Mit diesen Worten rückt Paulus die Möbel wieder gerade. Die sind nämlich in der Gedanken- und Glaubenswelt der Gemeinde in Kolossä ziemlich durcheinander geraten. Was ist schief gelaufen in dieser Gemeinde, die von Epaphras, einem Freund und Mitarbeiter des Paulus, gegründet wurde? Zunächst macht die Gemeinde einen guten Eindruck, und Paulus spart auch nicht mit Lob und Anerkennung im Blick auf den Glauben und die Liebe, die man hier findet.
Aber nach den freundlichen Worten zu Beginn des Briefes macht Paulus deutlich, dass er sich genötigt sieht, die Kernwahrheiten des christlichen Glaubens herauszuarbeiten und dadurch auch eine Abgrenzung gegenüber falscher Lehre vorzunehmen: Liebevolle, taktvolle Kritik mit intensiver Vermittlung christlicher Kernthemen. Paulus sieht die Gefahr, dass der Glaube durch philosophische und gesetzliche Einflüsse verwässert wird, einer Gefahr, der die Christenheit durch die Jahrhunderte bis heute ausgesetzt ist. Sie gilt es zu erkennen und abzuwehren.
Bei der Beschreibung solch negativer Tendenzen hält sich Paulus klug zurück. Aber die Leser seines Briefes haben sicher verstanden, worauf er abzielt. Dagegen rückt er Christus in den Mittelpunkt seines Verständnisses im Blick auf den Glauben. Da setzt er die entscheidenden Akzente. Unserem Predigttext entnehme ich drei Themen: 1. Neues Leben durch die Verbundenheit mit Christus. 2. Vergebung der Sünden durch das Geschehen am Kreuz. 3. Sieg über alle Macht des Bösen.
Ich greife das 2. Thema heraus: Vergebung der Sünden durch das Geschehen am Kreuz. Paulus illustriert dieses Thema mit dem Bild eines Schuldbriefes. Sünde und Schuld belasten das Zusammenleben von Familien, Völkern und Gesellschaften. Wir Deutschen können aufgrund unserer zum Teil schrecklichen Vergangenheit ein Klagelied davon singen. Dabei ist das Grauen nicht vorbei. Was sich in diesen Tagen im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern abspielt, erfüllt uns zu Recht mit großer Sorge.
Über die furchtbaren, barbarischen Auseinandersetzungen zwischen afrikanischen oder arabischen Volksgruppen brauche ich nicht weiter zu sprechen. Was uns da zu Ohren kommt, ist für unsere Gemüter fast unerträglich. Aber auch das, was in Nachbarschaften, ja in Familien an Schrecklichem geschieht, macht uns zuweilen sprachlos. Wie gut, dass es auch noch das Andere gibt: Vergebung und Versöhnung, Harmonie und Glück, Lebensfreude und Gelingen.
Wie gut, dass die Mächte des Bösen einen Gegenpol haben, eine starke göttliche Macht, die ihnen Paroli bietet. In einem schönen Kirchengebet bitten wir darum: „Herr, auf dich warten wir, dass dein Sieg alle Gewalten des Bösen zunichte mache“. Und wenn die ganze Welt noch nicht geheilt ist, so ist doch durch Christus und sein Opfer am Kreuz der Anfang gemacht für eine neue Welt, in der Friede und Versöhnung von allen anerkannte Grundlagen des Zusammenlebens sind. Da sind wir voller Hoffnung, weil wir dieser Zusage trauen, die von der Gemeinde dankbar besungen wird: „Der Schuldbrief ist zerrissen, die Zahlung ist vollbracht.“
Die Sehnsucht nach einem Retter, der die hässliche Kluft, die Sünde und Schuld reißen, hat die Menschen schon immer umgetrieben. In einer Sage wird berichtet, wie die Stadt Rom einst durch ein schweres Erbeben erschüttert wurde, dass ein tiefer Spalt zurückgeblieben war. Vergeblich bemühten sich die Bürger, ihn zu füllen. Da verkündigte ein Seher, der Abgrund werde sich erst dann schließen, wenn Rom sein Bestes opfere. Ein junger Ritter deutete dieses „Beste“ auf sein tapferes Herz und war bereit, sein Leben hinzugeben. Hoch zu Ross und in glänzender Rüstung sprengte er in den Schlund der Erde, der sich sofort über ihn schloss.
