Taufe und die Lust auf „Mehr!“
Da war er neben mir, der kleine Täufling. Auf dem Arm der Patin. Wassertropfen liefen über seine Stirn. Langsam hellte sich sein ernstes Gesicht wieder auf. Er lächelte in die versammelte Runde am Taufstein, legte seine eigene Hand auf den nassen Kopf und meinte nur: „Mehr!“ – „Mehr!“, und damit meinte er nicht das Wasser. Das hatte er eher notgedrungen hingenommen – die Sache mit dem Wasser. Doch irgendwie hatte er die Hand, die ich ihm segnend auf den Kopf gelegt hatte, als etwas Besonderes erlebt. Gespürt, dass ihn da nicht nur meine Hand berührt hatte. Da war mehr, das schien er zu ahnen. Eine ganz andere Kraft. Und davon wollte er mehr. Ich hoffe, er hat es seitdem immer wieder erlebt. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, denke ich an sein einfaches „Mehr!“ – in dem so viel lag.
Von Gott berührt werden – und das immer wieder neu. So wachsen wir und unsere Kraft. So wächst Glauben. Kurze Momente, die uns bestärken. Wach machen. Neu hören, neu sehen lassen. In Begegnungen. Gesprächen. „Mehr!“ Das darf nicht aufhören. Nur so bleibt Glauben lebendig. In mir. “Mehr!“ So können andere berührt werden, vielleicht zum ersten Mal. Auch Timotheus, der Begleiter des Paulus, hatte das erlebt. In der eigenen Familie. Seine Großmutter Lois, seine Mutter Eunike – beide waren Menschen, die mit ihrem Glauben Vorbild für ihn waren. Sich berühren ließen. So wuchs Timotheus auf, erlebte sie, hörte von ihnen. Nun ist es an ihm, seinen Glauben zu leben. Mehr davon, Timotheus! Dir wurden die Hände aufgelegt für Dein Amt. Nun kannst Du Dein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Lass es leuchten! Darum geht es – Mutmachworte für einen, der unsicher geworden war. Hören wir, was Timotheus geschrieben wurde.
(Lesung des Predigttextes – nach der Übersetzung der BasisBibel)
Furcht oder Kraft?
Die Situation des Timotheus – eine andere als unsere im 21. Jahrhundert in Deutschland. Doch die Frage an ihn ist gar nicht so anders als das, was wir uns heute fragen sollten – oder fragen lassen müssen: Wie geben wir das Feuer des Glaubens weiter? Fachen wir es an oder bleibt es unter dem berühmten Scheffel? Wie leben wir unseren Glauben und sind erkennbar als Christen in unserem Alltag? Die stärkste Sprache spricht das, was wir tun. “Lasst uns nicht lieben nur mit Worten, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit.“ (1. Johannes 3,18) Die stärkste Sprache spricht, was wir tun. Mir erzählte eine Frau: „Als mein Bruder tödlich verunglückt war, da tat es gut, wenn andere kamen und einfach mit uns weinten. Wir wollten gar nichts hören. Wir wollten auch nicht reden. Oder jemand haben, der versuchte, uns etwas zu sagen. Jedes Wort klang damals irgendwie hohl und falsch. Einfach mit anderen weinen, das hat mir in den ersten Wochen wirklich gut getan”. Die stärkste Sprache spricht, wie wir für andere da sind.
Die stärkste Sprache spricht das, was wir tun. Wie wir uns engagieren. Unserer Gemeinde ist z.B. wichtig, dass Menschen offene Räume haben, um sich zu treffen. Füreinander da zu sein wie beim Ökumenischen Mittagstisch, der jeden Freitag in einer der Mainzer Innenstadtgemeinden angeboten wird. Da treffen sich die, die gerne kochen. Da kommen die, die Gesellschaft und ein gutes Essen brauchen. Manchmal wird es eng. Manchmal sind die Köche nicht sicher, ob alles so klappt – aber alle sind gerne dabei. Allen tut es gut und immer reicht es, dass alle satt werden. Wir geben das Feuer auch weiter ohne Worte. Durch das, was wir tun. Aber es ist wichtig, dabei offen zu bleiben. Auch neue Wege zu probieren in der Gemeinde. In der eigenen Kirche. Keine geschlossene Gesellschaft zu werden und dann bleiben zu wollen, weil wir uns doch gerade so gut eingerichtet haben. Auch offen zu sein für eine andere Sprache.
