Nach dem Schulunterricht fuhren wir mit dem Zug nach Hause. In unserem Abteil war ein Mitschüler, von dem wir wussten, dass er an epileptischen Anfällen litt. Er war, wie man so sagt, ein lieber Kerl. Er hatte eine kräftige Statur, sein Wesen war still, freundlich, bescheiden. Einmal erlebten wir während der Zugfahrt, wie er einen Anfall bekam und unter ähnlichen Symptomen litt, wie sie im Evangelium beschrieben werden. Es war schlimm, das mit anzusehen. Weil wir von seiner Krankheit wussten, waren wir darauf vorbereitet und haben das gemacht, was in so einer Situation getan werden muss: Wir passten auf, dass er sich nicht verletzte und achteten besonders auf seinen Kopf. Nach einer Weile ließen die heftigen Zuckungen nach, und er kam wieder zu Bewusstsein. In Anlehnung an die Beschreibung des Anfalls, wie er im Evangelium dargestellt wird, hatte man das Empfinden: Der Spuk war vorüber. Ich habe diesen Mitschüler aus den Augen verloren, aber durch Klassenkameraden erfahren, dass er erfolgreich Jura studiert hat und als Richter tätig war.
Als Jesus seinerzeit den kranken Jungen von seinen Qualen erlöste, da geschah das in einer hitzigen, emotional aufgeladenen Atmosphäre. Die Jünger zankten sich mit einigen Schriftgelehrten. Wir wissen nicht, um was es ging. Jesus kam gerade von einem Erleben der besonderen Art: Er war in die Welt jenseits von Zeit und Raum eingetaucht, hatte Begegnungen mit Gestalten aus grauer Urzeit und wurde, so heißt es in der Bibel, verklärt. Sein Leib nahm überirdische Gestalt an. Es war wunderbar. Eine Stärkung angesichts der Anfechtungen, die er zu erdulden hatte und der dunklen Wolken, die sein Leben immer mehr überschatteten. Als er im Tal ankam, war es mit der erhabenen Stimmung vorbei. Er traf auf die raue Wirklichkeit des täglichen Lebens:
Zank und Streit, Krankheit, Verzweiflung, Not und Elend. Von daher erklärt sich auch der Zorn, der Jesus erfüllte, wenn er den Menschen, die Jünger eingeschlossen, ihren Unglauben, ihre Uneinsichtigkeit zum Vorwurf machte, was in der verzweifelten Frage gipfelte, wie lange er dieses Geschlecht noch ertragen müsse. Wir kennen die Antwort: Er muss das Menschengeschlecht noch lange ertragen. Jesus selbst weiß es auch. Seine Frage ist ein geheimnisvoller Hinweis auf das, was noch kommt, wenn er am Kreuz die ganze Last der Welt mit ihrer Angst, ihrer Not, ihrem Elend, ihrem Versagen, ihrer Schuld auf sich nimmt. Die Christenheit besingt es dankbar in ihrer Liturgie: „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, erbarm dich unser“.
„Erbarme dich unser!“ ruft auch der schwergeprüfte Vater des kranken Jungen. Was wird Jesus tun? Es ist eine unheimliche, dämonische, zerstörerische Macht, die in diesem Kind ihr Opfer gefunden hat. Was wird Jesus tun? Wird er ihn vertrösten auf das Heilsgeschehen, das noch kommen soll? Wird er ihm raten, sich mit seinem Geschick und dem des Sohnes abzufinden? Wird er ihm vorhalten, dass er den Glauben in seiner Tiefe, seiner Schönheit und seiner Kraft noch nicht erfasst hat? Wird er ihm sagen, dass die Krankheit seines Kindes Gottes Wille sei und er sich damit abzufinden habe? Nein, Nein und noch mal Nein! Das tut Jesus nicht. Lasst es uns hier noch einmal festhalten: Krankheit, Leiden, Elend und Not sind nicht Gottes Wille. Und wenn wir Krankheiten bekämpfen, wenn wir Not lindern, dann stehen wir damit in einer Linie mit Gott selbst.
Für die Menschen, die an Epilepsie leiden ist es doch ein Segen, wenn es Ärzte gibt, die ihnen helfen, mit dieser Krankheit fertig zu werden. Wenn es Medikamente gibt, die es möglich machen, an einem normalen Leben teilzuhaben. Wie segensreich ist die Arbeit in Bethel, die Friedrich von Bodelschwingh aufgenommen und zur Blüte gebracht hat. Dadurch wirkt Jesus heute noch tausendfache Wunder. Da hat er seine Hände im Spiel, mehr noch: Das sind seine Hände. Davon profitieren wir doch auch. Wie oft hat Gott unsere Bitte um Erbarmung schon erhört, und wir wurden aus Krankheitsnöten gerettet und konnten dankbar von dem singen, der „große Dinge tut an uns und allen Enden“. Damals hat Jesus in heiligem Zorn die Leute zusammengestaucht. Dazu hätte bei uns sicher auch manchen Grund.
