Körperlicher Geist – geistlicher Körper

Der Übergang muß vollzogen werden

Predigttext: Johannes 20,19-23
Kirche / Ort: Karlsruhe
Datum: 29.05.2023
Kirchenjahr: Pfingstmontag
Autor/in: PD Pfarrer Dr. theol. Wolfgang Vögele

Predigttext:
Johannes 20,19-23
(Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)

Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, da die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen. Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmt hin den Heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.

 

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Es bläst. Es ist Atem. Es ist Luft. Es ist Sauerstoff. Und es ist der Heilige Geist. Pfingsten kann ja zu ganz windigen und verblasenen Predigten führen. Die Windböen der Bilder erreichen dann nicht mehr den konkreten Alltag, die kleinen Hoffnungen und die große Müdigkeit, die Sorge um den teuren Einkauf und die fehlende Steuererklärung. Der Evangelist Johannes aber spricht ganz körperlich, lebenssatt und vollblütig. Bei ihm bläht Jesus die Lungenflügel und läßt die Jünger im Heiligen Geist zu Atem kommen.

I.

Leben braucht das Atmen, den Hauch, die Luftigkeit. Leben hängt vom Körper ab, es braucht den geschundenen, bewegungsarmen, übergewichtigen, geplagten, gestreßten, muskulösen, trainierten Körper. Es  braucht schwielige Hände und schmerzende Füße, rheumatisch erstarrte Gelenke. Es braucht Tast- und Spürsinn, braucht das rhythmisch pulsierende Herz und die verkalkenden Schultern; es braucht Leberflecke, scharfe Augen, gesunde Zähne. Körper, die leben, wollen bewegt und gepflegt sein. Konfirmanden müssen noch nicht so sehr darauf achten, die Älteren werden mit zunehmender Zahl von Untersuchungen bei Ärzten immer wieder darauf hingewiesen: Bewegen Sie sich! Ernähren Sie sich gesund! Cremen Sie sich ein, wenn Sie in die Sonne gehen! Tragen Sie eine Kopfbedeckung gegen die stechende Sonne.

Zeitgenossen interessieren sich für den lebenden Körper und traktieren ihn mit Schönheitsoperationen, Krafttraining und Botoxspritzen. Der tote Körper bleibt unbeachtet. Johannes der Evangelist interessiert sich dagegen gänzlich unmodern für den Körper des auferstandenen Jesus. Der Evangelist hat verstanden, daß der auferstandene Jesus nicht einfach in seinen vorherigen Körper zurückkehrt. Und dieser stirbt dann nicht ein zweites Mal. Der neue, verwandelte Körper des Auferstandenen wird in den Himmel aufgenommen. Also muß er anders beschaffen sein als der Körper von Menschen, die noch sterben werden. Es entsteht ein Problem: Die Jünger erkennen den Auferstandenen gar nicht, zumal sie sich aus Furcht vor Übergriffen verängstigt eingeschlossen haben. Also betont Johannes der Evangelist als erstes die Kontinuität.

Der auferstandene Christus trägt Erinnerungsmale der Vergangenheit. Er zeigt Hände und Füße vor, gebrandmarkt mit den Wunden der Kreuzesnägel. Und er zeigt die Stelle an den Rippen, wo ein römischer Soldat ihn mit dem Speer verletzt hat, weil er prüfen wollte, ob er schon tot war. Die Jünger erkennen den Auferstandenen an den alten, vernarbten Wunden seines Körpers. Der Auferstandene erinnert sichtbar daran, daß er gefoltert wurde, daß die Menschen ihn am Kreuz zu Tode gequält haben. Kein Wort hier vom Wunderheiler, vom Prediger, vom Messias, der die jubelnden Massen angezogen hatte. Die Jünger erkennen ihn nicht an seiner Stimme, nicht an seinem Gesicht, nicht an seiner Statur. Entscheidend ist, daß der Auferstandene seine Nachfolger daran erinnert, daß er gequält und ermordet wurde. Es bleibt etwas Rätselhaftes, Geheimnisvolles um die Auferstehung. Aber diese Geschichte ist nicht dazu da, das Wunder von Ostern zu erklären. Johannes der Evangelist verfolgt andere Zwecke.

II.

