Um die Jahrtausendwende habe ich die Synode der reformierten Kirche des Kantons Aargau besucht. Im Synodalgottesdienst wurde eine Pfarrerin in ihr Amt als Krankenhausseelsorgerin eingeführt. Es war damals für mich sehr beeindruckend, wie sie uns ihren Dienst als Krankenhauspfarrerin in der Klinik in ihrer Predigt deutlich gemacht hat. Sie wolle barmherzig, einfühlsam und präsent sein, auf Augenhöhe den Patienten begegnen. Sie wolle nicht zuerst von ihrem Glauben als der Motivation für Seelsorge sprechen. Vielmehr wolle sie im Krankenhaus so ihren Dienst versehen und mit Patienten, Pflegekräften und Ärzten leben, dass sie nach ihrem Glauben gefragt werde. Das beeindruckte mich damals, und es gefällt mir noch heute. Ich wünsche mir, dass wir als Kirche, als Gemeinde vor Ort und als Christin und Christ in der Familie, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, im Freundeskreis so leben, dass wir nach unserem Glauben gefragt werden. Das ist die beste Art, das Evangelium zu verkündigen, und die schönste Gelegenheit, von unserem Glauben klar und deutlich zu erzählen.
I.
Der 1. Petrusbrief, aus dem wir viele Mahnungen gehört haben, ist ein Rundschreiben an mehrere Gemeinden, die sich in der Fremde wissen und die in ihrem Glauben angefochten sind. Der Schreiber ermutigt dazu, den Glauben an Gottes Gnade freudig zu leben und deshalb ein rechtschaffenes Leben zu führen. Dann sehen die Mitmenschen die offenen und helfenden Hände derer, die sich Christinnen und Christen nennen und werden vielleicht auch nach ihrem Glauben fragen. So können Christinnen und Christen deutlich machen, an wen sie glauben und warum sie so handeln, wie sie handeln.
Es kommt immer wieder vor, dass ich bei Gesprächen mit Menschen beim Einkaufen, beim Spazierengehen oder beim zufälligen Treffen auf Gott hin angesprochen werde, auch wenn meine Gesprächspartner nicht wissen, dass ich Pfarrer bin. Da wundert es mich, wie die Frage nach Gott virulent ist und ein Glaube, der in Barmherzigkeit für Frieden und Gerechtigkeit eintritt, hoch im Kurs steht. Doch in der großen Linie unseres gesellschaftlichen Lebens werden wir als Kirche nicht mehr so als empfehlenswerte Gemeinschaft wahrgenommen, dass man uns nach unserem Glauben fragt oder dass man an unserem rechtschaffenen Handeln wahrnimmt, wie hier ein lebendiger Geist und eine gute Kraft der Barmherzigkeit wirksam ist. Eher machen wir die Erfahrung, dass wir gesellschaftlich gesehen langsam zur Minderheit werden und uns als Glaubende in der Fremde aufhalten.
Die Kirchenaustritte nehmen zu und wir können heute realistisch „die bittere Wahrheit“ erkennen: „Viele Menschen wissen nicht, wozu sie Mitglied einer Kirche sein sollen.“ (Zeitzeichen 4/2023 S.17) Wie leben wir unseren Glauben, so dass man wieder erkennt, wozu es sinnvoll und nützlich ist, einer Kirche anzugehören? Wie verkündigen wir das gute Evangelium, damit Menschen uns nach dem Glauben fragen, der Sinn stiftet mitten in der Sinnlosigkeit einer geschlagenen und herausgeforderten Welt? Wie leben wir als Christen in einer Minderheit, ohne in Minderwertigkeitsgefühle zu verfallen, ohne uns selbst von der Gesellschaft auszugrenzen und uns in unserer Nische wohnlich einzurichten? Wie leben wir in einer Gesellschaft unseren Glauben an den barmherzigen Gott, den diese nicht mehr wahrnimmt, im Gegenteil eher verleumdet oder als untauglich für das alltägliche Leben einstuft oder ihm gleichgültig begegnet?
II.
Der 1. Petrusbrief macht uns Mut, uns diesen Fragen zu stellen, und unseren Glauben mitten in einer Welt, die den Glauben nicht sucht, sanftmütig und voller Bewusstsein zu leben. Das Ziel des Glaubens ist, dass wir aus den Nöten von Egoismus und Empfindlichkeit, von innerem und äußerem Unfrieden und Ungerechtigkeit gerettet werden. Uns wird von Gott eine Hoffnung geschenkt, dass am Ende nicht das Nichts ist, sondern der barmherzige Gott, der uns Leben ermöglicht, wahres und ewiges Leben. Das ist das Ziel und der Grund allen Glaubens, dass der treue Gott aufrichtet, mitgeht, da ist und uns alle beruft zu einem solchen wahren Leben.
Dazu sind wir von Gott selbst berufen, der uns segnet. Dieser barmherzige Gott schenkt uns ein Leben in der Hoffnung, dass in Christus der Tod überwunden ist, weil Christus von den Toten auferstanden ist. Diese Hoffnung ermutigt, macht stark und zuversichtlich. Und sie strahlt in die Gesellschaft aus. Darum ermahnt der 1. Petrusbrief, uns geschwisterlich zu verhalten, barmherzig und demütig. Böses soll nicht mit Bösem vergolten werden, Scheltwort nicht mit Scheltwort, sondern dem Guten dürfen wir nacheifern, auch wenn es Nachteile, ja sogar Leiden und Anfeindungen mit sich bringen kann. Indem wir so Frieden suchen und Gutes tun, heiligen wir Gott selbst und zeigen: Wir sind von Herzen dankbar, dass Gott in Christus uns errettet und uns in einer unübersichtlichen Welt gute Zuversicht schenkt.
