Im Licht leben
Zuwendung, warm und zärtlich wie die Sonnenstrahlen - es muss ein alles erhellendes Gefühl sein, dass jemand da ist, der ohne viel Fragen einfach nur hilft
Predigttext: Johannes 9, 1-7 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. 2 Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? 3 Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. 4 Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. 5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. 6 Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. 7 Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah - das heißt übersetzt: gesandt - und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.
Gedanken zum Predigttext
Es geht hier um Licht und Dunkel, um Sehen, Erkennen, Wahrnehmen und Begreifen. Das ganze Kapitel 9 des Johev beschäftigt sich damit. Es schließt mit den Worten: „Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden. Das hörten einige der Pharisäer, die bei ihm waren, und fragten ihn: Sind wir denn auch blind? Jesus sprach zu ihnen: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde“. Jesus pervertiert hier die Verknüpfung von Leid (Nicht-Sehen-Können) und Sünde. Ein Blinder kann das Licht ja eigentlich nicht sehen – und das ist nicht seine Schuld. Durch seine Heilung wird ihm jedoch die Teilhabe am Licht auf verschiedenen Ebenen ermöglicht. (Licht des Glaubens, Licht als Lebensperspektive, Licht als Zuwendung…) Heilung und „Heilwerden“ als Wunder. Dürfen wir heute überhaupt noch Wunder erwarten? Leid als Möglichkeit Gottes, seine Werke zu offenbaren (Joh 9, 4) – was bedeutet das? Wir müssen die Werke Gottes wirken, solange es Tag ist. Die Frage, wie das aussehen kann, soll in der Predigt angesprochen werden. Auch die anderen Texte, die zu diesem Sonntag gehören, enthalten Lichtsymbolik. Es wäre daher ein schöner Gedanke, diese Lichtsymbolik auch im ganzen Gottesdienst aufzunehmen und umzusetzen.
Von einem blinden Menschen hören wir im Predigttext. Seit seiner Geburt kann er nicht sehen. Er wird jedoch gesehen. Vermutlich wurde er von allen Menschen, die an ihm vorbei gingen, gesehen – doch wahrgenommen wurde er nicht. Er war ausgegrenzt und musste vom Betteln leben. Teilhabe am normalen gesellschaftlichen Leben war ihm nicht möglich. Auch Jesus geht an ihm vorüber. Auch Jesus sieht ihn. Doch Jesus nimmt ihn endlich auch wahr. „Hat er gesündigt? Haben seine Eltern gesündigt? Ist seine Blindheit eine Strafe Gottes?“ Das sind die ersten Fragen der Jünger. Wie wir aus dem weiteren Verlauf der Bibelgeschichte wissen, waren das auch die Gedanken all der anderen, die an ihm vorübergegangen waren. Die Frage nach dem Grund für das Leid scheint wichtiger zu sein als das Leid zu lindern. Warum gibt es Menschen im Leid? Warum lässt Gott Leid zu? Die Frage nach dem Sinn von Leid stellen wir uns immer wieder. Wie kann ein liebender Gott Leid in der Welt zulassen? Hat Leid aber überhaupt einen Sinn? Muss denn alles, auch das Schlimme in unserem Leben, einen Sinn haben oder dürfen Dinge nicht einfach nur sein? Vielleicht ist es unsere eigene Sehnsucht nach Sinn, die uns bei dieser Frage leitet. Vielleicht zeigt sich genau an dieser Frage, dass wir uns manchmal als Menschen wünschen, wir wären die Verantwortung in unserem Leben los und dürften diese an Gott abgeben. Doch Jesus schließt das aus. „Niemand hat gesündigt! Die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden.“
Wie sieht nun aber diese Offenbarung der Werke Gottes aus? Sind das die Wunder, auf die wir in der Not gerne warten? Wunder, wo Unmögliches möglich wird. Was ist jedoch mit all den Menschen, die im Leid leben, und Gott greift nicht ein und vollbringt ein Wunder? Oder greift Gott doch auf vielfältigste Weise ein, aber wir erkennen es nicht, da wir eine festgelegte Erwartungshaltung haben, wie Gott einzugreifen hat? Bei Johannes jedenfalls handelt Jesus. Nicht der Blinde muss um Heilung bitten. Jesus handelt völlig unaufgefordert. Er streicht einen Brei aus Spucke und Erde auf die Augen des Blinden und schickt ihn zum Teich Siloah. Der Blinde geht, wäscht sich und kehrt sehend wieder um. Bevor Jesus jedoch handelt, sagt er zu seinen Jüngern einen entscheidenden Satz: „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt“. Wir müssen handeln – unverzüglich! Wir dürfen uns nicht herausreden und alles auf morgen verschieben. Wir dürfen uns nicht vor der Verantwortung drücken, sondern handeln, solange es Tag ist.
