“In jedem ruht ein Bild …”
Menschliche Einbildung und Gottes Ein-bildung
Predigttext: Lukas 18,9-14 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
9 Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis:
10 Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.
11 Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.
12 Ich faste zweimal die Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. 13 Der Zöllner aber stand von ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig!
14 Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.
Exegese
Leo Baeck: „Die Sätze der Evangelien, die von den Pharisäern reden, sind nicht historisch zu bewerten.“ Die Pharisäer, in: L.B., Paulus, die Pharisäer und das Neue Testament, Frankfurt/a.M.1961, S.52; ebendort, S.54: „Josephus … sagt von ihnen, dass ‚sie eine hohe Ansicht von der genauen Erforschung des von den Vätern ererbten Gesetzes hatten".
Julius Schniewind: „Was fehlt den Pharisäern? … So ist es auch nicht ironisch gemeint, wenn Jesus von den Pharisäern widerholt als von den ‚Gerechten‘ redet (Mk 2,17; Lk 15,7; vgl.31f). Der ältere Sohn ist wirklich beim Vater geblieben (Lk 15,25ff), die Arbeiter im Weinberg haben des Tages Last und Hitze getragen (Mt 20,9ff), Simon der Pharisäer hat wirklich geringere Schuld als die große Sünderin (Lk 7,41ff), der Pharisäer im Gleichnis hat wirklich Opfer gebracht, Gott zu dienen (Lk 18,9ff). Aber aus dem allen machen sie einen Ruhm des Menschen, den eigenen Ruhm vor Menschen und Gott (Luk 16,15; 18,9ff; Mt 6,1ff); als wäre es nicht Gottes Erbarmen, das den Sohn an allem Gut des Vaters teilhaben ließ (Luk 15,31)“, in: J.Sch., Die Freude der Buße. Zur Grundfrage der Bibel, Göttingen, 1960, 2.Aufl., S.31.
Joachim Jeremias schreibt über den Pharisäer in Lk 18,9ff: „Weil er sich des positiven Urteils Gottes über sein Leben sicher ist, fragt er nur noch danach, wie die Menschen über ihn denken. Seine ganze Frömmigkeit ist einzig und allein darauf abgestellt, dass die Menschen ihn für fromm halten. So wird es zur Heuchelei (Mt 6,1-3). Und ebenso nimmt der Mensch, der zu gut von sich denkt, den Bruder nicht mehr ernst. Er hält sich für besser und verachtet ihn (Lk 15,25-32; 7,39)", in: Neutestamentliche Theologie. Erster Teil, die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1973, 2.Aufl., S.147f.
Gerhard Lohfink: „Jesus hat die Feindesliebe … nicht nur gelehrt. Er hat sie gelebt. Er hat sie gelebt in seinem Verhalten zu den damals Ausgegrenzten und gesellschaftlich Stigmatisierten – in seinem Verhältnis zu den ‚Zöllnern und Sündern‘ (Lk 7,34), den ‚Zöllnern und Prostituierten‘ (Mt 21.31), den ‚Räubern, Betrügern und Ehebrechern‘ (Lk 18,11). All diesen Gruppen fühlte man sich damals in Israel moralisch überlegen. Man verachtete sie im Namen Gottes, man ging ihnen aus dem Weg und mied, soweit das möglich war, den sozialen Kontakt mit ihnen. Jesus tut das Gegenteil und macht sie so zu seinen ‚Nächsten‘", in: G.L., Jesus von Nazaret. Was er wollte. Wer er war, Freiburg-Basel-Wien 2011, S.285f.
Paul Deitenbeck: „Unvergesslich bleibt mir, wie Professor Julius Schniewind, einer der prägenden Lehrer im Kirchenkampf des sog. Dritten Reiches, zu mir als jungem Vikar sagte: ‚Wissen Sie, was das Größte ist: Vergebung der Sünden!‘", in: P.D., „Ich lasse mich überraschen…, Ein Gang durch das Jahr, Neukirchen-Vluyn 1990, 5.Aufl. S. 55.
Ich beginne meine Predigt über dieses Gleichnis Jesu mit großer Scheu. Es ist so bekannt. So viele haben bereits über den Pharisäer und den Zöllner nachgedacht, geschrieben und gepredigt. Und dabei zeigt diese Geschichte Jesu messerscharf auf, wie der eine in verfehlter Weise glaubt und der andere demütig vor Gott steht und von ihm angenommen wird. Ein kurzer Vers vorweg. Vor etwa 350 Jahren dichtete der schlesische Mystiker Johann Scheffler, bekannt auch unter dem Namen Angelus Silesius:
„In jedem ruht ein Bild
des, was er werden soll;
solang er das nicht ist,
ist nicht sein Friede voll”.
