Krippe und Kreißsaal

Ein Fenster zur Ewigkeit

Predigttext: Lukas 1,26-33.38
Kirche / Ort: Karlsruhe
Datum: 19.12.2021
Kirchenjahr: 4. Sonntag im Advent
Autor/in: PD Pfarrer Dr. Wolfgang Vögele

Predigttext: Lukas 1,26-33.38 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)

Und im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth, zu einer Jungfrau, die vertraut war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau hieß Maria. Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das? Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm  den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.

(Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Mann weiß? Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden. Und siehe, Elisabeth, deine Verwandte, ist auch schwanger mit einem Sohn, in ihrem Alter, und ist jetzt im sechsten Monat, von der man sagt, daß sie unfruchtbar sei. Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich.)

Maria aber sprach: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast. Und der Engel schied von ihr.

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Fünf knappe Tage bis zum Heiligen Abend: In der Küche kühlen die Vanillekipferl auf dem Blech ab, im Schlafzimmerschrank warten die Geschenke darauf, in Papier mit goldenen Sternen und Schneekristallen eingepackt zu werden. Hausfrau und Hausmann legen lange Listen an, was zu tun ist und teilen die Arbeit auf. Kleine Probleme werden rigoros mit der Säge erledigt: Der Tannenbaumstamm paßt wie jedes Jahr nicht in den Christbaumständer. Die Bibel wird bereitgelegt, um am Heiligen Abend die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium vorzulesen. Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ (Lk 2,14) Vor dem Jubel breitet sich der Streß aus wie zähe Plätzchenteigmasse.

I.

Darüber geht unter, daß an Weihnachten auch eine ganz normale Geburt gefeiert wird. Nach 36 Wochen Schwangerschaft setzen die Wehen ein, und Maria gebiert wie viele andere Mütter einen hoffentlich gesunden Jungen, ein Mädchen oder sogar Zwillinge. In Deutschland ist, wie alles andere, genau abgegrenzt, was unter einer normalen Geburt zu verstehen ist, nämlich eine physiologische Geburt, die spontan beginnt, sich im effektiven Rhythmus zwischen Wehen und Wehenpausen von alleine entwickelt und somit ohne fremdes Eingreifen der Muttermund öffnet, das Kind durch unwillkürlichen Pressdrang geboren wird.“ Dazu paßt oder paßt nicht die Geschichte der Ankündigung der Geburt Jesu. Nur Lukas erzählt sie.

Maria erschrickt zuerst über den Engel, dann über seine Ankündigung, daß sie schwanger werden wird. Eine Frau, die in der Gegenwart vermutet, schwanger geworden zu sein, nutzt ein Teststäbchen aus Plastik und wartet nach dem Aufsuchen des Badezimmers darauf, daß sich ein schwarzer Strich zeigt oder nicht. Über Maria schreibt Lukas: „Sie erschrak über die Rede (des Engels).“ Erschrecken über all das Neue, was durch die Geburt in das Leben einer Familie kommt, gehört zur Schwangerschaft, aber eben eingebettet in Vorfreude, Überraschung, Erleichterung, Staunen und Hoffnung. Heutzutage können werdende Väter und Mütter Schwangerschaftsratgeber konsultieren. Der Untertitel eines dieser Bücher lautet, mit einer gehörigen Portion Ironie: „Im Zentrum meines Universums wirds eng.Aus Zweisamkeit wird Dreisamkeit oder noch mehr.

Marias Verkündigungsengel und der Plastikstreifen zum Nachweis des Schwangerschaftshormons haben eine Reihe von Gemeinsamkeiten. In der Vorfreude auf das Kind spiegelt sich schon der Moment der Geburt, der Augenblick, in dem das neugeborene Baby zum ersten Mal Atem holt und schreit.

