Eine ältere Frau fährt regelmäßig mit der Straßenbahn. Immer wieder ärgert sie sich über die jungen Leute, denen es überhaupt nicht in den Sinn kommt, einem älteren Menschen ihren Sitzplatz anzubieten. Einmal erlebt sie es, dass zwei Jugendliche mit ihren Einkaufstüten sogar die beiden anderen noch freien Plätze belegen und so in ihre Smartphones vertieft sind, dass sie nichts anderes mehr wahrnehmen. Als die ältere Frau sich traut und sie höflich darum bittet, ihr einen der beiden freien Sitzplätze anzubieten, erhält sie nur eine patzige Antwort. Auch von den Mitfahrenden kommt keinerlei Unterstützung. Bitterlich beklagt sie sich am Abend bei ihrer Freundin am Telefon. Die hat ähnliche Erfahrungen auch schon gemacht. Beide sind sich einig in dem Wunsch, dass es den jungen Leuten später wenn sie alt sind hoffentlich einmal genauso gehen wird. Ein paar Tage später, als sie wieder in die Stadt muss und diesmal zum Glück in der vollen Straßenbahn einen Sitzplatz bekommt, sieht sie an einer Haltestelle, wie zufällig genau dieselben beiden Jugendlichen einsteigen und sich suchend umschauen. Das geschieht euch recht, denkt die ältere Frau – aber dann hat sie eine Idee. Freundlich steht sie auf und bietet den beiden jungen Leuten ihren Platz an. Die Umstehenden schauen verdutzt, die Jugendlichen erst recht. Die Frau merkt: Die beiden erinnern sich an die Szene von vor ein paar Tagen. Nein, natürlich nicht, wir können gut stehen bleiben, stottert der eine. Und: Wir fahren eh nur eine Station mit, echot der andere. Ja, und: T’schuldigung für neulich, fügt der erste noch schnell hinzu. Und so eilig wie möglich steuern sie Richtung Ausgang zu. Die ältere Frau lächelt. Und sie lächelt noch mehr, als ein Fahrgast sie anspricht: Herzlichen Glückwunsch! Das werden die beiden nicht so schnell vergessen! Und ich auch nicht! Ihren Mut möchte ich haben. Mut, denkt die Frau? War das wirklich Mut?
Aktiv Gutes tun
„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde es durch das Gute.“ Liebe Gemeinde, mit der Geschichte möchte ich zeigen: So könnte es gehen. Der Apostel Paulus jedenfalls denkt, dass es gehen kann. Dass es möglich ist, der Spirale der Aggression zu entkommen. In unserem Predigtabschnitt geht es nicht einfach darum, dass man Gutes tun soll. Sondern es geht darum, Gutes zu tun im Angesicht des Bösen. Gutes tun weil man ein netter Mensch und auch noch Christ ist und dann womöglich noch Dankbarkeit ernten, das ist ja leicht. Aber als Christ zu reagieren, wenn einem Böses entgegen weht – das ist die eigentliche Herausforderung. Denn was tun wir, wenn uns Böses geschieht? Entweder wir versuchen uns zu wehren, direkt oder wenigstens indirekt, indem wir uns bei anderen beschweren. Oder wir lassen das Böse stillschweigend über uns ergehen. Der Apostel Paulus schließt die erste Möglichkeit rigoros aus: Vergeltet nicht Böses mit Bösem. Rächt euch nicht. Das ist so eindeutig, dass es uns Christen schon ganz schön hart ankommt. Paulus fordert aber auch nicht zum passiven Dulden auf. Er sagt nicht nur: Vermeidet das Böse, sondern: Tut das Gute. Begegnet dem Bösen aktiv. Ihr könnt das. Es gibt eine Kraft, mit der ihr das könnt. Paulus sagt in seinen Worten dasselbe wie Jesus in der Bergpredigt: Haltet dem Feind die andere Wange hin. Überrascht ihn, bringt ihn aus dem Konzept. Handelt anders als er es erwartet. Geh mit dem, der dir für eine Meile sein ganzes Gepäck auflädt, gleich zwei – und bringe ihn so dazu, dir verwundert ins Gesicht zu sehen, und dich dadurch als Gegenüber überhaupt wahrzunehmen. Paulus ermutigt uns wie Jesus zu solchen kreativen Überraschungen.
