“Lege deine Hand in die Hand Gottes …”
An der Schwelle zum Neuen Jahr 2017
Predigttext: Jesaja 30,15 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984 / 2017)
Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein.
Für einen kleinen Moment bleibt die Zeit stehen. In dieser Nacht. Beim Übergang vom alten ins neue Jahr. Wir schauen zurück in das alte Jahr – ganz anders als die Fernsehsendungen und die Zeitungen es tun, die uns an Ereignisse, Personen und Katastrophen oder sportliche Höchstleistungen des alten Jahres erinnern. Unser Rückblick ist viel persönlicher.
Wie ist es gewesen für Sie und für mich im vergangenen Jahr? (zwischen dem Verlesen der Fragen einige Sekunden Stille zum Nachdenken) Was hat sich erfüllt von meinen Wünschen und Erwartungen? Wovon sind wir überrascht worden? Freudig überrascht? Was hat mich heimgesucht, mich verletzt? Wer ist umgezogen, an einen neuen Ort, in eine neue Wohnung, ins Seniorenheim? Wer ist dazu gekommen in der Familie, im Freundeskreis? Welche uns nahen Menschen haben wir verloren, durch den Tod, vielleicht auch durch das Zerbrechen einer Beziehung?
Und natürlich schauen wir auch nach vorne, mit so einer merkwürdigen Mischung aus Vorfreude und Bangigkeit. Wo wird uns unser Lebensweg im nächsten Jahr hinführen? Was werden wir erleben dürfen? Wie wird der Urlaub werden oder mein Geburtstag? Was werden wir erleiden müssen? Einsamkeit und Tränen? Werden wir gesund bleiben? Und von Katastrophen verschont? Das ist dann solch ein Augenblick – manchmal nur ein kleiner Augenblick – an dem man das Gefühl hat: Für einen kleinen Moment bleibt das wilde Rad unseres Lebens kurz stehen.
Kaum aber ist die Silvesternacht vorüber und das neue Jahr dann wirklich da, dann überrollt es uns mit genau der gleichen Dynamik und Lebhaftigkeit, wie sich das alte Jahr verabschiedet hat: mit vollem Terminkalender, Besuchen und Gästen, Verpflichtungen und Prüfungen, Schule, Uni und Beruf. So sehr, dass wir kaum mehr zur Besinnung kommen. Bis es wieder Silvester wird … Vorfreude, Bangigkeit Nach-Vorne-Blicken, Schuldgefühle, Zufriedenheit oder auch Unzufriedenheit beim Blick zurück. Eigentlich ist dieser Moment viel zu kurz, um daraus Lehren zu ziehen. Wir müssten öfter mal solche stillen Momente einlegen. Auch mitten im Jahr. Mitten am Tag. Mitten in der Arbeit. Aber Stillesein ist so unendlich schwer. Auch wenn Jesaja uns heute dazu auffordert: “Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein”.
Stille aushalten fällt schwer. Wir tun so ziemlich alles, um der Stille zu entfliehen. Im Auto wird das Radio angemacht. Im Supermarkt, im Restaurant berieselt uns Musik, Zuhause läuft der Fernseher oder der CD-Player, Jogger tragen Knöpfe im Ohr mit ihrer Lieblingsmusik, selbst Handys und Computer funktionieren nur mit Quittungstönen, mit „Piep“ und „Plopp“ und Erkennungsmelodien. Ja, selbst der Jahreswechsel muss mit Böllern und Krachern begleitet werden, als hätten wir Angst in dieser Nacht, und müssten diese Angst vertreiben, wie das Kind im dunklen Wald seine Angst mit Singen vertreibt. Auch still sein fällt schwer.
Wann haben Sie zum letzten Mal einem Menschen richtig zugehört? Während der eine spricht, sinnt der andere bereits darüber nach, wie er antworten kann. Gemeinsam zu schweigen, wie schwer fällt das. Selbst hier in unserer Kirche – das stille Gebet. Für viele von uns ist das eine Chance, mit Gott zu sprechen, für manchen aber ist das auch einfach nur eine ganz peinliche Stille – und er weiß nichts damit anzufangen. Wann ist es endlich vorbei – wann geht’s weiter im Text? Am schwersten fällt Abwarten können. Handys machen uns stets und ständig überall erreichbar. E-Mails machen es möglich, dass wir uns mehrmals täglich Briefe schreiben. 24 Stunden Lieferungen machen es möglich, dass wir noch nicht einmal auf Bestelltes länger warten müssen als eine Nacht. Warten tun wir nicht gern. Warten braucht Geduld. Und Geduld braucht Zeit. Und die haben wir nicht. Meinen wir.
