Jesus von Nazareth – „Geboren von einer jüdischen Frau…“

Gefüllter Augenblick - Gott setzt neue Impulse zum Leidwesen der alten Ordnungen und aller Versklavungsmechanismen dieser Welt

Predigttext: Galater 4,4-7
Kirche / Ort: Johanneskirche / Heidelberg
Datum: 25.12.2013
Kirchenjahr: Christfest (1)
Autor/in: Pfarrer Professor Dr. Klaus Müller, Beauftragter der Evangelischen Landeskirche in Baden für das christlich-jüdische Gespräch

Predigttext: Galater 4,4-7 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

4 Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan,  5 damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen.  6 Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater!  7 So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott.

Liturgie

Psalm des Tages: Psalm 96
Das Wochenlied „Gelobet seist du, Jesu Christ“ (EG 23) betont in der 1. Strophe die Geburt „von einer Jungfrau“, steht also – mit Verlaub – zu Gal 4,4 in Spannung. Vorzuschlagen ist
„Gott liebt diese Welt“ (EG 409), obgleich die Formel „im Zenit der Zeiten“ auch nicht unbedingt die „Fülle der Zeit“ in Gal 4,4 trifft.
„Die ihr arm seid und elende, / kommt herbei, füllet frei / eures Glaubens Hände“ (EG 36,9)

 

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1.     „Geboren von einer jüdischen Frau und der Tora unterstellt“ – liebe Gemeinde, das ist die Weihnachtsbotschaft in nuce. Was der Apostel Paulus in eine bündige Formel fasst, entfaltet Lukas im Weihnachtskapitel seines Evangeliums gemäß dem Modell religiöser Frühsozialisation im Judentum: Die bis heute gültige Bestimmung im jüdischen Religionsgesetz lautet: Das Judesein entscheidet sich an der jüdischen Mutter. Jesu Geborenwerden von der jüdischen Frau Maria=Mirjam bestimmt von Anfang an sein Judesein. Maria hat offenbar verwandtschaftliche Bande nach Juda, also ins Gebiet um Hebron und Bethlehem. Jedenfalls ist sie zweifelsfrei als Jüdin ausgewiesen. Gemäß der biblischen Weisung (Lev 12,3) ist ein jüdischer Knabe am achten Tag nach der Geburt zu beschneiden; er empfängt damit an seinem Leib das Siegel der Zugehörigkeit zum Bund Gottes mit seinem Volk seit den Tagen Abrahams. Beschneidung ist die feierliche Hereinnahme des Kindes in den Bund Gottes mit seinem Volk; da hinein gehört Jesus von Anfang an und sein ganzes Leben lang.

Die Weihnachtsgeschichte des Lukas verbindet die Beschneidung Jesu mit der Namensgebung. Dies entspricht altem jüdischem Brauch, der sich aus dem 1. Mosebuch, Kap. 17 ableitet: Dort wird das Gebot der Beschneidung (V.12) verbunden mit der Namensgebung an Abraham und an Sara (V.15). Bei Abraham und Sara entsprachen die neuen Namen ihrer Lebensaufgabe; auch im Jesusnamen steckt schon der Sinn der Sendung Jesu: Jesus – Jehoschua – heißt: „Gott wird retten“. Jesus war der erste Sohn Marias. Die Hebräische Bibel (Lev 12) verpflichtet die Eltern und insbesondere die Mutter zur Auslösung des Erstgeborenen beim Priester, verbunden mit einem Taubenopfer. Nach den vorgeschriebenen vierzig Tagen ihrer Reinigung bringt die Mutter Jesus zum Tempel nach Jerusalem, um den Ritus der Auslösung zu vollziehen (Lk 2,22-24).

