Inne halten
Wo soll es mit uns hingehen im neuen Jahr?
Predigttext | Jesaja 51,4-5 |
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Kirche / Ort: | Hohen-Sülzen/Wachenheim |
Datum: | 31.12.2024 |
Kirchenjahr: | Altjahresabend |
Autor: | Pfarrerin Dorothea Zager |
Predigttext: Jesaja 51,4-5: Jesaja lässt uns sagen: Hör mir gut zu, mein Volk, und pass auf! Denn von mir kommt Weisung. Bald mache ich meine Rechtsordnung zu einem Licht für die Völker. Meine Gerechtigkeit ist nahe, meine Rettung ist schon auf dem Weg. Mit starker Hand schaffe ich Recht unter den Völkern. Auf mich hoffen die Bewohner der fernsten Inseln. Sie warten darauf, dass ich meine Stärke zeige. Schaut hinauf zum Himmel und blickt herab auf die ErdeDer Himmel verweht wie Rauch, die Erde zerfällt wie ein abgetragenes Kleid. Ihre Bewohner sterben wie die Fliegen. Aber meine Hilfe wird niemals enden, meine Gerechtigkeit ist unerschütterlich.
Als exegetische Hilfe empfiehlt die Predigtautorin Dorothea Zager die Ausführungen von Alexander Weidner und Andreas Ohlemacher: https://www.die-bibel.de/ressourcen/efp/reihe1/altjahrsabend-jesaja-51
Haben Sie den Sekt schon kaltgestellt? Nur noch wenige Stunden trennen uns vom Jahreswechsel. Die Glücksbringer haben Hochkonjunktur – vom Marzipanschweinchen über das vierblättrige Kleeblatt bis hin zum Bleigießen, alles wird aufgeboten. Und wie in jeder Silvesternacht werden auch diesmal die Böller krachen und die Leuchtkörper den dunklen Himmel in schillernde Farben tauchen.
„The same procedure as every year“ möchte man mit Miss Sophie aus dem bekannten Sketch „Dinner for one” sagen. Jahr für Jahr betreiben wir rund um den Jahreswechsel herum den immer gleichen Aufwand.
Jedoch ehe wir die Korken knallen lassen, feiern wir Gottesdienst – und ich freue mich, dass Sie gekommen sind, um das mit mir zusammen zu tun. An der Schwelle vom alten zum neuen Jahr halten wir inne, schauen zurück auf das, was gewesen ist, und richten den Blick voraus. Und unser Blick ist nicht gerade zuversichtlich. Bange schauen wir zurück auf das vergangene Jahr. Und nicht weniger bange schauen wir nach vorne ins neue. Darüber können Sektkorken, Feuerwerksalven und Glücksbringer nicht hinwegtäuschen: Wir gehen unsicher und ängstlich in das neue Jahr. Wo soll es mit uns hingehen?
Die amerikanische Volk hat den gefährlichen politischen Brandstifter Donald Trump erneut zum Präsidenten gewählt, und wir halten die Luft an. Wohin wird diese unbedachte Wahl uns führen? Sie wird Auswirkungen haben auf das gesamte Weltgefüge. Wenn er Ernst macht mit Zöllen auf Importgüter, erwartet uns ein Handelskrieg. Wenn er Ernst macht mit seinem Vorhaben „Frack, frack, frack!“, dann wird unsere Erde unheilbare Wunden und Narben davontragen. Wenn er Ernst macht mit dem Ende des Ukrainekrieges „innerhalb eines Tages“, werden die Ukrainer 20 Prozent ihres Landes an Russland verlieren – und Putin wird sich damit nicht zufriedengeben. Wo soll es mit uns hingehen im neuen Jahr?
Jesaja lässt uns sagen: Hör mir gut zu, mein Volk, und pass auf! Denn von mir kommt Weisung. Bald mache ich meine Rechtsordnung zu einem Licht für die Völker.
Welche Zukunft steht unseren Kindern unseren Enkelkindern bevor? Sicher haben Sie auch die beiden Fotos gesehen, die in diesem Jahr zum UNICEF-Bild des Jahres gekürt wurden. Fotos von Kindern aus dem Gaza-Streifen – ihre Gesichter aber voller Schmerz, Angst und Verzweiflung. Man sieht ihnen die äußeren und inneren Narben an.
Welche Zukunft steht diesen Kindern bevor? Ohne Eltern, ohne ein Zuhause – ja sogar ohne ein eigenes Heimatland? Und wenn es bei uns hier in Deutschland auch um vieles, vieles besser steht, fragen wir uns bang: Welche Zukunft steht unseren Kindern unseren Enkelkindern bevor?
