Oft habe ich in einem Abendmahlsgottesdienst den Gemeindegliedern den Vers aus Psalm 119 als Sendungswort weitergegeben: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege“ (V.105). Gottes Wort ist wie eine kleine Lampe, mit der man bei einem Weg durch dunkle Felder den Platz vor sich her ausleuchtet. Jetzt kann man einen Schritt nach dem anderen setzen und so seinen Weg suchen und finden. Viele lesen jeden Morgen die Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine. Sie lassen so Gottes Wort, einen Satz aus dem Alten Testament und einen Satz aus dem Neuen Testament, in ihren Alltag hinein leuchten, jeden Tag neu. Vor Jahren besuchte ich eine Tagung. Da wurde vorgeschlagen, sich für jede Woche einen biblischen Vers zu nehmen, sich ihn einzuprägen und so sieben Tage lang darüber zu meditieren. Solche Worte werden dann zu „Lebensworten“. Wir lernen es, mit Gottes Wort zu leben. Dies sind alles gute Wege, sich Weisung aus seiner Bibel zu holen. Aber hier im Predigttext lesen wir noch etwas Anderes. Da heißt es, gut hinzuhören. Es geht noch um Größeres: „Umso fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort“. Was heißt das, auf das prophetische Wort zu achten? Jesus selbst hat auf dem Berg der Verklärung aus dem Himmel das Wort seines Vaters gehört: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ Mose und Elia standen dabei, und die drei Jünger Petrus, Jakobus und Johannes waren Zeugen. In den Worten aus dem 2. Petrusbrief werden wir an dieses außergewöhnliche Ereignis erinnert. Jesus selbst wusste sich berufen, prophetisch zu reden, und in den Gemeinden der Apostel traten Menschen auf, die prophetisch geredet haben, damals. Ich will Ihnen vier Möglichkeiten darstellen, heute mit der Prophetie umzugehen:
(1) Es gibt Ausleger des Neuen Testamentes, die sagen: In der Urgemeinde damals gab es, was die Geistesgaben betrifft, einen charismatischen Frühling. Da traten Propheten auf; da wurden sichtbar Menschen geheilt; und da fiel der Heilige Geist auf Menschen, und sie redeten in Zungen. Aber wie jeder Frühling ist diese Zeit damals zu Ende gegangen.
(2) In der Reformationszeit sagte man: Wo die Bibel ausgelegt und gepredigt wird, da geschieht Prophetie in der Kirche. Ich habe noch heute fünf Kommentare aus einer Reihe des Schweizerischen Bibelwerkes, die aus diesem Grunde „Prophezei“ heißt. Ich nehme diese biblischen Auslegungen gerne oft zur Hand. Prophetie, das ist Auslegung der Heiligen Schrift.
(3) Vor 40 Jahren war ich Teilnehmer eines Kongresses für Weltevangelisation. Da betonte jemand: Wo jemand die Gabe der Evangelisation hat und in einem Land oder gar in der Welt herumreist, auf die Situation der Menschen achtet, zu denen er spricht, und evangelisiert, da ist der Geist der Prophetie wirksam. Wo ein John Wesley und ein Charles Spurgeon in England gepredigt haben, wo ein Billy Graham in vielen Ländern der Erde aufgetreten ist und ein Ulrich Parzany unermüdlich in unserem Land evangelisiert, da konnte und kann man etwas von dem Wesen des Prophetischen spüren. Damals auf dem Kongress in Lausanne wurde das so gesagt.
(4) Oder ist Prophetie vor allem dort, wo jemand aus der Kirche heraus Missstände in der Gesellschaft oder in der Welt anprangert? Wo z.B. Margot Kässmann im Neujahrs-Gottesdienst 2010 zu dem Einsatz der Bundeswehr dort am Hindukusch in Asien sagt: „Nichts ist gut in Afghanistan!“?
Was meint der Apostel Paulus, wenn er schreibt: „Bemüht euch um die Gaben des Geistes, am meisten um die Gabe der prophetischen Rede!“ (1.Kor 14,1) Da wird in den Paulusbriefen eine Priorität gesetzt. Und was heißt es, wenn der Apostel Petrus hier bekennt: „Wir haben desto fester das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet!“? Ich bin froh, dass ich Lehrer hatte, die uns damals während der Ausbildung leidenschaftlich die Propheten des Alten Testamentes nahe gebracht haben. Ich halte die „Gedanken Dietrich Bonhoeffers zum Tauftag von Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethge“ (10 S.) für einen prophetischen Text. Bonhoeffer hat sie im Mai 1944 im Tegeler Gefängnis geschrieben. In einem Gemeindekreis z.B. kann man diese Gedanken miteinander lesen und darüber sprechen. Da lernt man Bonhoeffer noch mal anders kennen, als in seinem Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen…“. Es sind dicke Bücher über das Wesen der Prophetie geschrieben worden. Ich will nur mit einigen wenigen Sätzen skizzieren, was geschieht, wenn wir mitten in unserer Gemeinde auf das prophetische Wort achten und dann aussprechen und weitergeben, was wir weiterzugeben vermögen.