Und noch ein Schritt weiter: Das Kapitel bei Lukas über die Kindheit Jesu endet mit der Episode vom Zwölfjährigen im Tempel. Nach erfolgtem Unterricht in den heiligen Schriften wird (schon zu Jesu Zeiten bis heute) jeder dreizehnjährige Junge als Religionsmündiger auf ein voll verantwortliches jüdisches Leben verpflichtet. Er ist nun Bar-Mitsva, Sohn des Gebotes – seine religiöse Frühsozialisation ist abgeschlossen. Ich sehe die Erzählung vom zwölfjahrigen Jesus im Tempel in diesem Zusammenhang: Jesus befindet sich mit den Lehrern der jüdischen Tradition im Gespräch, in der Vorbereitung auf die selbstverantwortliche Religionsausübung. Die christliche Auslegung mag sich daran gewöhnt haben, an dieser Geschichte immer wieder die wunderhafte Überlegenheit Jesu und seine immense Verständigkeit zu betonen. Doch zunächst einmal wird von ihm berichtet, was von jedem Bar-Mitsva-Schüler gilt: Sie fanden Jesus unter den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte (V.46) – sie fragte. Seinen – mit einem Terminus der christlichen Tradition gesprochen – „Konfirmandenunterricht“ hatte er zu absolvieren; zugehört hat Jesus und die Glaubenslehrer Israels gefragt, weil er in ihren Traditionen zuhause sein wollte. So ist Jesu jüdisches Leben von Anfang an grundgelegt durch Geburt, Beschneidung, Namensgebung, Auslösung und Unterrichtung zum mündigen Juden. „Geboren von einer jüdischen Frau und der Tora unterstellt“ – die Kernbotschaft der Weihnacht nimmt uns ganz und gar mit hinein in die Sphäre Israels.

2.      „Als aber kam die Fülle der Zeit“ – von Zeit zu Zeit füllt Gott die Zeit mit der Qualität des Kairologischen, damit die Verheißung neue Nahrung gewinne. „Erfüllt“ wird in der Tat nicht die Verheißung so, dass sie nun an ein Ende gebracht wäre. Vielmehr wird chronos fruchtbar gemacht durch kairos: Mitten im Zeitenlauf bricht Gottes Stunde an. Die Weihnachtsbotschaft, das Kommen des Gottessohnes ist also auch nach Gal 4 nicht nach dem klassischen Schema „Weissagung und Erfüllung“ auszusagen. Jesu Kommen will nicht „Ende des Gesetzes“ sein, nicht „Ende der Geschichte“, sondern gefüllter Augenblick, in dem Gott neue Impulse setzt zum Leidwesen der alten Ordnungen und aller Versklavungsmechanismen dieser Welt.

Die Sendung des Sohnes in die Toratreue hinein, zieht ein zweifaches „damit“ nach sich: Für diejenigen, die bereits unter der Tora leben, bedeutet das Kommen des Sohnes etwas anderes als für diejenigen, die als „wir“ angesprochen werden: nämlich die Völkerchristen aus der nichtjüdischen Welt. Für die unter der Tora bereits lebenden Jüdinnen und Juden sieht Paulus unter dem Stichwort des „Freigekauftwerdens“ ein erneuertes Verhältnis zur Tora eröffnet (notabene geht es nicht um ein Freigekauftwerden von der Tora, sondern um ein Befreitwerden derer, die unter der Tora gelebt haben und weiterhin leben – das ist ein Unterschied!). Die nichtjüdische Völkerwelt demgegenüber sieht Paulus durch die Sendung Jesu aus der Versklavung an die Gesetze der alten Welt in ein Kindschaftsverhältnis versetzt. Dieses Kindschaftsverhältnis der heidenchristlichen Welt ist nun nicht durch die Tora vermittelt, wie der Apostel im Galaterbrief nicht müde wird zu verkündigen. Dass Paulus hier nicht die Linien vermischen will, zeigt Röm 9,4: demnach kommt Israel bereits qua Israel die Kindschaft zu; die nichtjüdische Völkerwelt hingegen wäre abgesehen von der Christusoffenbarung noch dem Götzendienst verhaftet (Gal 4,8). Kurzum: Nach Gal 4 erwächst für Israel aus dem Kommen Jesu ein erneuertes Toraverhältnis, für die Heiden aber ein Gottesverhältnis überhaupt. Die „jüdische“ Linie wird in den folgenden Versen 6 und 7 nicht mehr weiterverfolgt; es sind die „Kinder“ aus der Völkerwelt, die im Geiste Jesu Gott „Vater“ nennen dürfen. „Abba, Vater!“ Wir tun gut daran, die Kosenamen an dieser Stelle sparsam zu gebrauchen: „Abba“ ist aramäisch und heißt „Vater“ und nicht Daddy oder Paps. Jedenfalls sagen jene, die immer schon unter der Tora leben von je her zu Gott Vater – das zeigt ein einziger Blick in das Gebetbuch der Synagoge.