Neues menschliches Leben kündigt sich mit einem Schrei an. Die Musik der Geburt ist auf eine schrille, alarmierende Tonlage gestimmt. Das gerade geborene Baby, das noch an der Nabelschnur hängt, fängt an zu plärren, zu wimmern, zu krähen. Die schon geborenen Älteren, die alle um dieses Baby herumstehen, die Hebamme, der Vater, die Mutter, die gerade entbunden hat, die Frauenärztin und vielleicht eine Freundin, sie alle warten auf diesen ersten Schrei des Lebens, und manchmal muß die Hebamme dem Kleinen dafür einen Klaps auf den Hintern geben.

Der Schrei des Lebens gibt das Signal für die Loslösung von der Mutter. Die Versorgung mit Sauerstoff durch die Nabelschnur wird unterbrochen. Das Baby fängt an, selbständig zu atmen. Wer atmen kann, kann auch schreien. Die Umkehrung ist wichtiger: Wer schreit, der atmet. Und wer atmet, lebt. Der Schrei sagt: Ich bin da. Jemand muß sich um mich kümmern. Der erste Schrei erfreut die Ohren der besorgten Eltern. Das Kind singt die Ouvertüre zu seinem bevorstehenden Leben. Der Lebensweg beginnt mit einer geschrieenen Eröffnungsfanfare.

II.

Egal ob das Jesuskind in der Krippe geschrien hat oder nicht: Die Ankündigung des Engels, Maria werde ein Kind gebären, macht aus seiner Geburt etwas Besonderes. Der dort in Bethlehem geboren wird, ist wahrer Gott und wahrer Mensch, beides zugleich. Göttliches und Menschliches mischen sich miteinander. Schon bei der Verkündigung an Maria drängt sich dieser Eindruck auf. Ein Engel erscheint der jungen Frau. Er müßte gar nichts sagen, der Engel. Seine Erscheinung genügt, und alle Betrachter wissen: Es wird etwas Wunderbares geschehen.

Die Geschichte der Ankündigung läßt sich in zwei Bildern lesen. Die Geburt Jesu, ja die gesamte Weihnachtsgeschichte wird zum Fenster und zum Spiegel. Sie ist ein Fenster, weil sie schon in den ersten Erden- und Lebenstagen Jesu den Blick weit öffnet, auf die Perspektive des Göttlichen. Sie ist ein Spiegel, weil die Geburt Jesu nicht anders verläuft als andere menschliche Geburten auch. In der Geburt des Heilands spiegeln sich alle Geburten: Jungs, Mädchen, Zwillinge.

Die Weihnachtsgeschichte öffnet ein Fenster zur Ewigkeit Gottes. Der Engel kommt zu Maria, er verkündigt ihr die Geburt, ohne „von einem Mann zu wissen“. Es geht hier allerdings nicht um medizinische Diagnose oder Mirakel, sondern um Glauben. Dieses Kind wird so wunderbar und großartig sein, das kann nicht von einem Mann gezeugt worden sein. So dachten darüber die alten Theologen. Dieses Großartige kommt schon in der Ankündigung der Geburt zum Ausdruck. Die Weihnachtsgeschichte wird dem eine Fülle von Details hinzufügen: der richtungsweisende Stern, die himmlischen Heerscharen, die demütigen Hirten, Kistchen mit Gold, Weihrauch und Myrrhe,Geschenke der Weisen, die dem Stern gefolgt sind, die wundersame Rettung vor dem Kindermörder Herodes, der durch Träume angeordnete Umweg von Bethlehem über Ägypten nach Nazareth, schließlich die Schriftbeweise bei Matthäus. All das markiert die außergewöhnlichen Umstände der Geburt Jesu.

Auf der anderen Seite ist die Weihnachtsgeschichte Spiegel. Jesus wird als Mensch geboren – wie alle anderen Menschen auch. Und insofern können sich in seiner Geburt alle Menschen wiedererkennen und nachempfinden: das Staunen bei der Ankündigung, die Freude über das zu gebärende Kind. Die Geburt Jesu im Stall von Bethlehem wird zum Spiegel, auch wenn heutzutage Kreißsaal, Periduralanästhesie und APGAR-Test an die Stelle von Stall und Stroh, Kälte, Zugluft getreten sind. Die heilige Familie ist sprichwörtlich geworden. Vergessen wir nicht, jeder und jede von uns hat solch eine Geburt hinter sich gebracht.