Die anderen, denen der Blinde bislang begegnete, fragten immer nur danach, wie schlimm wohl die Sünden waren, denen er sein Leid zu verdanken hatte. Der Blinde wurde festgelegt: Er war ein Sünder – oder zumindest ein Kind von Sündern – und daher ohne jede Chance auf Heilung. „Wir wissen, dass Gott die Sünder nicht erhört; sondern den, der gottesfürchtig ist und seinen Willen tut, den erhört er.“ (9, 31) Wieso sollten sie also handeln? Für die Menschen war klar: Für den Blinden gibt es keinen Platz in der Gemeinschaft, denn Gott hat sich vom Blinden abgewandt. Warum sollten sie sich ihm dann zuwenden? Jesu erste Heils-Tat ist es, dass er dieses Muster durchbricht. Er sieht den Blinden! Er sieht in ihm keinen Sünder, sondern einen Menschen, der Zuwendung braucht. Leid hat nichts mit Sünde zu tun. Leid ist keine Strafe. Leid ist Leid. Leid bedeutet für die, die es wahrnehmen, dass wir handeln müssen und nicht erst lange drum herum reden und nach den Verantwortlichen suchen. Das macht Jesus durch sein ganzes Verhalten deutlich. Die zweite Heils-Tat ist es, dass Jesus ihn sehend macht. Damit schenkt er ihm nicht nur das Augenlicht. Er ermöglicht ihm eine neue Lebensperspektive. Er schenkt ihm das Licht des Glaubens an einen Gott, der sein Heil wünscht und ihn nicht verwirft. Jesus streicht ihm einen Brei aus Spucke und Erde auf die Augen und schickt ihn, sich zu waschen. Als Blinder geht er und als Sehender kommt er zurück. Der Blinde sieht das Licht, und er sieht sogar mehr. Er sieht, wer Jesus ist. Er begreift ihn im Glauben.
Die Pharisäer hingegen sehen das nicht, obwohl sie nicht blind sind. Sie regen sich über Jesus auf, da er dieses Wunder am Sabbat gewirkt hat. Sie fragen nach Sünde und Verfehlung. Sie fragen nach Recht und Gesetz. Was hier geschehen ist, darf in ihren Augen nicht sein. Die Pharisäer wollen nicht akzeptieren, dass es um Lebensperspektiven geht und Gott nicht aburteilen will, sondern sich für alle seine Kinder nur ein heilvolles Leben wünscht. Das alles verstellt ihnen den Blick darauf, das Licht zu sehen, das durch Jesus in der Welt ist. Der Blinde konnte das Licht hingegen bereits als Blinder wahrnehmen und annehmen: Warm und zärtlich wie die Sonnenstrahlen ist die Zuwendung Jesu. Es muss ein alles erhellendes Gefühl sein, dass da einer ist, der ohne viel Fragen einfach nur hilft. Wenn es jemandem schlecht geht, dann sind wir als Gemeinschaft gefragt. Da helfen Sprüche nicht, wie: „Das hast Du Dir selbst zuzuschreiben“ oder „Wie konntest Du denn in dieses Elend geraten?“ Vielmehr sind wir aufgerufen: „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt“. Einfach ohne große Fragen helfen – das ist ein Wunder, das auch wir wirken können, und so kann sich auf ganz einfache Weise Gottes Werk offenbaren. Vielleicht sind die Heilungs-Wunder, auf die wir manchmal warten, wenn wir im tiefsten Leid sitzen, gar nicht gleich so wie hier bei dem Blinden. Vielleicht fühlen wir uns schon viel „heiler“, wenn einfach mal jemand wahrnimmt, dass alles gerade ganz schlimm für uns ist. Vielleicht ist es auch schon ein echtes Wunder, wenn durch Gottvertrauen ein Perspektivwechsel möglich ist: Plötzlich können wir viel mehr sehen als vorher. Wir sehen mehr als das Leid, das unseren Blick verengt und uns nur auf uns selbst fixiert.
