In Beziehung bleiben
Lobrede auf das Gebet
Predigttext: Jakobus 5,13-16 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
13 Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen.
14 Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn.
15 Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden.
16 Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.
Gedanken zur Predigt
Der Jakobusbrief gilt als „stroherne Epistel“ (Martin Luther). Der vorliegende Abschnitt beweist das Gegenteil. Satz für Satz gibt hier einer weiter, was er als Erfahrung gesammelt hat. Wer selber Erfahrung mit dem Gebet hat, spürt wie lebensnah und wie berechtigt die Ermahnungen zum Gebet sind. Von daher ist es die beste Vorbereitung für die Predigt, die eigene Gebetserfahrung zu Rate zu ziehen und, angeleitet vom Jakobusbrief, zu erzählen, „wes das Herz voll ist“. Für mich hat dies bedeutet, mich im Gespräch mit dem Predigttext folgenden Fragen zu stellen:
- Wie ist das, wenn es einem schlecht geht: Was hält uns dann am Beten, und was lässt uns nachlassen im Gebet?
- Welche Bedeutung hat die Fürbitte anderer für unser Ergehen?
- Warum ruft auch die Freude nach Gott?
- Welche Berührungen könnten das Gebet noch vertiefen? Wie könnte das praktisch aussehen?
- Welche Erfahrungen habe ich mit der Krankensalbung?
- Warum fällt es mir manchmal so schwer, bei Kranken zu beten?
- Wann hab ich das letzte Mal vor den Ohren eines anderen meine Sünde bekannt?
Wie habe ich das erlebt?
- Wo habe ich es schon erlebt, dass ein anderer Mensch für mich um die Vergebung meiner Schuld bittet? Was hat das für mich bedeutet?
- Was traue ich meinem eigenen Gebet und dem Gebet anderer zu? Glaube ich, dass Gott hört und erhört?
Viele Jahre nach einer schweren Krankheit erzählt ein Mensch: „Ich fühlte mich wie amputiert. Ich hatte nicht mehr die Kraft zu beten. Ich war gar nicht mehr richtig Mensch“. Sein Gegenüber antwortet: „Das kann ich mir vorstellen.“ Beten zu können, besonders wenn es einem schlecht geht, hilft. Wobei es nicht ganz einfach ist zu beten, wenn es einem schlecht geht. Worum sollen wir denn bitten? Um Heilung? Um Kraft? Um den langen Atem der Geduld? Was aber, wenn die Heilung auf sich warten lässt und die Kräfte schwinden? Dann kommen Zweifel auf. Enttäuschungen belagern das Herz. Es ist dann nicht mehr so einfach mit dem Beten. Mancher wird dann zaghaft. Ein anderer verstummt. Wieder ein anderer rettet sich in die Klage. Noch ein anderer nimmt den Rest des Vertrauens zusammen, das ihm geblieben ist, und erinnert Gott an seine Verheißungen.
„Geht es jemandem unter euch schlecht, so bete er“, haben wir gehört, und ich glaube: Es ist gar nicht so wichtig, was wir beten. Es ist eigentlich nur wichtig, dass wir in Beziehung bleiben. Wenn wir es nicht können, dann eben ein anderer oder eine andere für uns. Beten hält in Beziehung. In Beziehung sein hält am Leben. Weniges hält uns so sehr am Leben, wie wenn wir mit anderen und mit Gott im Gespräch sind. Wie wir beten und was wir beten, ist nicht festgelegt. Abraham hat mit Gott gefeilscht. Hiob hat Gott sein Leid geklagt. Jesus hat seine Verzweiflung herausgeschrien. Am Jahrestag des 11. September werden noch immer viele Menschen ganz still. Am Jahrestag des 3. Oktober jubeln noch immer Menschen in ihren Herzen. Auch die Freude braucht ein Gegenüber. Der ist arm dran, der nicht weiß, wem er danken kann. Unser Predigttext erinnert deswegen daran: „Hat jemand Grund zur Freude, so singe er Gott ein Loblied“. Freude und Leid, Beides ruft nach Gott. „Ich möchte eine Freude mit dir teilen“, hat mir einmal ein Freund gesagt. Ich empfand das als etwas Besonderes. Auch für Gott ist es etwas Besonderes, wenn wir unsere Freude mit ihm teilen. „Geht es jemandem unter euch schlecht“, heißt es, „so bete er. Hat jemand Grund zur Freude, so singe er Gott ein Loblied“. Was dann folgt, ist uns Protestanten ein wenig fremd geworden.