Ein jüdisches Sprichwort dazu lautet: Jedes Neugeborene kann der Messias sein. In einer christlichen Anwendung heißt das: In jeder Geburt spiegelt sich die Geburt Jesu. In der Ankündigung und Geburt Jesu Christi erinnern sich die Betrachter des Krippenbildes an die eigene Geburt. Maria spielt dabei von Anfang an eine besondere Rolle, nicht nur diejenige der Mutter. Sie wird zur stillen Beobachterin ihres Sohnes.

III.

Im Jahr 2020 wurden in Deutschland 773144 Babies geboren. Die Geburt ist – neben Sterben und Tod – eine der Grund- und Ursprungssituationen des Menschen, eine Schlüsselsituation, aus der sich Leben erklären und philosophisch begründen läßt. Biblisch gesehen sind die Schmerzen bei der Geburt eine Konsequenz davon, daß Eva vom Baum der Erkenntnis gegessen hat. Gott sagt zu Eva: „Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären.“ (Gen 3,16) Was hier als Strafe Gottes erscheint, kann in biologischer Perspektive auch als der Grund dafür gesehen werden, Zuwendung, Kommunikation und Gemeinschaft als soziale Werte anzuerkennen.

Während der Schmerzen und Wehen der Geburt ist die Frau auf die Hilfe anderer angewiesen. Und genau daraus entstehen soziale Gemeinschaften, nämlich zunächst einmal als Hilfsgemeinschaften, um die Mühen der Geburt und der folgenden Kindererziehung kooperativ zu bewältigen. Maria hatte nun offensichtlich bei der Geburt im Bethlehemer Stall keine Hilfe, keinen Frauenarzt, keine Hebamme, keine tröstende Freundin. Lukas schweigt auch zu der Frage, ob sich der Verlobte Josef bei der Geburt als hilfreich erwiesen hat.

Kulturgeschichtlich jedenfalls war die Darstellung des Jesuskindes in der Krippe und Maria, der Mutter daneben prägend für die europäische Vorstellung von Geburt. Dies geschah allerdings erst,nachdem seit der Gotik die Weihnachtsgeschichte menschlicher und emotionaler dargestellt wurde.Gott- und Menschsein beim Kind in der Krippe waren durch die  Kulturgeschichte hindurch keineswegs immer ausbalanciert, sondern die menschliche Seite Jesu brach sich erst langsam Bahn.

Die Geburt prägt das Leben eines Menschen, auch im psychoanalytischen Sinn. Denn nun entsteht das berühmte familiäre Dreigestirn von Vater, Mutter und Kind. Die ursprüngliche Symbiose von Mutter und Kind spaltet sich auf und weitet sich zu einer Dreiecksbeziehung. Und diese wackelige Dreiecksbeziehung bietet die Grundlage dafür, daß sich das Kind gesund und nachhaltig entwickelt, mit Vater und Mutter als den ersten Bezugspersonen. In der heiligen Familie liegen die Verhältnisse komplizierter: Denn Maria wird als schwangere Jungfrau vorgestellt. Und Josef ist streng genommen nur der Stiefvater Jesu, der zum wahren Vater, dem heiligen Geist in ein Verhältnis der Konkurrenz treten könnte. Und wie die Geschichte des zwölfjährigen Jesus im Tempel zeigt, war die Erziehung des pubertierenden Jesus von  Konflikten mit väterlicher oder familiärer Autorität nicht ganz frei.

IV.

Die Engel, welche die himmlischen Chöre anstimmen, die Hirten, die zum Stall gehen, um dort zu beten, die Weisen aus dem Morgenland, welche ihre Geschenke abgeben, selbst noch – unter umgekehrten Vorzeichen – der mißtrauische, verschlagene Kindermörder Herodes, sie alle geben durch ihr Singen, Beten und Handeln zum Ausdruck, daß  im Bethlehemer Stall keine gewöhnliche,  sondern eine höchst besondere und bedenkenswerte Geburt geschah. Nicht nur ein Baby ist das, sondern gleichzeitig der Heiland der Welt, freilich am Beginn seines Lebens ein untätiger Heiland, der die meiste Zeit geschlafen und getrunken haben wird. Die Zeit seines wunderbaren Handelns und Predigens würde erst später kommen.