Johannes will die Jünger auf die Zeit der Abwesenheit vorbereiten, in der Jesus sie nicht mehr trösten und aufrichten kann. Diese Vorbereitung hat Jesus schon zu Lebzeiten begonnen, als er den Jüngern vor seiner Verhaftung, Verurteilung und Kreuzigung eine lange Trostrede hielt. Was sich den Jüngern in die Herzen brannte, war die folgende Botschaft: Wenn ich nicht mehr bei euch bin, wird mich ein Tröster ersetzen. Und dieser Tröster wird der Heilige Geist sein. Für Johannes ist nach der Auferstehung der Zeitpunkt gekommen: Der Übergang muß vollzogen werden. Nach dem Johannesevangelium wird Jesus zum Vater zurückkehren. Und die Jünger, die Menschen heilen, Seelsorge betreiben und Gemeinden gründen, können auf Kraft, Hilfe und Trost des Heiligen Geistes rechnen. Das sind die beiden typischen Bewegung des Johannesevangeliums. Gott, der Vater sendet Jesus, und Jesus sendet die Jünger. Gott, der Vater nimmt Jesus wieder zu sich. Und Jesus spendet umgekehrt den Jüngern den tröstenden Geist. Die beiden Bewegungen ergänzen und verstärken sich.

Auf den Akt des Stiftens und Spendens kommt es an. Jesus erklärt nicht einfach: So ist es. Sondern er kommt den Jüngern körperlich entgegen. Im Predigttext heißt es: Jesus bläst die Jünger an. Die Corona-Epidemie, die letzte Grippewelle und die Schnupfenflut im Kindergarten sind uns allen noch in zu guter Erinnerung, als daß wir nicht wüßten. Anblasen geht gar nicht. Das gilt als eher unhöflich, es kommt der Atem des anderen zu nahe. Johannes erklärt nicht, wie genau Jesus das gemacht haben soll. Wir wissen, daß körperliche Gesten gerade im Johannesevangelium das Handeln Jesu prägen. So hat Jesus einen Blindgeborenen wieder sehend gemacht, indem er einen Brei aus Spucke aufgetragen hat (Joh 9,1-41). Anderen Kranken hat er die Hände aufgelegt. Anhänger und Freunde Jesu essen und trinken gemeinsam: Brote, Fische, Krüge von Wein. Das ist im Evangelium ein Zeichen besonderer Gemeinschaft. Bei Paulus heißt es, daß die Gemeindeglieder sich mit dem „heiligen Kuß“ (Röm 16,16) küssen. Händeschütteln, wenn das in der Antike überhaupt üblich war, reicht für Christen nicht aus. An Pfingsten bläst der auferstandene Jesus trotzdem, er hat keine infektiologischen Bedenken. Der Heilige Geist läßt sich nicht zu diesem abstrakten, unsichtbaren Etwas verdünnen, zu dem ihn philosophierende Theologen oft gemacht haben. Der Heilige Geist ist Atem und Atmen. Und dieses Atmen bereichert und ergänzt all das Umarmen, Küssen, Essen, Handauflegen und Berühren. Glauben im Johannesevangelium ist eine körperliche, ja körperlich sichtbare Bewegung. Jeder kann sie fühlen und spüren. Der Heilige Geist hält den Körper fit und am Leben, auch wenn er verwundet, verletzt und geschunden ist.

Jesus spricht zu den Jüngern: „Nehmt hin den Heiligen Geist!“ Und hier nun erkennen die Jünger eine zweite Kontinuität im Leben Jesu vor und nach dem Kreuz. Der, der den Heiligen Geist nun ‚anbläst‘ und spendet, ist auch der, der von ihm schon als Tröster und Gemeinschaftsstifter gesprochen hat. Das Kreuz ist nicht zu verstehen: Gewalt, Schmerz und Leiden sperren sich gegen jede verharmlosende Deutung. Es macht den unheimlichen Riß deutlich, der die Welt durchzieht. In Auferstehung und Geist hat Jesus diesen Riß überwunden.

Allein kann niemand überleben. Schon Babies brauchen die Mutter, die sie stillt. Die Mutter sorgt für Nahrung und Schutz. Konfirmandinnen und Konfirmanden brauchen Kumpels, Freundinnen und Freunde, mit denen sie reden und an denen sie sich orientieren. Erwachsene Männer und Frauen brauchen Partnerinnen und Partner, mit denen sie zusammen eine Familie oder Partnerschaft gründen. Und die Notwendigkeit von Partnerschaft und Gemeinschaft reicht bis auf die politische und gesellschaftliche Ebene: Daß alte Menschen eine Rente bekommen, hängt von einem Generationenvertrag der Älteren und Jüngeren ab. Krankenversicherung beruht auf einem solidarischen System gegenseitiger Hilfe.

III.