So leben wir in einer zur Welt hin offenen, zugewandten, liebevollen Art, ohne dass wir als Moralapostel auftreten oder gar alles, was die Moral angeht, besser wissen. Die Sanftmut und die Demut sind die Säulen des glaubenden Handelns, die ihren Grund in der Barmherzigkeit Gottes haben. Barmherzigkeit versteht sich nicht von selbst, weil sie grundlos sanftmütig ist und ohne Berechnung Gutes tut. Sie hat ihren tiefen Grund in der Barmherzigkeit Gottes, der den verlorenen Sohn mit offenen Armen empfängt und mit ihm Gemeinschaft sucht. Diese göttliche Barmherzigkeit sucht unsere Barmherzigkeit. Menschen, die in Not geraten sind, wird einfach geholfen, ebenso wird dem Bösen abgesagt. Ehrlich wird der Egoismus bei sich selbst erkannt und gemindert.
Nun ist es aber so eine Sache mit den Ermahnungen. „Halte Friede mit dem, der dir nicht wohl gesonnen ist!“ Wie soll das gehen? Kann ich Frieden befehlen? Wohl kaum, das ist eine der großen Überforderungen. An ihr scheitern auch die meisten Ermahnungen, auch wenn sie noch so gut gemeint sein sollten. Höre ich eine Ermahnung nicht in der Form des Befehls, sondern der Kritik, so nehme ich sie als Anklage wahr. „Bleib doch ruhig,“ sagt der Freund und der Angesprochene versteht: „Du bist doch schon wieder laut geworden.“ Ermahnungen helfen, wenn sie weder als Befehl noch als Anklage verstanden werden, sondern als Hilfe, als ermutigende Aufforderung und als Ermunterung, die Barmherzigkeit zu leben, weil Gott uns selbst barmherzig begegnet. In diesem Sinne verstehe ich die vielen Ermahnungen des 1. Petrusbriefes. Sie sind nicht im Befehlston gehalten, auch nicht wie eine Anklageschrift verfasst, sondern wie gute Ermutigungen, den Glauben zu leben, weil der Glaube nicht aus sich selbst und den eigenen Taten lebt, sondern aus der Barmherzigkeit Gottes.
III.
Nun geht der 1. Petrusbrief so weit, dass wir ermutigt werden, dem Leiden nicht aus dem Wege zu gehen, sondern um der Gerechtigkeit willen zu leiden. Ganz leicht kann dieser Gang zum Leiden dahingehend missverstanden werden, dass man die ungerechten Systeme des Lebens nicht antastet, sondern sie erduldet – also um ein Beispiel des Petrusbriefes aufzugreifen, die Sklaven sollen ihren Herrn treu sein. Leider hat die Christenheit mit solchen Ermahnungen ungerechte Strukturen eher verfestigt, als versucht, sie in der Liebe Gottes zu überwinden. Es ist wichtig und gut, dass wir offen zu den Verfehlungen der Kirchen stehen und nichts unter den Teppich kehren. Nur die Ehrlichkeit kann befreien, nur das klare Schuldeingeständnis kann Vergebung und Versöhnung bewirken. Dazu braucht es Mut. Dieser Mut will nach dem Guten streben auch und gerade im Angesicht des Bösen, das auch in einem selbst herrscht.
Es geht nicht um das Hinnehmen von Leiden um des Leidens willen, wie es so oft missverstanden worden ist – „das musst Du einfach hinnehmen“ -, sondern es geht um die Verheißung der verwandelnden Kraft der Feindesliebe. Diese verwandelnde Kraft der Liebe Gottes ist und bleibt das Fundament allen christlichen Glaubens und darum dürfen wir zuerst diese Liebe Gottes an uns geschehen lassen, sie dankbar und freudig annehmen. Da ich mir diese Liebe Gottes nicht selbst aneignen kann, sondern sie mir zusagen lassen muss, brauche ich die Kirche. Ich wünsche mir, dass wir in dieser Haltung unseren Glauben sanftmütig, ehrlich und demütig leben.
Ich denke immer wieder gerne an diese Predigt der Schweizer Pfarrerin zurück, weil sie mich ermutigt, nicht belehrend oder moralisierend oder gar rechthaberisch von Gott und dem Glauben zu sprechen, wohl aber so zu leben, dass ich nach Gottes Barmherzigkeit gefragt werde. Der Schreiber des Petrusbriefes ermutigt uns, Glauben zu wagen, und das in einer Zeit, wo es den Anschein hat, als gäbe es Gott nicht und als würde keiner nach Gott fragen. Wir dürfen herausfinden, weshalb wir in diesen bewegten Zeiten glauben. Warum? Weil Gott uns seine Barmherzigkeit schenkt und er uns ermutigt, diese Barmherzigkeit mit und in unseren begrenzten Möglichkeiten weiterzugeben. Wir dürfen ehrlich und offen von unserem Glauben sprechen und es auch im Alltag wagen, vom Segen zu erzählen und zu bekennen: da habe ich Segen Gottes empfangen – in einem guten Gespräch, in einer zufälligen freudigen Begegnung, in einem gelingenden Tun, in …
Den Glauben leben – was wäre das für ein Leben! Es wäre nicht einfacher, auch nicht schmerzfreier, aber es wäre ein Leben mit tiefer Gewissheit, dass die Barmherzigkeit Gottes uns trägt. Darum lasst uns den Weg der Gerechtigkeit Gottes gehen! Gott gebe uns Kraft und Mut zum Leben in Barmherzigkeit. Amen.