Jesu Kreuz und unser Kreuz
Leid und Tod – unterschiederlicher Umgang und unterschiedliche Deutungen
Predigttext: Hebräer 5,7-9 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
7 Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. 8 So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. 9 Und da er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber der ewigen Seligkeit geworden.
Weit weg ist unser Denken von diesen Versen aus dem Hebräerbrief. 2000 Jahre verändern das Denken und auch das Glauben des Menschen. Sie verändern auch unser Bild von Gott. Unsere Vorstellung davon, wie wir Zugang zu Gott bekommen.
I.
Jesus ist gestorben. Und andere Menschen machen sich Gedanken darüber, wie es ihm wohl gegangen ist. Sie leben in unsicheren Zeiten. Der Glaube an den Gott Jesu ist zumindest verdächtig, wenn nicht gefährlich. Und sie erzählen von Jesus. Von den Tagen vor seinem Sterben. Von Jesu Gesprächen mit Gott ist die Rede. Gott als Ansprechpartner. Für seine Angst. Die sehr menschlich ist. Von seinen Tränen der Furcht vor dem Tod, den er am Kreuz erleiden musste. Und der Verzweiflung, wenn der Tod kommt und man ihm nicht entgehen kann. Allzu menschliche Empfindungen und Nöte. Wenn der Tod vor Augen steht. Und wenn alles vorbei zu sein scheint.
Mitten in der Passionszeit ein theologischer Text. Lehre über Jesus und Gott. Denn nichts anderes ist dieser Abschnitt aus dem Hebräerbrief. Ein Versuch der frühen Christen, das Leiden und Sterben Jesu zu deuten. Und es fällt uns schwer, das nachzuvollziehen. Nicht die Angst und die Tränen und die Verzweiflung. Das verstehen wir gut. Das ist allzu menschlich. Auch, dass er sich als letzte Instanz an Gott wendet, auch das ist nachvollziehbar. Aber das, was dann kommt. Die Deutung. Die ist doch weit weg von unserem Verständnis vom Kreuzestod Jesu. Jedenfalls dann, wenn wir es schaffen, uns von theologischen Paradigmen zu lösen. Und mit den Augen des Menschen des 21. Jahrhunderts auf den Kreuzestod zu schauen. Gehorsam sei das Geheimnis, sagt der Schreiber des Hebräerbriefs. Gehorsam als Geheimnis des Glaubens Jesu. Nur durch Gehorsam konnte er die Aufgabe erfüllen, die Gott ihm gestellt hat. Und das bedeutet, laut Hebräerbrief, dass wir, die wir Jesus nachfolgen sollen, diesen Gehorsam ebenfalls leben müssen. Schwierig.
II.
Schwierig ist schon die theologische Grundentscheidung: Jesus ist einen Opfertod an meiner Statt gestorben. Es gibt viele Theologen, die das nicht mehr sagen wollen. Die den Allgemeinplatz: „Ich wollte nie, dass Jesus für mich stirbt!“ sehr gut nachvollziehen können. Weil es unserem Denken von Schuld nicht entspricht, dass ein anderer etwa für mich büßen kann. Da muss ich schon selber gerade stehen. Oder die es ablehnen, Schuldgefühle zu entwickeln: „Für mich hätte Jesus nicht sterben müssen!“ Ich möchte nicht schuld sein an seinem Tod. Und ich kann das auch nicht nachvollziehen. So, oder so ähnlich hat es letztes Jahr in der Passionszeit der Theologe Nico Ballmann, einer der einflussreichsten Instagram-Theologen derzeit, formuliert. Er erreicht mit seinen Posts ein vorwiegend junges und kirchenkritisches Publikum. Und er stößt mit solchen Fragen auf eine gewisse Erleichterung gerade in der jungen Generation. Dass es die Aufgabe Jesu gewesen sein soll, für die Menschheit zu sterben. Diese Interpretation seines Kreuzestodes durch die frühe Christenheit – nicht nur im Hebräerbrief – stößt mehr und mehr auf Unverständnis. Und kann auch nicht mehr in noch so feinfühligen Predigten vermittelt werden. Jedenfalls nicht an unvoreingenommene kircheninteressierte Menschen.
Und noch schwieriger ist die Geisteshaltung, die bei Jesus angenommen wird: Es ist eine Gehorsamstheologie. Und sie widerspricht dem individualisierten Leben im 21. Jahrhundert diametral. Gehorsam braucht heute Einsicht und Zustimmung. Nicht blindes Folgen ist angesagt. Sondern Mitwirken an einer Lösung. Mitdenken. Und Entscheidungsfreiheit. Jesus als Vorbild für Gehorsam ist nicht mehr gefragt. Und darum fällt es in dieser Hinsicht auch so schwer, sich Jesus zum Vorbild zu nehmen. Für den Schreiber des Hebräerbriefes ist Jesus eine besondere Art von Hohepriester. Nicht einer, der ein Tier opfert, um Gott wohl zu stimmen. Sondern einer, der sich selbst opfert, um die Menschheit zu retten.