Mir war stets ein oft vernachlässigter Vers aus dem Evangelium eindrücklich: „Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“(Lk 2,19) Das höre ich auch als eine Aufforderung an den Leser: Denke an Krippe, Hirten, aber auch an die Verkündigung des Engels, wenn du später die Reden des erwachsenen Jesus liest und seinen Lebensweg bis zum Kreuz verfolgst. Jetzt, am Anfang, bei der Verkündigung Marias, hallen alle diese Ereignisse in den Ohren der Hörer und Leser schon wider. Der Grundton, auf den alles gestimmt ist, ist die Freude, die Freude über die bevorstehende Geburt, dazu auch die Sorge: Wird das Kind, wird die Mutter diese Geburt überleben? Die Sterblichkeit im Wochenbett war in der Antike enorm hoch.

Maria nimmt das alles an: „Mir geschehe wie du gesagt hast“, sagt sie dem Engel, und darin liegt für mich in aller Menschlichkeit etwas Anrührendes, Bewegendes, Stilles, Reines. Ich glaube, allein schon um dieses einen Satzes willen müßte man Maria lieben und schätzen, nicht als übergöttliche Himmelsgöttin, sondern als eine starke Frau, die wußte, wie sie das Vertrauen auf Gott in ihr Leben hineinziehen kann.

Ich bin überzeugt, in diesem einen Satz: Mir geschehe, wie du gesagt hast, liegt das ganze Geheimnis von Advent verborgen. Bei den meisten von uns heute nehmen die Vorbereitungen auf Weihnachten aktive Gestalt an: Ich kaufe Geschenke. Ich schmücke den Weihnachtsbaum. Ich besuche Weihnachtsfeiern. Maria aber sagt: Mir geschehe etwas. Ich lasse etwas geschehen. Jemand anderes, Gott selbst, tut etwas mit mir. Dieser Gott gibt mir eine Zusage: Du hast es gesagt. So spricht Maria ihn an. Auf dich verlasse ich mich. Darin kommt das ganze Geheimnis des Advents zusammen: Mir geschehe, wie du gesagt hast. Uns geschehe, wie du gesagt hast.

Viele Menschen gebrauchen das Wort Demut nicht mehr; sie verbinden damit Duckmäusertum und Unaufrichtigkeit. Aber das ist nicht richtig. Der aufrichtigen Demut liegen Einsicht, Lebenserfahrung und Glauben zugrunde.   Die Demut sagt: Ich vertraue darauf, daß Gott für mich gnädig handelt. Ich muß nicht alles selbst zustande bringen. Ich kann es geschehen lassen, daß Gott für mich handelt. Gott übernimmt alle Vorbereitungen. Ich kann auf Gott vertrauen, der mein Leben in seinen Händen hält.  

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Ein Kommentar zu “Krippe und Kreißsaal

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Pfarrer Dr Vögele macht bei unseren anstrengenden Weihnachtsvorbereitungen darauf aufmerksam, daß Weihnachten der Maria zuesrt eine normale Geburt angekündigt wird. Maria erschrickt dann aber über die Ankündigung eines Engels, daß ein wahrer Gott unter besonderen Umständen geboren werden wird. Der wird das Fenster zum Schöpfer-Gott öffnen. Die Mutter Maria wird dabei noch Jungfrau sein. Maria läßt Göttliches an sich geschehen in Demut. Gott wird schon gnädig handeln. — Eine schöne Adventspredigt zur Vorbereitung auf das Krippenkind am Heiligabend. –
    Besonders gelungen ist an der Predigt, daß sie Probleme nicht schönredet aber mit der Botschaft der Hoffnung eindringlich endet. – Alle Leser oder Hörer können mit freudiger Erwartung Weihnachten entgeengehen.

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