Klagelieder
Klagelieder, Klagen der Volksgemeinschaft, gibt es im hebräischen Teil unserer Bibel nicht wenige: unter den Psalmen und auch sonst. Ein solches Volksklagelied aus der Geschichte Israels haben wir hier vor uns. Wann ist dieses Lied entstanden? Mir sind zwei mögliche Antworten begegnet: Entweder es entstand bald nach der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier unter den in Juda Zurückgebliebenen: Dann blicken die Beter verzweifelt auf das, was ihnen mit dieser politischen Katastrophe verloren gegangen ist. Oder es entstand wie die anderen Texte dieses dritten Teiles im Buch Jesaja einige Zeit nach der Rückkehr der Verschleppten aus der Verbannung: Der Wiederaufbau gestaltete sich schwierig, es gab wirtschaftliche Not, es gab Anfeindungen, politische Auseinandersetzungen… – Grund zur Klage.
Ich selber möchte heute weniger klagen, möchte mich eher tragen lassen von der Vorfreude, nicht allein auf Weihnachten, sondern adventlich auf den kommenden, neu kommenden, Herrn. Ich bin mir bewusst: In der Tradition unseres Glaubens gehört zum Advent auch das Gericht. Christus kommt auch als der Richter. Das will ich, das muss ich ernst nehmen. Mich bewegt eine andere Gefahr: In unseren Gesprächen auf der Straße, beim Einkaufen, in der Pause am Arbeitsplatz, nimmt das Klagen meist einen größeren Raum ein als das Hoffen. Nicht weil wir so pessimistisch gestimmt sind. Wir beklagen meist konkrete Erfahrungen: Was läuft uns nicht alles zuwider! Das Leben ist nicht einfach, und wir erleben Tag täglich, wie stark unser Zusammenleben von negativen Charaktereigenschaften bestimmt ist. Aber was darüber hinaus führt, die Hoffnungen, die Erwartungen, sind meist schwieriger zu benennen; denn was erwarten wir?
Tragfähige Hoffnungen
Welche Hoffnungen sind tragfähig? Was noch nicht ist, hat noch zu wenig Profil, zu wenig anschauliche Gestalt. Es kommt ja erst. Möglicherweise erklärt sich damit unsere Not mit dem Advent. Wir warten wie unsere Kinder auf den 24. Dezember. Das kann klar benannt werden, dieses Datum steht fest. Was aber erwarten wir vom kommenden Christus, vom wieder kommenden Herrn? Fragen Sie irgendjemanden: Auf was hoffst du? Wie wir alle wünscht sich die befragte Person mehr Frieden auf der Welt, mehr Gerechtigkeit, mehr Liebe. Doch wie könnte dieses Mehr aussehen? Was heißt das für mein, Ihr, unser Leben? Die Erfahrungen, die wir gemacht haben, sind daneben anschaulicher, aber tragen nicht das helle Licht der Hoffnung.
Dabei ist mir aufgefallen: In diesen Versen aus dem dritten Teil des Jesajabuches, diesem späteren Teil des Prophetenbuches, wird nicht nur geklagt; es werden Sehnsüchte formuliert: „Wo ist dein leidenschaftlicher Eifer, halte dich nicht von uns fern, kehre zurück um deiner Knechte willen“ (Einheitsübersetzung). Was uns Menschen gegenüber anderen Lebewesen auszeichnet, lässt sich verschieden bestimmen, auf jeden Fall gehört die Sehnsucht dazu. Sehnsucht und Hoffnungen: Ich strecke mich aus nach vorne, strecke mich aus ins noch unbekannte Land der Zukunft und male Bilder von meinem, von unserem Leben morgen und übermorgen. Ich habe eben gezeigt, wie schwierig das ist. Darum malt die Bibel die Zukunft meist mit Bildern aus der Vergangenheit aus: Das und das haben wir mit unserem Gott erlebt; hier und dort hat er uns geholfen. So erwarten wir seine Hilfe, sein befreiendes Kommen auch in der Zeit vor uns. Darum sind unseren jüdischen Geschwistern ihre heiligen Texte, unser Altes Testament, so wichtig: Hier steht, was sie mit ihrem Gott erlebt haben. Gott ist nicht am Ende, somit erwarten sie und wir mit ihnen sein Kommen neu in der Zeit vor uns.