Man kann sich über sich selbst etwas einbilden, und man kann über sich selbst das rechte Bild gewinnen.
Pharisäer
Jesus erzählt von zwei Männern. Der erste ist ein Pharisäer. Vor 80 Jahren veröffentlichte der hochangesehene jüdische Rabbiner Leo Baeck einen Aufsatz über die Pharisäer. Es ärgerte ihn, dass die jüdische Gruppe der Pharisäer für die Christen einen so schlechten Ruf hat. Und so legte er ausgiebig dar, wann die Gruppe der Pharisäer entstanden ist, was sie wollten und wie sie lebten. Es ist nicht zu bestreiten, dass diese Männer damals zur Zeit Jesu mit Gott leben wollten. Sie liebten seine Gebote und befolgten sie genau. Sie waren zur Hingabe und zum Opfer bereit, und sie verdienten, dass man sie beachtete. Die Pharisäer gingen regelmäßig in den Tempel; sie beteten; sie waren bereit, den Zehnten von allen Einkünften zu geben. Das Neue Testament erzählt von Pharisäern, die aller Achtung wert sind, z. B. von Nikodemus (Joh 3) von Gamaliel (Apg 5) und von den Pharisäern (Apg 15). Das Wort „Pharisäer“ darf als solches für uns kein Schimpfwort sein.
Was dieser Pharisäer aber hier, so wie Jesus ihn schildert, in diesem Gleichnis tut, wirft ein negatives Bild auf ihn. Was er vor Gott und den Menschen lebt, ist äußerlich alles so, wie es sein soll. Aber dieser Mann macht sich etwas vor. Er vergleicht sich mit dem Zöllner, den er hinter sich in den Tempel hat herein kommen sehen. Der Pharisäer tritt unübersehbar mitten im Tempel auf. Er fühlt sich hier zu Hause. Alle sollen mitbekommen, wie er betet. Er überhebt sich über diesen anderen Mann, der sich an die Brust schlägt und hinten im Halbdunkel der Tempelhalle stehen bleibt. Dieser Pharisäer bildet sich etwas auf seine Frömmigkeit und auf seinen Lebenswandel ein. Alle sollen es mitbekommen, wie er sich selbst sieht.
Zöllner
Und dann erzählt Jesus von einem, der auf herzzerreißende Weise den Zwiespalt in sich selbst wahrnimmt. Auch er ist ein Sohn Abrahams (Luk 19,9), wie der Oberzöllner Zachäus aus Jericho in dieser anderen Geschichte. Auch er ist ein Glied des Gottesvolkes. Irgendwo in seinem Innersten liebt auch er die Gebote Gottes. Auch in ihm steckt der Wunsch, Gott vertrauen zu können. Aber dieser andere Mann hat sich von den Römern als Zöllner anwerben lassen. Das sind zu Jesu Zeiten nicht verlässliche und nicht unbestechliche Beamte. Es sind Kollaborateure, die zu Handlangern der verhassten römischen Besatzer geworden sind, für sie hohe Steuern einkassieren und dazu kräftig in die eigene Tasche wirtschaften – genauso wie es vor 75 Jahren in Frankreich diejenigen Franzosen gab, die mit den deutschen Besatzern zusammenarbeiteten und sich in Frankreich verhasst machten.
Man kannte die Leute, die zur Zeit Jesu für die Römer arbeiteten. Verschämt betritt dieser Mann den Tempel; er bleibt hinten stehen und spürt in sich das heulende Elend. Er wagt es gar nicht, dem Pharisäer offen ins Gesicht zu sehen. In sich zusammen gesunken, ringt er um Worte und bringt dann heraus: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Er vermag es nicht, den Weg aus seinem Schlamassel heraus zu finden. Er kann nicht wieder in Ordnung bringen, was alles in seinem Leben verkehrt gelaufen ist. Er betet zu Gott, von dem er schon als Kind gelernt hat, dass er barmherzig ist. Er hatte alles so gut gemeint, und jetzt ist alles so verfahren. Meisterhaft zeichnet Jesus mit wenigen gut zu verstehenden Sätzen nach, welches Bild der eine und welches Bild der andere von sich hat. Und dann wagt es Jesus, auszusprechen, wie Gott über diese beiden denkt.
Gott nimmt diesen Zöllner an, der aus tiefster Seele darum bittet, dass Gott auch ihm gegenüber barmherzig ist. Aber diesem Pharisäer nicht, der sich selbst im Tempel etwas auf seine Frömmigkeit einbildet und der auf den Mann hinten im Tempel herab sieht. Eine Frömmigkeit, die zum Hochmut und zur Selbstsicherheit verleitet, ist eine fast hoffnungslose Sache. Hätte der Pharisäer nicht den Zöllner sehen, zu ihm hingehen und mit ihm verständnisvoll reden, vielleicht sogar beten müssen? Aber der Pharisäer hat nur sich selbst im Blick. Erinnern wir uns an das Gedicht des schlesischen Mystikers Johann Scheffler: „In jedem ruht ein Bild / des, was er werden soll; / solang er das nicht ist, / ist nicht sein Friede voll”.