Gott lässt uns in dieser Nacht durch den Propheten Jesaja etwas ausrichten, was dem entgegensteht: “Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein”. Genau das, was uns so schwer fällt, verlangt Gott von uns: Stille aushalten, still sein, abwarten können, Geduld. Genau das, was wir so schwer können, sollen wir lernen. Und wenn wir das beherrschen – so verheißt uns Gott –, dann wächst uns Kraft zu, und Hoffnung und Zuversicht. Aber wie soll das gehen?
Ich erinnere mich an einen Blinden, der mitten auf dem Frankfurter Hauptbahnhof auf denjenigen wartete, der ihn sonst führt. “Bitte warten Sie hier!“, hatte sein Begleiter zu dem Blinden gesagt und ihn an einer verkehrsgeschützten Ecke des Großstadtbahnhofs allein gelassen. Er wollte ihm das Gewühl ersparen auf dem Weg zum Schalter, zur Auskunft, zur Fahrplantafel und zur Post. Zurückkehrend sah er ihn schon von Weitem stehen, während die Menschen an ihm vorbeihetzten, ein Kind ihn anstarrte, ein Gepäckkarren einen Bogen um ihn fuhr und ein Zeitungsverkäufer nach einem irrtümlichen und vergeblichen Angebot fast schon scheu wieder von ihm wegging.
Er stand ganz still, der Blinde. Die Schritte um ihn her und die unbekannten Stimmen und all die Geräusche eines lebhaften Verkehrs, die schienen für ihn keine Bedeutung zu haben. Er wartete. Es war ein ganz geduldiges, vertrauendes und gesammeltes Warten. Keine Unruhe, keine Angst war an ihm zu spüren. Es war kein Zweifel auf dem Gesicht, dass sein Begleiter etwa nicht wiederkommen könnte. Es war ein wunderbarer Schein der Vorfreude darin; denn er wusste ganz genau: Der, der mir versprochen hat, wiederzukommen, wird wieder kommen. Und so lange bleibe ich hier stehen. Ich rühre mich nicht vom Fleck. Ich warte hier in Geduld. Denn er wird kommen. Das weiß ich.
Wäre der Blinde losgelaufen – aus Furcht, aus Ungeduld, aus Unsicherheit – er wäre mitten ins Verkehrsgewühl gelaufen in der Menschenmenge untergetaucht, und sein Begleiter hätte ihn nicht mehr gefunden. Nicht auszudenken, was dem Blinden geschehen wäre, wenn er nicht so still und geduldig ausgeharrt hätte. Dabei denke ich an das Wort aus Jesaja: “Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein”. Faszinierend diese Geduld des Blinden. Diese unumstößliche Gewissheit, dieses grenzenlose Vertrauen: Ich kann ohne den anderen nicht los gehen. Also warte ich. Ich weiß, er wird kommen und mir den Weg zeigen.
“Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein.” Für mich ist dieser blinde Mensch zu einem Glaubensvorbild geworden. Auch wir sehen Vieles nicht. Nicht den Weg durch das neue Jahr. Nicht die Gefahren, die uns drohen. Nicht das Glück, das auf uns wartet. Wir stehen im Gewühl der Zeit und blicken wie Blinde nach vorne.
Wohl dem, der darauf vertraut, dass Gott den Weg kennt. Wohl dem, der nicht zweifelt sondern weiß, ich bin geborgen. Wohl dem, der nicht einfach losrennt und sich unbekannten Gefahren aussetzt, sondern der darauf wartet, dass Gott kommt und ihn an der Hand nimmt. Ich wünsche uns allen solch ein Vertrauen, wie das Vertrauen dieses Blinden. Diese Vorfreude. Diese Geduld. Und diese Stille. Heute Nacht, wenn wir in das Neue Jahr hineingehen – und an jedem neuen Tag des Jahres 2017. Ich kleide meinen Wunsch an uns alle in dieser Nacht in ein Gebet einer chinesischen Christin:
Ich sagte zu dem Engel, der an der Pforte des neuen Jahres stand: Gib mir ein Licht, damit ich sicheren Fußes der Ungewissheit entgegengehen kann. Der Engel des neuen Jahres aber antwortete: Geh nur hin in die Dunkelheit und lege deine Hand in die Hand Gottes. Das ist besser als ein Licht und sicherer als ein bekannter Weg. Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.