3.      Der Feier der Heiligen Nacht folgt am Morgen danach das Bedenken der Tragweite dessen, was geschehen ist. Dem „geboren von der Jungfrau“ in der Christnacht folgt tags darauf das „geboren von einer Frau“ aus dem jüdischen Volk, der Freude am Kind alsbald die Rede vom Beerben und Vererben. Der Geburt des Sohnes folgt tags darauf die Reflexion auf die Adoption derer, die zu ihm gehören. Ist die Heilige Nacht eher geprägt durch das „O seht in der Krippe im nächtlichen Stall“ (EG 43,2), so legt der heutige Christtag den Blick frei auf die Tiefendimension der weihnachtlichen Szene in der Erniedrigung des Gottessohnes:

Er äußert sich all seiner G’walt, / wird niedrig und gering /
Und nimmt an eines Knechts Gestalt, / der Schöpfer aller Ding.
Er wechselt mit uns wunderlich: / Fleisch und Blut nimmt er an /
Und gibt uns in seins Vaters Reich / die klare Gottheit dran. (EG 27,3+4)

Es sind vier Gesichtspunkte, die uns Paulus als in seinem Briefabschnitt anbietet, um das Kommen Christi besser begreifen zu können:
– Erstens: „geboren von einer Frau und der Tora unterstellt“ –  der Apostel betont das volle und wahre Menschsein des Gottessohnes; und dieses ist als Judesein erschlossen.
– Zweitens: Die Adoption der Völkerchristen zur Gotteskindschaft ist gleichzeitig die Konstituierung der Geschwisterschaft mit dem Gottesvolk Israel; wird diese Geschwisterschaft aufgekündigt, steht damit auch die Kindschaft auf dem Spiel.
– Drittens: Die Erben aus den Christen der Völker sind Miterben mit den Töchtern und Söhnen des Gottesvolkes. Hier gibt es nichts und niemanden zu enterben, sondern für alle alles zu gewinnen.
– Viertens: Nochmals zur Fülle der Zeit. Nach der Fülle der gestrigen Heiligen Nacht, prall gefüllt, vielleicht übervoll! Die einfache Wahrheit mag am Tag danach gut tun: „Wenn Gott zu dir kommen soll, dann musst du ganz leer werden. Willst du sprechen, so muss Gott schweigen. Soll Gott sprechen, dann musst du schweigen.“ Mystiker wie Johannes Tauler haben etwas verstanden von der Erfüllung, die unsere Leere voraussetzt. Wer aus dem Vollen schöpfen will, muss zuerst leer werden. Muss erst Kind werden. Erst wenn dieses Kind geboren ist, ist Weihnachten. Und dieses Kind wird dann zusammen mit jenem Sohn, der unser Bruder geworden ist, rufen: „Abba, lieber Vater!“

 

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Ein Kommentar zu “Jesus von Nazareth – „Geboren von einer jüdischen Frau…“

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Der Text von Pfarrer Prof. Müller ist eine sehr gelehrte und gute exegetische Vorbereitung auf eine Predigt. Im Zuge der heutigen und nach den Antisemitismus-Gräueln sehr berechtigten “hebräischen Welle” der evangelischen Kirche nach Prof. Moltmann, die mit Martin Luther begann, ist sie interessant und wichtig. Zu fragen ist, ob die Vater-Anrede Gottes nicht doch etwas sehr Christliches ist. 17 Aussagen gibt es dazu in der hebräischen Bibel und 261 im Neuen Testamet. Zu fragen ist auch, in welcher Gemeinde man diese gelehrte “Predigt” halten kann? Bitte belehren Sie mich.

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