Auf jeden Fall werden wir uns dann in das vertiefen, was die Propheten des Alten und des Neuen Bundes lange vor uns gesagt und geschrieben haben. Ohne gründliches Bibelstudium gibt es kein prophetisches Wort heute.
Dann ist das Evangelium keine religiöse, zeitlose Wahrheit. Wir werden uns die konkrete Situation unserer Gemeinde und unserer Kirche in unserem Land zu Herzen nehmen und darüber nachdenken. Wir werden uns freuen über das, was hier möglich ist, und wir werden unter dem leiden, was nicht geschieht, – wo also heute Menschen Gott in dem, was er tun will, hindern und wo der Glaube, die Liebe und die Hoffnung schwinden. So leuchtet das prophetische Wort „an einem dunklen Ort“, in dem undurchdringlichen Dunkel der Geschichte.
Wir werden unsere Zeit beobachten und nach den „Zeichen der Zeit“ Ausschau halten. Jesus selbst hat es seinen Jüngern geboten, auf die „Zeichen der Zeit“ zu achten (Matth 16,3). Der Geist Gottes treibt sie dazu, die Zusammenhänge und Tiefen der Situation ihrer Hörer zu prüfen und offenzulegen. Sicher, auch andere achten auf die Trends unserer Zeit und versuchen zu beschreiben, was auf uns wartet oder was uns droht. In Tageszeitungen, in Illustrierten, in Apothekerheften, auf Sicherheitskonferenzen, auf Wirtschaftsgipfeln und in „talk-shows“ wird darüber geredet und geschrieben. Aber hoffentlich achten wir auch als Christen darauf, wohin der Zug unserer Zeit geht, sind dann diesen anderen eine Pferde- oder zumindest eine Nasenlänge voraus (Karl Barth) und finden so unseren Weg in die Zukunft. Martin Buber schreibt, Propheten sind „wie eine zitternde Magnetnadel, die in die Richtung Gottes weist“. Wir kennen die Nadel in einem Kompass, mit dem sich Menschen in der freien Natur oder auf den Weltmeeren orientieren. Oft zittert die Nadel im Kompass, weil sie durch die Magnetkräfte hin und her gezogen ist. Aber sie zeigt den Weg.
Wo wir auf das prophetische Wort achten, da lauschen wir nach der Stimme Jesu, der uns ganz persönlich, unsere Gemeinde und ganze Völker führt. Wo ist das wegweisende Wort, mit dem er führt? Jetzt in unserer Zeit! Und dann sind wir empfänglich für das, was uns der Geist Gottes eingibt und so anvertraut, dass wir darüber sprechen und es weitergeben können. Dabei ist es Aufgabe der Prophetie, radikal zu sein; „radix“ ist das lateinische Wort für die Wurzel; wir kennen dieses Wort von den Radieschen. Wer auf das prophetische Wort achtet, geht allem Denken und Handeln der Menschen an die Wurzel.
Und dann macht das prophetische Wort immer und immer wieder deutlich, dass wir der Vollendung des Reiches Gottes entgegen gehen. Im Predigttext ist von dem besonderen Tag der Wiederkunft Christi die Rede, auf die wir Christen zu leben. Die prophetischen Verheißungen erneuern die Weissagungen, die die Geschichte Gottes mit der von ihm geliebten Welt Schritt um Schritt voran führen. Es geht dem von Gott gesetzten Ziel entgegen, dem Tag der letzten Offenbarung des Heils. Dann werden auch wir als die Glaubenden sehen können, was wir geglaubt haben und in unserem Innersten ganz und gar erleuchtet sein. Dies ist ja das besondere Thema der Epiphanias-Zeit, die mit diesem Sonntag zu Ende geht.
Wenn wir uns so um die Gabe der Prophetie bemühen, merken wir bald: Wo Gott das Seine sagt oder sagen lässt, da ärgern sich viele; sie bleiben zurück, und sie wenden sich verdrossen ab. Schon Jesus sagte: „Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland“ (Markus 6,4). Wo jemand es tatsächlich wagt, für das prophetische Wort einzutreten, da ist das kein gemütlicher Spaziergang hier am Mittellandkanal entlang oder durch unser Moor hindurch.
Wo Menschen bereit sind, auf das prophetische Wort zu achten, da werden sie dazu gebracht, auf das alte Evangelium ganz neu zu hören. Dies führt zu einer tieferen Bindung an Jesus. Und so werden wir dazu bewegt, eingetretene Pfade zu verlassen und ganz neu Gott gehorsam zu sein. Und dann können wir auch auf erfrischende Art und Weise aufdecken, was in der christlichen Gemeinde falsch läuft. Oft ist da der Geist der von Gott abgefallenen Welt, der Zeitgeist, in die Gemeinde eingedrungen. Und dann können wir anprangern, wie sich Menschen Götzen und andere Popanze aufbauen, wie in der Welt die Gebote Gottes notorisch übertreten werden und wo man rundherum falsche Ziele ansteuert.
Aber dann werden uns auch Worte, Bilder und Gleichnis-Geschichten geschenkt, an denen sich einzelne Menschen und ganze Gemeinden so orientieren können, wie sich früher Seefahrer auf den weiten Meeren an den Sternbildern orientiert haben. „Umso fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut wohl daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen.“