Hören wir, was andere suchen? Die Menschen in unserem Stadtviertel brauchen? Wieviel lassen wir an Veränderungen zu und machen Platz für neue Ideen, neue Menschen? Ausprobieren – das lässt uns spüren, wo das Feuer ist. Keine Angst zu haben, dass Gewohntes und Liebgewordenes verschwindet. Wo das Feuer brennt, das wird bleiben. Wo das Feuer verloschen ist, da ist die Asche ein guter Dünger für den Boden – dass Neues wachsen kann. Und da ist Platz für Neues.
Das Feuer des Zweiflers
Wie geben wir das Feuer weiter? Wenn Menschen begeistert sind von Jesus, das steckt natürlich an. Aber auch wenn Menschen ihren ganz eigenen Weg des Christseins entdeckt haben, mir erzählen von den vielen verschlungenen Wegen und den Höhen und Tiefen in ihrem Glauben, haben sie mich immer sehr beeindruckt. Es ist nicht nur die Begeisterung, mit der jemand sich engagiert oder seinen Glauben in Worte fasst. Es können für mich genauso auch die Zweifel sein, die jemand offen äußert. Der Kampf mit den Widersprüchen des Lebens und des Glaubens. Die intensive Suche nach der Antwort auf die eigenen Fragen. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“, sagt Jakob im Kampf in der Nacht zu dem Unbekannten, mit dem er ringt. Das ist es, was mich bewegt, wenn Menschen mir von ihrem Ringen mit dem Leben und Gott erzählen. Weil sie die Kraft des Glaubens leben. Weil sie irgendwie wissen, es geht um alles und da lasse ich nicht einfach los und gebe auf.
Das Feuer in uns – weitergegeben im Strom der Zeit
Das Feuer kann so unterschiedlich in uns brennen. Es hat so viele verschiedene Farben. Ich staune darüber immer wieder – und das Geschenk, das ich von meiner amerikanischen Gemeinde zur Ordination erhielt, in der ich damals arbeitete, macht dieses Staunen greifbar: Ein kleines, altes Kreuz, zum Umhängen, gefertigt irgendwann im 6. oder 7. Jahrhundert nach Christus im heutigen Italien. Ein kleines Kreuz. Getragen. Verloren. Gefunden. Verkauft. Und irgendwann kam es in die USA, wo es mir, einer deutschen Pfarrerin, geschenkt wurde. Für mich ist dieses alte Kreuz das sichtbare Zeichen für die Christinnen und Christen, die alle vor meiner Zeit glaubten und zweifelten und ihren Glauben lebten. Weitertrugen. Auf ihre Art. Mit der Botschaft, die Gott ihnen anvertraut hatte.
Was für ein Glück für uns – so empfinde ich es: So viele Männer, Frauen, Kinder, die mehr wollten. „Mehr!“ Die berührt waren von Gottes Geist. Diesen Geist der Kraft, der Liebe und Besonnenheit in sich spürten. Ihren Glauben, ihre Hoffnung alle auf ihre Weise weitergegeben haben. Wie die Großmutter und die Mutter von Timotheus. Wie vielleicht Ihre Eltern und Großeltern … oder … oder … Ja, wer war für Sie wichtig? Oder auch welche Momente waren es, in denen Sie wussten: „Von dieser Kraft will ich mehr. Dieser Geist ist in mir lebendig”. Dass das über Jahrhunderte und Kontinente hinweg so lebendig blieb … mich lässt das immer wieder staunen. In was für einer Tradition darf ich stehen und leben! Von was für einem großen Strom darf ich ein Teil sein und mich tragen lassen!
Das Feuer ist bunt
Doch genauso erstaunlich wie der Strom durch die Zeiten ist für mich die bunte Vielfalt christlicher Gemeinden – früher und heute. Alle tragen dieses Feuer auf so unterschiedliche Weise weiter. Viele syrische und irakische Christen, die in den letzten Jahren zu uns geflüchtet sind und ihre Glaubenstraditionen mitgebracht haben. Wir brauchen uns … mit den verschiedenen Klängen und Worten. Der Fremde, der für mich betet. Für den ich bete. Meine fremden Schwestern und Brüder: Wir dürfen uns gegenseitig die gute Nachricht zusagen. Neu hören. Uns anrühren lassen.
Unvergängliches Leben
Das ist Leben. Unvergängliches Leben. Das sind die Erfahrungen und Erlebnisse, von denen ich „mehr“ brauche und nie genug bekommen kann. Momente, die mich berühren. Die in mir Kraft und Liebe und Besonnenheit neu stark machen. Und ich darf einfach dabei sein. So wie ich bin. Mit dem, was ich einbringen kann. Weil mich einer berührt hat bei meiner Taufe und wieder … und wieder … viele andere … Momente, die uns bestärken. Wach machen. Neu hören, neu sehen lassen. Begegnungen. Gespräche. Und das darf nicht aufhören. Ja, Gott macht Lust auf „Mehr!