Aber das Wunderbare, das Befreiende und Erlösende ist doch dies: Das hält ihn nicht davon ab, ein aufrichtiges Gebet zu erhören. Der Vater des kranken Jungen weiß sehr wohl, dass es mit seinem Glauben nicht weit her ist. Darum spricht er von seinem „Unglauben“. Aber da ist etwas in ihm, auf dem Verheißung liegt. Ein Körnchen Glaube, ein bisschen Vertrauen, ein Tropfen Hoffnung. Im Matthäus-Evangelium wird diese Geschichte auch erzählt, und dort malt Jesus ein herrliches Bild: Das Senfkorn, das zu einem großen Baum heranwächst. In der damaligen Zeit galt ein Senfkorn als das kleinste Korn der Welt. 1000 Senfkörner sollen, so sagt man, 1 Gramm ausmachen und ein Senfbaum erreicht immerhin eine Höhe von 3 Metern. Da kann aus uns allen, was den Glauben betrifft, noch etwas werden.
Die Jünger haben im Blick auf den eigenen Glauben auch Defizite empfunden. Einmal haben sie Jesus gebeten, sie auf diesem Feld des Lebens zu unterstützen. „Stärke uns den Glauben“ (Lukas 17,5). Das ist eine gute Bitte gewesen, die sie an Jesus gerichtet haben, denn er hat auf die Bedeutung des Glaubens immer wieder hingewiesen. Wenn er jemanden geheilt hat, entließ er ihn meist mit den Worten: „Dein Glaube hat dir geholfen“. Oder: „Dein Glaube hat dich gerettet“. Oder: „Dein Glaube hat dich geheilt.“ Haben wir es selber nicht auch erlebt, dass wir in schweren Stunden durch unseren Glauben an Gott und unser Vertrauen auf Jesus neue Kraft bekamen, dass uns neue Hoffnung beseelte, dass wir neue Zuversicht gewannen? Es ist doch wunderbar, dass Gott uns immer soviel Glauben in unsere Herzen gibt, dass wir auch mit schweren Lebensumständen fertig werden. Darum ist die Bitte so wichtig: „Herr, mache meinen Glauben stark“, oder wie der Vater es formulierte: „Herr ich glaube, hilf meinem Unglauben“.
Wir müssen bedenken, dass die Jünger im Blick auf ihren Glauben noch in den Kinderschuhen steckten. Natürlich waren sie begeistert von den Wundern, die ihr Meister bewirkte und sie sich sogar daran beteiligen durften. Aber die Tiefe des Glaubens, wie er sich in Zeiten de Leidens und angesichts unserer Endlichkeit entfaltet und bewährt, hatten sie noch nicht begriffen. Wir dürfen nicht vergessen, das waren ja alles noch junge Leute, so im Alter von etwa 30 Jahren. Sie waren fasziniert von der Möglichkeit, wie man mit Hilfe des Glaubens Wunder vollbringen und Menschen zum Staunen bringen kann. Es klingt hoffentlich nicht zu abfällig, wenn ich sage: „Das war Glauben an der Oberfläche des Lebens“. Es ist ihnen nicht zu verdenken. Wir erfreuen uns doch auch an der Leichtigkeit des Glaubens, wenn wir unbeschwert über die Höhen des Lebens gehen dürfen, wenn die Sonne des Glücks uns lacht, wenn dunkle Wolken sich verziehen, wenn sich der Regenbogen der Versöhnung über uns wölbt. Da jubelt unser Glaube, wenn er unserem himmlischen Vater singt: “Wie groß bist Du, wie groß bist Du!“ Sollte es eng werden, dann wird Gott uns soviel Glauben schenken, wie wir brauchen.
Ein lieber Kollege, der viel zu früh an Krebs verstarb, ließ uns teilhaben an seiner Krankheit und seiner Art, im Glauben damit umzugehen. Es ist mir unvergessen, wie er auf seine Bücherregale zeigte und sagte: „Das habe ich alles gelesen, aber davon kann ich nichts mehr gebrauchen. Ich habe nur noch eine Gesangbuchzeile, die mir Trost, Hilfe und Kraft gibt, und die lautet: „Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.“ Damit kann ich keine Predigt bestreiten, aber dieses bisschen Glaube, dieses Senfkorn, ist das wichtigste Geschenk, das Gott mir in diesen Tagen gemacht hat. Es ist nicht viel, aber es reicht für den letzten Weg. Ich wünsche uns, dass wir noch einen möglichst langen, unbeschwerten Lebensweg gehen dürfen, dass uns finstere Täler erspart bleiben, dass wir die Leichtigkeit des Glaubens genießen dürfen. Sollte es anders kommen, was wir nicht hoffen, dann schenke Gott uns soviel Glauben, wie wir brauchen. um unser Leben ihm ganz anzuvertrauen, so wie es Eduard Möricke in einem schönen Gebetswort zum Ausdruck gebracht hat: „Herr, dir in die Hände, sei Anfang und Ende, sei alles gelegt”.