Der Heilige Geist stiftet nicht nur (christliche) Gemeinden, sondern weitere Gemeinschaften. In ihnen unterstützen sich Schwache und Starke gegenseitig. Wechselseitige Hilfe, wechselseitige Seelsorge, wechselseitige Erbauung. So wird der Heilige Geist zu demjenigen Tröster, den Jesus den verängstigten Jüngern angekündigt hat. Das meiste, was ich genannt habe, beruht auf wechselseitigem Sprechen und Zuhören. Wer spricht, kann das nur tun, weil und wenn er atmet. Nur mit Hilfe des Atems bewegen sich die Stimmbänder, aus deren Schwingungen Töne, Wörter und Sätze. Auch in dieser Hinsicht ist der Heilige Geist nur ganz körperlich zu erfahren. Wer andere Menschen trösten, sie auferbauen, ihnen predigen oder sie taufen will, der muß notwendig sprechen. Der Tröster, die Predigerin, der Täufer sie sprechen mit Kraft und Atem des Heiligen Geistes – ganz körperlich und ganz geistlich.

Am wichtigsten aber, auch das sagt der Evangelist Johannes, sind Atem und Sprachkraft des Heiligen Geistes, um das Wort der Sündenvergebung zuzusprechen. In der Predigtgeschichte erteilt Jesus den Jüngern und allen, die ihnen nachfolgen, ausdrücklich die Vollmacht, Sünden zu vergeben und Versöhnung zu ermöglichen. Was ist damit gemeint? Der Aufbau von Gemeinschaft und gutem Leben kann auch scheitern. Menschen stellen ihre eigenen Interessen über das Gemeinwohl, suchen lieber nach ihrem eigenen größeren Vorteil als auf die Nebenleute zu achten. Das steckt unausrottbar in uns allen. Die Bibel spricht darum von den Menschen als Sündern. Ihren Höhepunkt findet diese Sünde darin, daß sich Sünder nicht nur von ihren Mitmenschen, sondern auch von Gott abwenden. Sünde ist zugleich Unmenschlichkeit, Unbarmherzigkeit und Unglaube. Sünder werden an ihren Mitmenschen und an Gott schuldig. Sie bleiben hinter dem zurück, was ihnen als Aufgabe der Rücksicht und der Barmherzigkeit gestellt ist. Das ist die bittere gegenwärtige Wirklichkeit des Menschen genau wie das Kreuz, Schmerz und Leid bittere Gegenwart ist.

Die Jünger erhalten mit Atem und Kraft des Heiligen Geistes die Vollmacht, solche Sünden zu vergeben. Das Verhältnis der Menschen untereinander und das Verhältnis der Menschen zu Gott wird mit dem Atem des Heiligen Geistes auf eine neue Grundlage gestellt. Menschen, die schuldig geworden sind, tendieren dazu, ihre Schuld zu vertuschen, nicht darüber zu reden und so diese Schuld in sich hineinzufressen. Dort, im tiefen Innern der Seele, wirkt sie sich aber um so verheerender aus. Deswegen brauchen schuldig gewordene Menschen das Wort von der Sündenvergebung. Es hebt den verhängnisvollen Kreislauf der Schuldverstrickung auf. Es macht Menschen wieder fähig, sich neu und konstruktiv auf Gemeinschaft und Solidarität, aber auch auf den Glauben an Gott einzulassen.

Menschen brauchen darum Sündenvergebung wie sie das Atmen brauchen, den Kreislauf von Ein- und Ausatmen. Dieser Atem verbindet sich seit Pfingsten mit dem Heiligen Geist. Zuspruch und Leben in der Vergebung der Sünden – das ist der Atem des Heiligen Geistes, aus dem Gemeinden und Glaubende leben. Dieser geistliche Atem öffnet Türen. Er macht Freude. Er erleichtert, denn er befreit von schweren Lasten und Schuldgefühlen. Er macht das Leben leichter, beschwingter, freundlicher. Er legt eine Spur des Glaubens zu Gott. Damit ist das Elend der Welt, von Gebrechen und Sterben, von Bürgerkriegen bis Hungersnöten, nicht beseitigt. Aber in das Geflecht der Welt ist eine neue Spur gelegt, die den Menschen Hoffnung und Kraft gibt auszuhalten, durchzustehen und Trost zu finden. Jeder und jede kann das körperlich spüren: in neuer Kraft zu atmen, in neuer Haltung, nämlich aufrechtem Gang, in freundlichem Blick und Lächeln, das dem Nächsten und der Nachbarin gilt. Glauben lebt, im wahren Sinn des Wortes. Und er atmet.

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