Von einer Frau möchte ich erzählen, deren Leben von klein auf durch Krankheiten belastet war. Bereits mit einem Jahr erkrankte sie an Kinderlähmung, im Laufe ihres Lebens erlitt sie mehrere Schlaganfälle. Diese Frau hat in ihrem Leben sicher viel gelitten. Beeindruckend, wie sie damit umging. Sie nahm es als etwas zu ihrem Leben Gehörendes an ohne jede Bitternis. Sie fand Heimat in der Diakonie. Dort hatte man ihr die Möglichkeit gegeben, ein ganz normales Leben zu leben. Nach ihrer Schneiderlehre lehrte sie in Einrichtungen der Diakonie andere Menschen das Nähen und gab ihnen damit eine Aufgabe. Sie war ein fröhlicher und frommer Mensch, liebevoll und voller Zuversicht. Wo andere Grenzen sahen, sah sie Möglichkeiten. Sie gab den Menschen um sie herum mit ihrem Gottvertrauen Mut. Ihre Behinderung empfand sie nie als Einschränkung. Gott hat hier kein Wunder vollbracht, wie wir uns ein Wunder vielleicht gerne vorstellen würden. Aber es ist ein Wunder, wie eine Frau, die ihr Leben lang mit Krankheiten und Einschränkungen leben musste, so ein gesundes und freies Leben führte. Ihr sind Menschen begegnet, die sie nicht in das gängige Bild einer behinderten und hilfsbedürftigen Frau eingeengt haben. Das Gegenteil war der Fall: Ihr wurde Selbstständigkeit zugetraut. Ihre Fähigkeiten und Gaben wurden erkannt und gefördert. Ihr Glaube und ihr Gottvertrauen strahlten wie ein helles Licht in die Leben vieler Menschen.
Das wunderbare Eingreifen Gottes, das Offenbaren seines Wirkens, nimmt nicht zwingend das Leid aus unserem Leben. Doch wenn wir uns auf den Glauben an Jesus Christus einlassen, dann wirft das ein neues Licht auf unser Leben, auf die Situationen, die uns das Leben schwer machen. Vieles, das uns zunächst dunkel und bedrohlich erscheint, wirkt im Licht, das Jesus Christus in unsere Welt bringt, nicht mehr so beängstigend. In diesem Licht tun sich neue Sichtweisen auf. Wir sehen die Dinge in diesem Licht anders als vorher. Noch etwas anderes passiert in diesem Licht. Durch dieses Licht sind wir, alle Menschen, aufgerufen, die Augen aufzumachen. Es gibt viel Leid auf dieser Welt zu sehen. Und es nützt nichts, wenn wir erst einmal nach den Verantwortlichen fragen und damit unnötig Zeit verstreichen lassen, in der wir hätten helfen können. Gott schenkt uns Heilung. Diese Heilung sieht nicht immer so aus, wie wir sie uns wünschen. Wir müssen sie nur erkennen, nur begreifen, was passiert. Immer sind wir selbst gefordert, den Blick nicht zu verengen, neue Betrachtungsweisen zu erkennen. Im Licht Gottes tun sich neue Blickrichtungen auf. Die Finsternis verschwindet zwar nicht für immer aus unserem Leben, aber sie ist längst nicht mehr so dunkel und bedrohlich, wie sie uns sonst erscheinen würde. Darum ruft uns der Wochenspruch auf: „Lebt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit“. (Epheser 5, 8b.9)
Das Eingangsbild der Predigt führt den Leser/die Hörerin sogleich in die Tiefe: Menschen gehen an notleidenden Menschen vorüber und sehen sie – aber nehmen sie nicht wahr. Denn uns Menschen beschäftigen oft eher die Fragen: Was hat der Notleidende verbrochen? Was ist der Sinn von Leid? Und damit haben wir den Notleidenden sitzen gelassen und sind die Verantwortung los demgegenüber, der uns eigentlich betroffen gemacht hat! Anders Jesus: Er be-handelt den Leidenden und ruft uns zu: Drückt euch nicht vor Eurer Verantwortung!
Die Autorin wirbt für einen Wechsel der Lebensperspektive, die „ein neues Licht auf unser Leben, auf die Situationen, die uns das Leben schwer machen, (wirft)“. Dann sehen wir anders, erkennen neue Sichtweisen – und, was das Wichtigste ist, wir lassen über der (durchaus interessanten) philosophischen Frage nach dem Leid keine Zeit verstreichen, „in der wir hätten helfen können“. Und somit dem Notleidenden ebenfalls eine neue Lebensperspektive hätten schenken können …
Der Schlussappell der guten und Geist-reichen Predigt ist Wunder-voll: „Lebt als Kinder des Lichts!“