Ich möchte sehen
Sehübungen des Glaubens
Predigttext: Johannes 9,35-41 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
35 Es kam vor Jesus, dass sie ihn ausgestoßen hatten. Und als er ihn fand, fragte er: Glaubst du an den Menschensohn?
36 Er antwortete und sprach: Herr, wer ist's?, dass ich an ihn glaube.
37 Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist's.
38 Er aber sprach: Herr, ich glaube, und betete ihn an.
39 Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden.
40 Das hörten einige der Pharisäer, die bei ihm waren, und fragten ihn: Sind wir denn auch blind?
41 Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde.
Anmerkung der Redaktion
Leider können wir erst heute eine Predigtausarbeitung weitergeben. Der Autor sprang in ein Lücke, die kurzfristig entstand. Ihm gebührt ein besonderer Dank. In der Hoffnung, dass seine Auslegung zu später Stunde noch Aufmerksamkeit findet, grüße ich unsere Leserinnen und Leser mit guten Wünschen,
Ihr
Heinz Janssen.
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Das ist ein wuchtiger Satz! „Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden.“ Jesus sagt das. Jesus sagt das auf der Höhe einer Auseinandersetzung, die Johannes breit und detailliert erzählt. Schauen Sie doch nachher, wenn Sie Hause sind, einmal in Ihre Bibel: Johannes 9. Schon vom Umfang her fällt die Geschichte aus dem Rahmen – und es ist tatsächlich nur eine Geschichte mit mehreren Anläufen. 41 Verse! Knapper geht es nicht. Worum es geht? Schon der erste Satz eröffnet eine Welt: „Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war.“ Er hat die Welt mit ihren Farben, Umrissen und Nuancen nie sehen gelernt – und doch war die Welt, die ihm zu Füßen lag, bunt, gegliedert, voller Stimmen und Gerüche. War er arm? Er war – draußen. Er gehörte nicht dazu. Er wurde übersehen. Er war gestraft. Obwohl sich alle Spuren im Dunkel verlieren – sogar die Jünger, die Jesus begleiten, stellen die Frage: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?
Alles muss einen Grund haben. Sogar die Blindheit. Besonders die Blindheit von Geburt an. Von nichts kommt nichts. Sagen die Leute auf ihre einfache Art. Doch Schuld ist ein geheimnisvoller Grund. Er ist nicht zu fassen, bringt aber alles in ein Zwielicht. Das Leben der Eltern. Das Leben des Menschen, der blind geboren ist. Und das Leben der Menschen rundherum. Der eine ist jetzt draußen. Übersehen. Interessant aber für Mutmaßungen, Vermutungen und Verdächtigungen. Als Mensch mit seinen besonderen Gaben, mit seiner Sensibilität, mit seinem Lebensmut wird er nicht gesehen. Er ist ein Fall, ein Fall unter vielen. Am Ende wird die Schublade, in die er abgelegt wird, mit Fragezeichen geschlossen. Es gibt wieder andere Schubladen, die die Zeitgenossen mit Lust und Liebe öffnen können. Auf dem ersten Satz ruht eine große Hoffnung, ein Widerspruch, der Anfang einer neuen Geschichte: „Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war“. Ab jetzt, sofort, ohne alles Zögern ist die Geschichte dieses Menschen – und die Geschichte aller Menschen neu zu sehen!
Im Licht des ersten Tages
Ich müsste Ihnen – eigentlich – diese lange und bewegte Geschichte nacherzählen. Es sind viele Schauplätze, im Dorf und auch in den Köpfen und Herzen. Aber weil ich an jeder Ecke stehen bleiben würde – stehen bleiben müsste, versuche ich das erst gar nicht. Aber Sie ahnen – und können es selber nachlesen: Der Mensch, der blind geboren war, wird von Jesus nicht nur gesehen – Jesus macht ihn sehend. Jetzt geht es hoch her: Wer ist Jesus eigentlich? Woher kommt er, was macht er? Und der Mensch, der wieder sehen kann, wird hin und hergerissen – mit Fragen, die er nicht oder nur verhalten beantworten kann. Es ist fast so, als ob er sich rechtfertigen muss, dass er wieder sehen kann. Dass die Heilung dann auch noch an einem Sabbat gewährt, geschenkt wurde, macht die ganze Geschichte zu einem Politikum – und zu einem Rechtsstreit. Darüber allein ließe sich viel sagen. Was bei Johannes – auch – eine Breitseite auf die Juden ist (dafür kann ich ihn nicht loben), entpuppt sich als eine besonders schöne Offenbarung: Am ersten Tag schuf der Ewige, gelobt sei sein Name, das Licht – am siebten ruhte er von allen seinen Werken – um seine Schöpfung, alles, in diesem wunderbaren Licht zu sehen. Jetzt ist alles vollendet. In der Schrift heißt es, Gott habe darum diesen Tag, den siebten, geheiligt. Wir können zur Ruhe kommen. Wir können uns freuen. Wir können feiern… Im Licht! Die Aufregung, von der die Geschichte des Blindgeborenen erzählt, zeigt nur, wie unfertig – und blind – Menschen sind. Kaum zu glauben, wie Menschen in Dunkelheit zurückfallen. Es ist, als ob Gott kein Licht geschaffen habe. Deswegen muss diese Geschichte an einem Sabbat spielen. Muss!