Als der Zöllner im Tempel um die Barmherzigkeit Gottes bettelt, da hat er nichts, auf das er sich etwas einbilden kann. Er steht da mit leeren Händen. Sein Bild von ihm liegt in Scherben vor ihm. Er vertieft sich auch nicht in seiner Seele, um zu finden, woran er sich halten kann, wie die Mystiker es gerne versuchen. Nein, über ihm wird durch das Wort Jesu das Bild eines Menschen sichtbar, der trotz seiner Sünde von Gott angenommen und geliebt ist. Mit großer Klarheit hat Jesus es gepredigt und gelebt, was uns Menschen schon im 3.Buch Mose (19,8) gesagt ist: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”. So hat Jesus auch seine Gegner geliebt und gerade die damals Ausgegrenzten und Stigmatisierten, die „Zöllner“ und die „Prostituierten“. So sehr wurden sie in den jüdischen Städten und Dörfern verachtet, man ging ihnen aus dem Weg und mied die sozialen Kontakte mit ihnen. Für Jesus werden sie zu „Nächsten“. Er ist für sie da, für den Matthäus (Mt 9), für die Frau im Hause des Pharisäers Simon (Lk 7) und für die Frau in Sychar am Jakobsbrunnen (Joh 4), erst recht für die Ehebrecherin (Joh 8). Der Mann hat sich ja aus dem Staube gemacht.
Verklärt in Sein Bild
Immer wieder hat Jesus dies verkündigt und ist so gerade auf die Menschen am Rande, auf Männer, die sich zu Zöllnern haben machen lassen, auf Frauen, die zu Huren im Dorf geworden sind, zugegangen. Gerade ihnen hat er gezeigt, dass Gott sie liebt. Auch Paulus hat als Pharisäer diese umstürzende Liebe Gottes erfahren. Aus dem Verfolger der frühen Christenheit wird so der eifrigste Missionar. So kann er in den Korintherbriefen schreiben: „Wir werden verklärt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur anderen von dem Herrn” (2.Kor 3). Wo sich Menschen aus ihrem Innersten heraus nach diesem Bild sehnen, wo sie sich zusprechen lassen, dass Gott sein Ebenbild in ihnen erneuert, da finden sie Frieden mit Gott und mit sich selbst. Da können sie aus dem Elend ihres Lebens auf Gott schauen, der sie vor allem liebt.
Sehr originell und ehrlich beginnt Pfarrer Frische seine Predigt mit dem Hinweis, dass er wegen der Bekanntheit des Textes eine Predigt scheut. Nach einem Gedichtvers malt er dann klar und anschaulich den Pharisäer vor Augen. Er zitiert den Rabbiner Leo Baeck, der ein interessantes Plädoyer hielt für die in christlicher Tradition leicht diffamierten Phariäer. Jesus weist im Gleichnis auf die Gefahr aller sehr gerechten Menschen hin, selbstgerecht zu werden und unbarmherzig. Dann wird über den sündigen Zöllner gepredigt, der seine Sünde vor Gott bekennt. Jesus deckt auf, was Gott über beide denkt. Eine Frömmigkeit die nur zum Hochmut und Selbstsicherheit verleitet, ist eine fast hoffnungslose Sache. Aber Jesus hat auch ein Herz für alle gesetzlosen Sünder , welche um ihre Sünde wissen. Jesus liebt sie und die Pharisäer und zeigt ihnen Gottes Liebe. Paulus folgt später Jesus auf diesem Weg. Eine klare und schöne Predigt von Pfarrer Frische.- Um das sehr Vertraute heute neu zu sagen, möchte ich die moderne Psychologie hinzuziehen. Nach den bedeutenden Psychologen Fritz Riemann und Friedemann Schulz von Thun hat jeder Mensch in seinem Inneren Team der Seele vier Pole, welche sein Handeln bestimmen: Ordnung (Gebote) und Freiheit. Dazu liebevolle Nähe und notwendige Distanz. Wer seinen Hauptpol zu einseitig verstärkt, wird schuldig: Der Ordnungstyp wird rechthaberisch, eingebildet und unbarmherzig. Der Freiheitstyp überzieht seine Freiheit. Jesus als Vorbild lebt alle vier Pole im harmonischen Fließ-Gleichgewicht in der Seele und heilt uns so. Er liebt alle Außenseiter und gibt ihnen wieder eeine heile Seele und ein gutes Herz.