Jesaja lässt uns sagen: Hör mir gut zu, mein Volk, und pass auf! Meine Gerechtigkeit ist nahe, meine Rettung ist schon auf dem Weg. Mit starker Hand schaffe ich Recht unter den Völkern.
Der Südpazifik ist weit von uns entfernt. Und doch macht er immer wieder auf sich aufmerksam. Ich meine nicht durch das Erdbeben am 17. Dezember auf Vanuatu – tragisch genug, das dort wieder 14 Menschen zu Tode gekommen sind. Ich meine: durch den steigenden Meeresspiegel. Innerhalb der letzte 20 Jahre ist der Meeresspiegel um 15 Zentimeter angestiegen. Bis 2050 werden es 37 cm sein, wenn die Treibhausgasemissionen nicht sinken. Vanuatu liegt aber nur 90 cm über Normalnull. Es werden also – wenn sich nichts grundlegend ändert – über die Hälfte der Inseln untergehen.
Jesaja lässt uns sagen: Hör mir gut zu, mein Volk, und pass auf! Auf mich hoffen die Bewohner der fernsten Inseln. Sie warten darauf, dass ich meine Stärke zeige.
Wohin treibt unsere Erde? Wohin treiben wir Menschen? Wir brauchen keine dystrophischen Romane wie „Das dritte Herz des Oktopus“, um zu erahnen: Wenn wir nicht endlich reagieren und umdenken, wird es kein gutes Ende nehmen mit unserer Erde! Da können wir Jesaja auf ganzer Linie zustimmen:
Jesaja lässt uns sagen: Schaut hinauf zum Himmel und blickt herab auf die Erde! Der Himmel verweht wie Rauch, die Erde zerfällt wie ein abgetragenes Kleid. Ihre Bewohner sterben wie die Fliegen.
Das klingt furchtbar. Was wir da aus dem Mund des Propheten hören, macht in dieser Gemengelage nicht gerade Mut. Wenn wir das so hören, könnte man meinen: Die Menschheit macht genau das Gegenteil von den Verheißungsworten Gottes – genau das Gegenteil von dem, was Gott sich Gott von uns wünscht. Wo bleibt hier der Trost? Wo klingt hier wenigstens ein kleines bisschen Optimismus durch? Ja, selbst die letzten Worte dieses Textabschnittes klingen – gelinde gesagt – wie eine Vertröstung:
Aber meine Hilfe wird niemals enden, meine Gerechtigkeit ist unerschütterlich.
Diese Hoffnungsworte sind 2500 Jahre alt (Im „Deuterojesaja“, Jes 40-55, wird die Rückwanderung der Exulanten nach Israel wird nur erwartet, nicht als geschehen beschrieben, daher ist ein Kernbestand der Texte wohl vor 539 v. Chr. entstanden, wahrscheinlich in Babylonien.) – und unsere Erde taumelt am Abgrund mehr denn je – und noch immer ist nichts geschehen! Warum passiert denn nichts!? Warum schafft Gott denn nicht endlich Tatsachen und greift ein?
Ich möchte mit Ihnen in all diesen Zweifeln, in all dieser Unsicherheit des heutigen Abends einen mutigen Schritt gehen. Einen Schritt, der mit einem tiefsinnigen Wort von Friedrich Schiller beginnt:
„Dreifach ist der Schritt der Zeit: Zögernd kommt die Zukunft hergezogen, Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen, Ewig still steht die Vergangenheit“.
Ja, es stimmt: Das vergangene Jahr war ein schwieriges Jahr. Politisch, ökologisch und für manche und manchen von uns vielleicht auch persönlich. Aber dieses Jahr ist Vergangenheit. Ab jetzt ruht dieses Jahr ewig still im Vergangenen. Wir können einiges daraus lernen, verändern aber können wir es nicht mehr.
Gesetzt den Fall, wir lassen dieses Jahr einfach mal in der Vergangenheit ruhen. Aus dem Schönen, was gewesen ist, nehmen wir die Freude mit und die Kraft, die uns das Schöne geschenkt hat. Aus dem, was nicht gelungen war, nehmen wir mit, was wir in solchen Situationen in Zukunft besser machen können. Also Ermutigung, Umkehr, Erkenntnis. Alles andere lassen wir zurück. Lassen wir ruhen; denn „ewig still steht die Vergangenheit.“ Unverrückbar, unveränderbar – nicht aber ohne uns in der Gegenwart zu verändern.