Zum Gegenüber werden
Aber es geht ihm nicht darum, den Gegner aus dem Konzept zu bringen. Es geht ihm um das Gegenüber. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Das heißt: So, dass durch dein Denken und Tun der andere zu deinem Gegenüber wird, zu einem Menschen, den Gott gerade dir geschickt hat. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde es durch das Gute“ – gut und böse, das bleibt ja irgendwie abstrakt. Die Guten und die Bösen, das sind keine Menschen, sondern Schablonen, niemand ist nur gut oder nur böse, und überhaupt: Was ist eigentlich gut und böse? Paulus geht es aber nicht um solche abstrakten Diskussionen, er fragt wie Menschen einander begegnen. Wenn ich über die schlimmen Jugendlichen oder die unfähigen Lehrer oder die geldgierigen Manager schimpfe, dann habe ich noch kein Gegenüber. Für Paulus ist das Böse ganz subjektiv der Böse, so wie er mir entgegenkommt, das ist der Mensch, von dem ich mich ganz persönlich unfreundlich behandelt oder verletzt gefühlt habe. „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde es durch das Gute“ – Paulus sagt: Du kannst Freiheit gewinnen gegenüber deinen schlechten Gefühlen und gegenüber dem, der sie verursacht hat. Du bist geliebt und kannst lieben und zeigen, aus welcher Quelle du lebst. Geh am Nachbarn, auf den du sauer bist, weil er gestern Nacht so laut gefeiert hat, nicht einfach stumm vorbei, sondern frag ihn, ob das Fest schön war – und schau wie er darauf reagiert.
Kein fauler Friede
Unrealistisch? Sie schütteln innerlich den Kopf? Soll man sich als Christ alles gefallen lassen? Nein, darum geht es nicht. Das wusste schon Johannes Calvin, der große Reformator in Genf. Paulus will keinen faulen Frieden, so warnte er. Es geht nicht um reine Konfliktvermeidung. Es geht auch nicht darum, schwierigen Menschen immer nur nach dem Mund zu reden, damit es nur ja nicht zum Streit kommt. Damit wäre nichts gewonnen. Denn damit wäre das Böse ja noch nicht überwunden. Mich selbst trifft das ganz schön direkt, denn ich weiß, ich bin so eine, die oft lieber nichts sagt um des lieben Friedens willen. Aber der liebe Friede ist dann eben kein lieber Friede sondern ein fauler Friede. Überwinde das Böse mit Gutem, das ist ein unglaublicher Anspruch. Und eine unglaubliche Zusage. Denn das heißt doch: Wir können aus den bösen Menschen gute Menschen machen oder zumindest bessere. Geht das?
Gottes Realismus
Ich bewundere Paulus, wie er der Überzeugung ist: es geht! Ich bewundere sein Vertrauen auf die Kraft der Freundlichkeit, auf die Macht der Liebe. Ich denke, ja, so könnte es vielleicht gehen. Eine Atmosphäre zu schaffen, in der der Mensch, der mich verletzt hat, meine Wertschätzung erfährt und in der ich dann vielleicht auch über das Schwierige und Problematische reden kann. Damit aus Menschen Gegenüber werden, braucht es Mut. Einfacher ist es, übereinander statt miteinander zu reden. Paulus damals wusste: Die junge christliche Gemeinde war mit viel Misstrauen konfrontiert. Misstrauen ist ein Zeichen von Distanz. Tut was ihr könnt dafür, dieses Misstrauen aus dem Weg zu räumen, rät er der Gemeinde in Rom. Schottet euch nicht ab, sondern seid offen, sucht den Kontakt. Misstrauen und Vorurteile gegen Religion und Kirche gibt es auch bei uns ohne Ende, Unfreundlichkeit und Rücksichtslosigkeit im Allgemeinen noch dazu.
Ist’s möglich, so viel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden, sagt Paulus. Letztlich wird Friede nur, wenn alle ihn wollen – das weiß Paulus, so realistisch ist er. Aber mit Gottes Realismus schätzt er die Chancen friedlichen Verhaltens ein: Es wird den Gegner verändern, es macht aus ihm ein Gegenüber, anderes Verhalten wird möglich. Das ist Gottes Realismus. Unser menschlicher Realismus sieht meistens anders aus. Aber wir wären arm, wenn wir auf Gottes Realismus nicht vertrauen dürften. Und wir wären undankbar, wenn wir es nicht wenigstens ab und zu versuchten. Überwinde das Böse mit Gutem – wörtlich schreibt Paulus: Überwinde das Böse im Guten. Im Guten – also in dieser Gottesatmosphäre, an der Gott dich teilhaben lässt. Ihr steht doch mit einem Bein schon im Himmel, sagt Jesus. Ja, wir stehen mit einem Bein schon im Himmel. In der Freiheit, die Jesus Christus uns durch seine Liebe schenkt. Wie wunderbar, dass sich das bewähren darf und erleben lässt. Mitten in unserem ganz normalen Leben.