„Ist jemand unter euch krank“, heißt es, „so rufe er die Ältesten der Gemeinde zu sich. Die sollen ihn im Namen des Herrn mit Öl salben und über ihm beten“. Selten, sehr selten werden wir als evangelische Christen zu Kranken gerufen, um sie mit Öl zu salben und über ihnen zu beten. (Ich selbst habe es noch nie erlebt.) Katholische Christen haben da eher ein Verhältnis dazu. Sie bitten schon mal den Priester zu sich. Wobei die sogenannte Krankensalbung von manchen mehr als ein Sterbesakrament verstanden wird, als ob es danach ans Sterben geht. Ursprünglich ist das so nicht gemeint. Im Jakobusbrief ist die Salbung mit Öl vielmehr so etwas wie ein vertieftes Gebet. Es geht nicht ums Sterben, sondern um die Rückkehr ins Leben. Was mich dabei bewegt, ist die Frage: Was würde denn passieren, wenn wir Protestanten wieder verstärkt anfangen würden, nicht nur zu beten, sondern auch zu berühren? Denn Salben ist Berühren. Soviel bin ich mir sicher: Wir kämen auch mit dem Christentum in eine andere Tiefe.
Berührungen gehen unter die Haut. Sie können ganz tief innen heilen. Wir Menschen sind nicht nur über das Ohr erreichbar. Wir sind auch über die Haut erreichbar. Weshalb Jesus, wenn er gebetet, geheilt oder sich Menschen zugewandt hat, all das oft mit Berührungen verbunden hat. Wobei ich glaube, dass wir uns dieser Form der Zuwendung nicht gleich in riesigen Schritten annähern müssen. Wir müssen nicht gleich mit dem Salböl anrücken und uns und andere mit dem, was uns fremd ist, überfordern. Aber ich erinnere mich sehr wohl an einen Krankenbesuch. Ich wollte schon wieder gehen und mich von dem Kranken verabschieden. Da sagte er zu mir: „Segnest du deine Kranken nicht, wenn du gehst.“ Ich bin damals erschrocken, aber seitdem frage ich, – nicht ob ich salben darf, das wäre in meinen Augen ein zu großer Schritt, – aber ich frage doch, ob ich den anderen segnen darf und segne ihn dann mit dem Kreuz. Ich weiß: Diese kleine Berührung mit dem Daumen auf der Stirn oder in den Händen bleibt zurück, wenn ich schon längst gegangen bin. Wobei natürlich auch die Worte zurückbleiben.
Die Verantwortung, die wir beim Beten haben, ist groß. Ich weiß nicht, ob jemand von ihnen schon einmal an einem Krankenbett gestanden hat und nach den richtigen Worten gesucht hat. Oft hilft das Vaterunser weiter. Nur: Manchmal wäre es doch gut, Worte zu finden, für die ganz besondere Not. Persönliche Worte. Bitten, die aufgreifen, wes das Herz des oder der Kranken voll ist. Voraussetzung dafür ist, dass wir vorher genau hingehört haben, dass wir uns im Gebet nicht über das hinwegsetzen, was den anderen umtreibt und bewegt. Es kann nicht sein, dass wir im Gebet versuchen, den anderen zu belehren oder ihm etwas aufzuzwingen und das noch mit Gottes Hilfe. Es kann aber sehr wohl sein, dass wir ihn an der Hand nehmen, ihn sozusagen über sich selbst hinausführen und in die Hand Gottes führen. Wobei es auch das gibt, was ich am Anfang gesagt habe. Dass jemand zu schwach ist zum beten und es ganz in unseren Händen liegt, für ihn vor Gott einzutreten. Ich habe es immer wieder gehört, dass Menschen das spüren. Sie spüren, dass andere an sie denken und sie vor Gott bringen. Sie spüren, dass andere ihren Namen, ihr Leid, ihre Hilflosigkeit vor Gott bringen. Gerade so fühlen sie sich so gehalten, aufgehoben, getragen. Es ist, wie wenn sie am Tropf unserer Gebete hingen.