Aufgehendes Licht
Die Geschichte, die uns Johannes so ausführlich und spannend überliefert, kreist um die Worte „sehen“ und „blind“. Was auf dem ersten Blick – wir sehen uns ja als Sehende – einfach so ist, wird auseinandergenommen – Wort für Wort. Aus der Beobachtung, dass Menschen, die gut sehen können, blind sind für das heilvolle, liebevolle Wirken Gottes, fällt es uns wie Schuppen von den Augen: was heißt sehen? Was heißt, „blind“ sein? Im Evangelium bekommen unsere geläufigen und eingespielten Worte auf einmal neue Seiten, Nuancen, die überraschende Wirkungen haben. Jetzt sollten wir nicht über die Menschen von damals reden. Ich sehe vieles. Ich glaube, alles zu sehen. Alles zu verstehen, alles zu wissen. Aber die blinden Flecken sehe ich nicht. Allenfalls: die blinden Flecken im Leben anderer Menschen. Manches halte ich zu sehen gar nicht aus. Ich halte mir die Augen zu. Wie ein kleines Kind: Was ich nicht sehe, ist dann auch nicht da. Gut sehend, gut aussehend – bin ich blind. Blind hat dann auch nichts mit den Augen zu tun, für die sich mein Augenarzt und mein Optiker interessieren. Blind sind die Augen meines Herzens. Blind sind sie immer, wenn ich kein Licht mehr sehe. Wenn sich in mir Dunkelheit ausbreitet. Wenn ich nicht mehr weiß, wohin ich gehen kann. Blind bin ich auch, wenn ich nur noch mich sehen kann. Aus dem nach außen ruhenden Pool wird ein Stein auf dem Weg anderer Menschen. Ich träume von freien, weiten Wegen – und taste mich durch das Leben. Ich mag jetzt nicht daran denken, wie schlecht ich sehe.
Zugegeben: Das ist eine kleine Sehübung. Weil sie so nicht vollständig ist, schließen wir einmal die Augen. Es ist dunkel. Obwohl wir nichts sehen, eilen Bilder durch den Kopf. Nicht nur die Bilder, die wir gerade noch gesehen haben – auch die Bilder, die wir heute Morgen mitgebracht haben. Aus den letzten Tagen, vielleicht sogar aus unserem Leben. Bilder überlagern sich, geschwind bekommen sie neue Konturen, neue Farben. Bilder im Herzen leben. Sie lassen sich nicht wegdrücken, nicht verschönern, nicht verschlimmern. Sie nehmen uns einfach mit. Blind bin ich nicht, nur weil ich jetzt etwas nicht sehe. Aber ich merke, wie kunstvoll es ist, auch bei schlechten Erfahrungen, über die Ränder, über die Grenzen zu schauen. Eine weite Sicht zu gewinnen – und eine gütige. Ich verstehe den kleinen Prinzen: Man sieht nur mit dem Herzen gut! Etwas schenkt uns der Evangelist Johannes, heute morgen: Ein Mensch, der blind geboren war, sieht wieder. War er krank? Das Wort „Heilung“ legt das zwar nahe, aber mir kommt das Wort jetzt nicht mehr so geläufig über die Lippen. Heil, Schalom, ist Gottes Wort für das Geschenk, sehen zu können. Was zerrissen ist, wird wieder ganz. Was im Dunkel tobt, wird ruhig im Licht. Was sich in Fragen erschöpft, bricht zu neuen Wegen auf. Sehen können ist nicht – allein – die Kunst der Augen, sehen können ist – vor allem – ein Licht der Liebe.
Blindgeboren
Johannes erzählt die Geschichte von einem Menschen, der blind geboren war und an einem Sabbat sehend wurde. Alles keine Zufälle, keine Nebensächlichkeiten, keine Fehler. Am Ende entpuppt sich die Geschichte als ein großes Lehrstück – nicht nur über sehen und blind sein. In diesem Lehrstück müssen wir uns als die Blindgeborenen sehen lernen. Eine Überraschung! Blind geboren – wir müssen geheilt werden. Blind geboren – wir müssen uns das Sehen schenken lassen. Blind geboren – wir brauchen Gottes Licht. Übrigens: In dieser Geschichte ist ein Satz Jesu überliefert, der die Dinge – und die Erfahrungen – beim Namen nennt: „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt“ (V. 4f.) Für meine Augen bin ich sehr dankbar. Sie haben eine schöne Farbe. Ein anderer Mensch kann sich ihnen spiegeln. Er könnte sogar um seinen Verstand gebracht werden. Er kann mir – vielleicht – sogar ins Herz schauen. Augen sind ein großartiges Geschenk – ich kann sie nicht hoch genug loben. Dass sie nicht alles sind, erzählt mir das Evangelium. Mit einer Geschichte, die die Welt – auf den Kopf stellt. Die Begriffe fangen auf einmal zu leben an, entziehen sich der rationalen Selbstgewissheit. Es gibt mehr zu sehen, als das, was ich sehe! Es gibt auch mehr zu sehen, als das, was ich übersehe! Jesus sagt: Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt! In seinem Licht gibt es viel zu sehen, viel zu entdecken – die Einsicht, dass ich blind bin – ohne ihn, ist nicht die letzte. Was gibt es alles zu entdecken – am Sabbat: Im Licht Gottes tut sich eine Welt auf, die geliebt ist – und die ich lieben darf. Was für ein wuchtiger Satz! Jesus sagt„Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden.“ Ich möchte sehend werden!