden. Es ist einem Kind wichtig, was die Eltern von einem denken. Kinder freuen sich, wenn die Eltern sie loben: für ein schön gemaltes Bild oder ein gutes Fußballspiel oder die eins im Zeugnis. Fast noch wichtiger ist aber die unverdiente Anerkennung: Das Gefühl, die Eltern stehen hinter mir, selbst wenn ich gerade richtigen Mist gebaut habe. Ich kann auch mit einem schlechten Zeugnis nach Hause kommen, und die Eltern haben mich trotzdem lieb. Sie akzeptieren meine Berufsentscheidung, meine politische Position oder meine Partnerwahl, auch wenn das nicht ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen entspricht.
Anerkennung ist eine Währung, die wir weder mit Geld kaufen noch mit Geld aufwiegen können. Das haben wir alle gemerkt während der Pandemie. Es reicht nicht aus, bestimmten Berufsgruppen wie den Menschen in der Pflege mehr Lohn zu zahlen. Ein anständiges Gehalt gehört zwar zur Anerkennung dazu, aber es braucht noch etwas anderes. Die Pflegekräfte wollten für das, was sie leisten, von der Gesellschaft gesehen werden, sie wollten anerkannt werden.
Auch als Einzelne in unserer Gesellschaft, die vom Konsum bestimmt ist, merken wir: Anerkennung lässt sich nicht in der Weise kaufen, wie es uns vielleicht in der Werbung vorgegaukelt wird. Ein neues Auto, das aktuellste iPhone, die größere Wohnung: Werden wir dafür von anderen wirklich mehr anerkannt? Aus dem Film „Fight Club“ stammt das bekannte Zitat: „Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, mit Geld, das wir nicht haben, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen.“ Der Überkonsum führt oft weder dazu, dass wir selbst glücklicher werden, noch dazu, dass uns andere mehr Anerkennung schenken.
III
Wir merken auch: Die Anerkennung ist eine endliche Währung. Denn wir können gar nicht in der gleichen Weise alle Berufsgruppen und alle Interessengruppen wahrnehmen und wertschätzen. So entsteht ein regelrechter Kampf um Anerkennung. Das kann man gut sehen in den sozialen Medien: Welches Video wird am meisten angeklickt, wer bekommt die meisten Likes, welchem Influencer folgen die meisten Menschen?
Weil die Anerkennung begrenzt ist, gibt es automatisch Menschen, die nicht gesehen werden, die nicht wertgeschätzt werden. Ich kann natürlich in meinem eigenen Umkreis versuchen, Menschen Anerkennung zu schenken. Gerade auch denen, die von anderen gerne mal übersehen werden.
Ich denke da zum Beispiel an eine Gemeindegruppe, einen Flötenkreis, der regelmäßig in Pflegeheime geht, um für die Menschen dort Lieder zu spielen und gemeinsam mit ihnen zu singen. Der Flötenkreis macht ihnen damit eine große Freude. Das liegt nicht allein an der schönen Musik. Viele Bewohner bekommen selten oder gar kein Besuch. Sie sind zwar körperlich gepflegt, aber ihnen fehlt es, wahrgenommen und anerkannt zu werden. Und in dem Moment, wo der Flötenkreis kommt, merken sie: Man hat uns da draußen nicht vergessen: Da sind Menschen, die extra für uns kommen. Menschen, die uns eine Freude machen und unsere Einsamkeit vertreiben.
Dennoch bleibt es so: Anerkennung ist unter uns Menschen eine begrenzte Währung. Was tun also mit dieser Leere? Diesem Gefühl, nicht gesehen zu werden, bedeutungslos oder gar wertlos zu sein? Nach Jesaja hat Gott dafür eine klare Antwort parat: „Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben. Neigt eure Ohren her und kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben! Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen.“
IV
Nun machen wir Menschen heute selten die Erfahrung, dass Gott so unvermittelt zu uns spricht, wie Jesaja es nahelegt. Zugleich erfahren wir durch die Bibel doch sehr deutlich, was Gottes Wille und was Gottes Botschaft an uns ist.
Ließe sich das Wort Gottes, die gute Botschaft, das Evangelium, so zusammenfassen – Gott ist die umfassende Anerkennung? Während wir Menschen mit unserer Anerkennung anderer schnell an Grenzen kommen, nimmt Gott uns immer wahr, schätzt er uns immer wert. Schon die Magd Hagar, die von allen verlassen durch die Wüste lief, machte die Erfahrung: „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ (Gen 16,13)
Gott ist die Liebe und die Anerkennung, die uns Menschen von Anfang an umgreift, die uns durch unser Leben trägt und in der wir auch nach dem Tod aufgehoben sind. An anderer Stelle hat Jesaja die Worte festgehalten: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ (Jes 43,1) Gott kennt unseren Namen, er sieht uns, er liebt uns, und das alles, ohne dass wir es uns verdienen müssten. Die Anerkennung durch Gott kann man nicht mit Geld kaufen, sie ist einfach da.
Gott ist die umfassende Anerkennung. Vielleicht wäre das auch ein Weg, um mit denen ins Gespräch zu kommen, die mit Gott schon lange nichts mehr anfangen können. Könnte es sich für sie lohnen, sich wieder mit diesem Gott und seinem Wort zu beschäftigen? Wenn ich erfahre, mein Leben ist nicht nur ein Zufallsprodukt? Sondern ich bin als Person gewollt, ich bin geliebt und wertgeschätzt? Selbst wenn alle anderen Menschen mir ihre Anerkennung verwehren, habe ich die Gewissheit: Bei Gott, dieser ewigen Macht der Liebe, bin ich aufgehoben?