Es gibt einen noch schrecklicheren Riss als der in jener Sage beschriebene. Es ist die Zerrissenheit des Lebens. Die Bibel spricht zu Recht von Sünde. Die Kluft zwischen Gott und den Menschen, der Unfriede zwischen vielen Völkern, das Hadern mit schwerem Geschick, das Leid durch Krankheit, die Nöte durch Hunger und Kriege. Was haben die Menschen nicht alles versucht, um damit fertig zu werden, um diese Kluft zu schließen, um zum Frieden zu kommen. Sie gründeten Religionen, beklagten in ergreifenden Gesängen das verlorene Paradies und erfanden kluge Weltanschauungen. Überall wird das Verlangen nach Vergebung der Sünden, nach Auslöschen der Schuld hörbar. Durch die Jahrtausende hindurch brachten die Menschen blutige Opfer und gaben damit ihrem Wunsch nach Vergebung und Versöhnung Ausdruck. Umsonst.
Wenn es in der Menschheitsgeschichte Fortschritte gegeben hat, dann sind sie darin begründet, dass Gott Erbarmen mit uns hat und den auf uns ausgestellten Schuldschein zerrissen und ans Kreuz heftete. Ein starkes Bild. Paulus ist der Überzeugung, dass damit Neues in die Welt gekommen ist: Christen sind Bürger dieser neuen Welt, sie verändern sie zum Guten. Christen sind auferstanden aus dem Grab der alten, fruchtlosen Gesetzmäßigkeit und werden Zeugen und Gestalter einer neuen Wirklichkeit, die von Hoffnung und Zuversicht gekennzeichnet ist.
Ohne Stolz, ohne selbstherrlich zu werden, ohne Fehler zu vergessen, aber in Dankbarkeit und gesundem Selbstbewusstsein dürfen wir manches aufzählen, womit Christen die Welt positiv beeinflusst haben:
Grausamkeiten, früher oft fälschlich als gesunde Härte gepriesen, wurden als schändlich betrachtet. Der bisher zuweilen sanktionierte Kindermord als abscheulich deklariert und aus der Gesellschaft verbannt. Sklaven wurden befreit. Das Knüpfen sozialer Netze sowie Krankenpflege wurden Standart. Die Stellung der Frau wurde verbessert. Mitleid, früher als Fehler gebrandmarkt, wurde zur Tugend. Arbeit, oft als lästiges Übel oder sogar als Schande empfunden, wurde geadelt. Toleranz, vorher oft als Schwäche belächelt, wurde zum Maßstab für friedvolles Miteinander. Nächstenliebe, zunächst nur für den engen Kreis von Nachbarschaft und Familie vorgesehen, wurde ausgeweitet auf den „fernen“ Nächsten, ja auf die ganze Menschheit.
In allen Ländern und Gesellschaften, in denen Christen den Ton angeben, gibt es deutlich mehr Frieden und Glück als dort, wo der christliche Glaube nicht Fuß gefasst hat. Damit loben wir uns nicht selbst, sond ern preisen den, der uns teilhaben lässt an der Gestaltwerdung einer neuen, besseren Welt, die auf Christus gegründet ist. Wir vertrauen darauf, dass er seine Vorhaben zu einem guten Ende bringt. Von Karl Heinrich von Bogatzky (1690-1774) stammt das Gebet: “Du wirst dein herrlich Werk vollenden, der du der Welten Heil und Richter bist. Du wirst der Menschheit Jammer wenden,so dunkel jetzt dein Weg, o Heilger, ist. Drum hört der Glaub nie auf, zu dir zu flehn;du tust doch über Bitten und Verstehn”.