Die Gegenwart ist der heutige Abend. Dieser Gottesdienst. Unser Zusammensein heute Abend mit Freunden oder mit der Familie. Das herunterzählen der Sekunden. Das Klingen der Sektgläser. Das Betrachten des Feuerwerks. Pfeilschnell wird dieser Augenblick vergehen – schneller noch als das Licht der Silvesterraketen verglüht. Diesen Augenblick können wir entweder so erleben, dass wir alles ignorieren und mit Partylaune wegdrücken, was uns ängstigt – oder so, dass wir voller Sorge hilflos und machtlos nach vorne sehen – oder so, dass wir diesen Augenblick positiv nutzen. Dass wir uns bewusst machen, dass Gott uns auch in diesem Augenblick begleitet, dass er niemals aufhören wird, uns zu lieben, und dass wir mehr können, als nur zu Klagen und zu Jammern: Wir können mit Gottes Hilfe das neue Jahr so gestalten, dass es ein gutes neues Jahr wird.
Wie gesagt – es ist nur ein winziger Moment! Er wird pfeilschnell entfliehen, wie jedes einzelne Jetzt, das wir erleben. Aber unsere innere Einstellung, die diesen winzigen Moment des „Jetzt“ erfüllt, ist ganz entscheidend für das, was kommt. Ob das neue Jahr, das uns bevorsteht, ein gutes wird, ist kein unabänderliches Schicksal. Wir sind den politischen Umständen, den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, den ökologischen Veränderung ganz gewiss nicht so ausgeliefert, wie wir es denken. Denn – was unsere Zukunft anbelangt – sind zwei Dinge grundlegend:
Zum ersten: Wir selbst entscheiden mit über unsere Zukunft.
Jede und jeder einzelne von uns hat nicht nur die Chance, sein eigenes Leben zu gestalten und zu verändern, sondern auch das Leben in unserer Welt und in unserer Gesellschaft. Sagt bitte nicht: „Ach, das ist doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Was kann ich kleines Menschlein schon tun, um die Welt zu verändern?“
Wenn alle so denken, tut sich tatsächlich nichts. Was wir sagen, was wir tun, wie wir reden oder wie wir denken, kann mehr bewirken, als wir uns zutrauen: Interesse und Anteilnahme an dem Geschick unserer Nächsten umfangen sie mit Herzenswärme, und liebevolle Gedanken umfangen Menschen, selbst dann, wenn sie fern sind. Und sie spüren es. Verantwortungsvolles Handeln hilft der Erde, den Tieren, den Pflanzen ja allen Menschen auf der Erde. Und sei unser Handeln noch so gering: unsere Erde spürt es. Mutige Worte, die Vorurteilen, Hass oder politischer Brandstiftung entgegentreten, macht deutlich, dass wir solche menschenverachtenden Äußerungen nicht tolerieren. Unsere Gegenüber werden es spüren – und die, die wir in Schutz nehmen auch.
Zum zweiten: Gottes Verheißung begleitet uns.
Mag ja sein, dass die Worte des Propheten schon 2500 Jahre alt sind. Gottes Sehnsucht, dass seine Gerechtigkeit endlich Gestalt annimmt auf unserer Erde und unter uns Menschen, ist aber noch immer brennend heiß und aktueller denn je. Und das Gute daran ist: Gott sehnt sich nicht nur danach. Er verheißt uns diese Gerechtigkeit nicht nur. Sondern er erfüllt uns und alle, die darum kämpfen, mit Kraft, damit wir in diesem Kampf niemals nachlassen.
Wissen wir wirklich, ob das neue Jahr, so schlimm wird, wie wir es befürchten? Wollen wir doch lieber daran glauben, darauf hoffen, mit Gottes Hilfe darum kämpfen, dass es ein gutes Jahr wird!? Ich gehe in dieses neue Jahr in der festen Gewissheit, dass so wahr die Vergangenheit als Vergangenheit ewig still ruht, so wahr das Hier und Jetzt pfeilschnell verfliegt, dass genauso wahr die Zukunft, die sich uns zögernd nähert, in Gottes Händen geborgen ist und sich durch unser Engagement gestalten lässt. Ich nehme diese Verheißungsworte aus dem Jesaja als Ermutigung mit in diese Nacht und in das neue Jahr. Und ich bitte Sie: Tun Sie es auch! Lassen Sie sich nicht beirren! Wenn die Sektkorken knallen und das Feuerwerk seine bunten Spiralen in den Himmel setzt, versuchen Sie in diesem kurzen Jetzt, diese wundervollen Worte im Ohr zu haben: „Habe ich dir nicht gesagt: Sei getrost und unverzagt? Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der Herr, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.“ (Josua 1,9)