Weshalb der Jakobusbrief nur das beschreibt, was ist, auch wenn nicht jeder darüber gesund wird: „Das Gebet des Glaubens wird den Ermatteten retten und der Herr wird ihn aufrichten“. Jetzt spricht der Jakobusbrief noch eine sehr heikle Frage an: Die Frage nach den Sünden, und er verknüpft sie mit einer für uns evangelische Christen ebenso heiklen Frage: Kann man für einen anderen um Vergebung bitten? Muss das nicht jeder selber tun? „Und wenn er Sünden begangen hat“, heißt es, „es wird ihm vergeben werden. Bekennt einander also die Sünden und betet füreinander. Viel vermag die Fürbitte eines Gerechten, wenn sie inständig vorgebracht wird.“ Vor den Ohren eines anderen über seine Sünde zu sprechen, ob man nun krank ist oder gesund, fällt oft schwer. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es immer stiller wird um unsere Sünde und Schuld. Nicht, weil es sie nicht gäbe, sondern weil wir manchmal gar nicht genau wissen, was unsere Sünde und Schuld ist. Manchmal tragen wir ein Leben lang Dinge mit uns herum und sprechen uns schuldig und wenn wir sie einem anderen erzählten, würde er uns fragen: „Wo ist da Sünde und Schuld?“
Manchmal ist es aber auch ganz anders: Etwas liegt uns schwer auf der Seele und verfolgt uns bis hinein in unseren Körper. Aber wir behalten es für uns, schämen uns, uns einem anderen anzuvertrauen, merken nur, wie es immer mehr Raum in uns einnimmt und immer mehr Macht über uns gewinnt. Ich kann Sie, ich kann uns alle nur dazu ermutigen, den Schritt zu wagen: Sich ein Ohr zu suchen, das hilft, unser Leben mit Gottes HiIfe neu auszurichten. Diese Neuausrichtung kann auch darin bestehen, dass wir einen anderen bitten, sich für uns vor Gott einzusetzen. Dieser Gedanke ist für uns Evangelische nicht leicht. Irgendwie sind wir gewohnt und halten das auch für richtig, dass jeder vor Gott für sich selber einstehen muss. Wenn überhaupt, dann haben wir in Christus einen Fürsprecher. Gleichzeitig ist es doch so: Wenn wir vor den Ohren eines anderen unsere Sünde und Schuld bekennen, warum sollte der dann nicht uns, mit dem, was uns bewegt vor Gott bringen? Dazu gehört auch: Unsere Bitte um die Vergebung unserer Schuld. Im Stundengebet der Kirche haben sich auch die evangelischen Christen etwas von dieser Praxis des Gebets bewahrt.
Im Nachtgebet der Kirche, der Komplet, betet erst einer: Ich bekenne Gott, dem Allmächtigen, und euch, Brüder und Schwestern, dass ich gesündigt habe mit Gedanken, Worten und Werken: meine Schuld, meine Schuld, meine große Schuld. Darum bitte ich euch, betet für mich zu Gott, unserm Herrn. Dann antworten die Anwesenden und bitten: Der allmächtige Gott erbarme sich deiner, er vergebe dir deine Sünde und führe dich zum ewigen Leben. Worauf der Erstere mit „Amen“ antwortet. „So sei es“. Liebe Gemeinde, was wir heute gehört haben, ist eine Lobrede aufs Gebet, ein flammender Appell, ihm etwas zuzutrauen. Was aber das Wichtigste ist: Was wir heute gehört haben, ist gebündelte Erfahrung. Gewachsen in guten und in schweren Zeiten. So kann nur einer reden, der weiß, wovon er spricht. -Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen.
Die eigene Gebetserfahrung zieht Pfarrerin Böhme mit neun Fragen vor der Predigt zu Rate. Zu Beginn stellt sie heraus, dass es weniger wichtig ist, was wir beten, wenn es uns z.B.schlecht geht. Wichtig ist, dass wir eine Beziehung zu Gott haben. Arm dran ist ein Mensch ohne Gottesbeziehung, der nicht weiß, wem er für sein Leben danken kann. Freude und Dank und Leid und Trauer rufen nach Gott. Dem Predigttext folgend spricht die Pfarrerin dann über das Thema: Kranken-Ölung und seelsorgliches Handauflegen bei Kranken. Sie empfiehlt uns Evangelischen, diese Praxis neu zu übernehmen. Neben dem Vaterunser sind persönliche Worte beim Gebet mit Kranken sehr hilfreich. Sie bergen aber auch in sich die Gefahr, daß wir dem anderen indirekt etwas aufzwingen. Auch das Gebet um Sündenvergebung und das Fürbittengebet von Menschen, die sich gegenseitig kennen, wird uns eindringlich neu nahegebracht. Der Predigttext und diese Predigt sind ein flammender Appell, dem Gebet etwas zuzutrauen. Sie bestärken unsere eigene Gebetserfahrung.