Wir leben in einer Zeit, in der unseren Zeitgenossen zunehmend stärker die religiösen Erinnerungen verloren gehen, überall wird das inzwischen beklagt. Sie kennen die alten Geschichten der Bibel nicht mehr und auch nicht mehr das andere aus unserer Geschichte mit Gott. Wir erleben heute gesamtgesellschaftlich zwar keinen kämpferischen Atheismus. Vielmehr scheint unsere Zeit aus der christlichen Überlieferung ausgewandert zu sein oder Gott aus unserer Welt und aus unserem Alltag. Der Durchschnittszeitgenosse betont zwar, er glaube an irgendetwas, ohne Glauben könne man ja nicht leben. Aber dann hört es schon auf. Dieser Glaube hat sich losgelöst von seiner Grundlage. Dieser Glaube hat keine Vergangenheit mehr, und die Sehnsüchte richten sich nicht mehr auf Gottes Kommen und Wirken.
Als Gemeinde halten wir diese Erinnerung wach. Wir stellen uns Sonntag für Sonntag unter ein Wort aus der jüdisch-christlichen Überlieferung. Wir dürfen stolz darauf sein und spüren hoffentlich, was wir für uns damit gewinnen. Leider wirkt diese Treue zu unserer Überlieferung kaum missionarisch: Wen das alles nicht interessiert, der merkt nicht, welchen Gewinn wir davon haben. Möglicherweise kommt es aber in erster Linie gar nicht auf unsere Treue und unser Festhalten an, sondern auf unsere Sehnsüchte, Hoffnungen, Erwartungen. Möglicherweise unterscheidet uns das von so vielen anderen in unserer Umgebung: dieser Blick nach vorne, unser Weg hinein in einen offenen Horizont, der Glaube: Gott ist vor uns und darum gegenwärtig. Wir halten nicht am Überlieferten fest aus konservativer Haltung, wir hängen nicht am Alten, weil es alt ist. Wir schauen, welche Kraft in dem steckt, was uns überliefert ist, welche Dynamik ausgeht von dem, was geschehen ist. Wir sind erfüllt von der Erwartung: Aus dieser Kraft leben wir weiter.
Hoffnung aus der Erinnerung Israels
Israel hat sich die Erinnerung an große Ereignisse wach gehalten. Eine zentrale Rolle spielt unter diesen Erinnerungen der Auszug aus Ägypten. Als die babylonische Gefangenschaft zu Ende ging, wurde das zu einem erneuten Auszug aus der ägyptischen Sklaverei. Ebenso das Ende des Nationalsozialismus für moderne, gläubige Juden. Auch der Sinai mit allen seinen Naturwundern wurde zu einem solchen Zeichen: Wie Gott mit uns seinen Bund geschlossen hat, so schließt er neu mit uns seinen Bund für unsere Zukunft. Dem Gottesmann Elia erschien Gott nicht im Beben, nicht im lodernden Feuer, nicht im Donnern, in einer eher leisen Stimme ist ihm Gott begegnet. Auch unsere zentralen Erinnerungen, Weihnachten und Ostern, sind – trotz der Engel und des Sterns bei Jesu Geburt – alles andere als pompöse Geschehnisse, da spielt sich das Entscheidende von Gott her eher am Rande der sonstigen Ereignisse ab. Darum sollten wir in unserem Advent – mit dem Blick auf die kleinen und großen Zeichen in unserer Überlieferung – aufmerksam werden für die leise Stimme Gottes, dieses unscheinbare, ganz und gar nicht aufdringliche Aufleuchten von Gottes Zukunft.