Wie geht man damit um? Man hört Worte, die ein moderner Mensch, wenn er ehrlich ist, nicht nachvollziehen kann. Man wird zu einer Geisteshaltung aufgefordert, die weder zeitgemäß noch für den heutigen Adressaten einer Predigt einleuchtend ist. Schwierig. Was ist Jesus dann in der Passionszeit noch für uns? Woran können wir uns orientieren?
III.
Ich glaube, der Anfang unseres Textes ist entscheidend. Hier ist Jesus ganz Mensch. Ihm ist der Tod angedroht. Er weint. Ihm sind Schmerzen angedroht. Er fürchtet sich. Ihm soll die Zukunft seines Lebens genommen werden. Er ist verzweifelt.
Nur hier können wir verstehen, nachvollziehen, mit leiden, ganz gleich, was wir von Jesus glauben, von ihm halten oder in ihm sehen, ganz jenseits aller theologischen Deutung seines Lebens und seiner Lehre. Natürlich haben die meisten von uns solch eine unmittelbare Todesbedrohung nicht erlebt. Zum Glück. Aber sprechen sie mit Menschen, denen eine schlimme Diagnose gestellt wurde. Hören sie zu, wenn jemand davon spricht, dass die Mutter, der Vater nicht mehr lange zu leben haben. Da hilft keine theologische Deutung. Da nützt kein Verweis auf Gehorsam: Schicksalsergebenheit und Demut. Das sind nachträgliche Deutungen des Kreuzestodes Jesu. Da wird er als das dargestellt, was die frühen Christen und Christen bis heute glauben: Dass er ein besonderer Mensch ist. Dass Gott in ihm auf der Welt wirksam war. So wirksam wie bei keinem anderen.
Und das zeigt uns, dass wir die Bibel sehr ernst nehmen müssen. Nämlich als ein Buch, in dem Menschen ihre Erfahrungen mit Gott und ihre Deutungen von Gott niedergeschrieben haben. Aber man lernt auch – und das ist genauso wichtig, wenn der christliche Glaube heute noch relevant sein soll – , dass man das unterscheiden muss. Und dass das auch die Aufgabe von uns, den Verkündenden ist: Wissen, wo in der Bibel Menschen Gott deuten. Wo sie eine Lehre über Gott, „Theo-logie“, niederschreiben. Und wissen, wo die Bibel tatsächliche innige Beziehung zu Gott darstellt: In Wünschen, Träumen, in Angst und Verzweiflung. In Sehnsucht und in Resignation. In Tränen und mit lachendem Gesicht. Menschen machen Erfahrungen. Und sie beziehen sie auf das, was sie glauben. Auf Gott. Genauso wie Jesus das getan hat. Hier liegt das Geheimnis des christlichen Glaubens. Dass jede Situation, jede Emotion, jede Erfahrung und jedes Erlebnis, ganz gleich ob positiv oder negativ, bei Gott einen Ansprechpartner hat. Bei dem man los werden kann, was bedrückt und schmerzt. Klagen. Und was gut ist und gut tut. Loben.
Es ist Passionszeit. Und vielleicht ist genau das das Gute an dieser Zeit: Dass Jesus so leidet wie wir alle leiden würden. Und dass genau das uns Zugang und Verständnis gibt für Gottes Zuwendung zu uns. Und dass wir selbst die Möglichkeit haben, dieses Leiden zu deuten. So wie die Menschen des Hebräerbriefs das Leiden Jesu gedeutet haben in ihrer anscheinend leidvollen Situation. Vielleicht deuten wir es anders. Vielleicht werden wir zornig und unduldsam und aufmüpfig. Und eben nicht gehorsam und geduldig. Aber all das hat bei Gott seinen Platz.
Jesus war in seiner Angst und seiner Verzweiflung ganz und gar nicht geduldig. Das bestätigen uns die Evangelien. Er wollte nicht sterben. Er wollte, dass der Kelch an ihm vorüber geht. Und er war verzweifelt. Weil er wusste, dass das nicht passieren wird. Und dennoch hat er seine Angst hinausgeschrien zu Gott. Und er wusste: ich darf meiner Verzweiflung Ausdruck verleihen. Er starb trotzdem. Man kann das als Gehorsam interpretieren, wie im Hebräerbrief. Oder auch als Opfer. Aber eben auch als einen Weg, wie Menschen mit ihrem Leid umgehen: Nämlich sich an den einen wenden, von dem noch Rettung zu erwarten ist: Gott!