Mittendrin
Solange nur Christus verkündigt wird, sind wir alle Gewinner und haben Grund zur Freude
Predigttext: Philipper 1,(12)15-21 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
„Ich lasse euch aber wissen, liebe Brüder: Wie es um mich steht, ist nur mehr zur Förderung des Evangeliums geraten. Denn dass ich meine Fesseln für Christus trage, ist im ganzen Prätorium und bei allen anderen offenbar geworden, und die meisten Brüder in dem Herrn haben durch meine Gefangenschaft Zuversicht gewonnen und sind umso kühner geworden, das Wort zu reden ohne Scheu. Einige zwar predigen Christus aus Neid und Streitsucht, einige aber auch in guter Absicht: diese aus Liebe, denn sie wissen, dass ich zur Verteidigung des Evangeliums hier liege; jene aber verkündigen Christus aus Eigennutz und nicht lauter, denn sie möchten mir Trübsal bereiten in meiner Gefangenschaft. Was tut’s aber? Wenn Christus nur verkündigt wird auf jede Weise, es geschehe zum Vorwand oder zur Wahrheit, so freue ich mich darüber. Aber ich werde mich auch weiterhin freuen; denn ich weiß, dass mir dies zum Heil ausgehen wird durch euer Gebet und den Beistand des Geistes Jesu Christi, wie ich sehnlich warte und hoffe, dass ich in keinem Stück zuschanden werde, sondern dass frei und offen, wie allzeit so auch jetzt, Christus verherrlicht werde an meinem Leibe, sei es durch Leben oder durch Tod. Denn Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.“
Exegetische (I.) und homiletische (II.) Erwägungen
I.
Paulus schreibt den Philipperbrief aus der Gefangenschaft heraus (der Ort der Gefangenschaft ist unklar: Ephesus? Cäsarea? Rom? - vieles spricht für Rom). Der Philipperbrief gilt als einer der persönlichsten Briefe des Paulus und erinnert in Vielem an den antiken Freundschaftsbrief. Umstritten ist, ob der Brief einheitlich ist oder eine Zusammenfügung mehrerer Briefe darstellt, wie unterschiedliche Teilungshypothesen vor allem in der älteren Forschung behaupten. Heute tendieren wieder viele Forscher zur Einheitlichkeit. Phil 1,15-21 ist Bestandteil der brieflichen Selbstempfehlung (1,12-30). Die Abtrennung der Perikope erscheint nicht sinnvoll; die Verse 1,12-14 sollten hinzugenommen werden.
Phil 1,14-21 setzt die Inhaftierung des Paulus voraus (1,12-14. 17), die paradoxerweise zur Verbreitung der Christusbotschaft beiträgt. Die Mitarbeiter des Paulus lassen sich nicht abschrecken, sondern fassen im Gegenteil Mut zur intensiven Verkündigung (1,14). Aber auch Konkurrenten und Rivalen, die im Hinblick auf Motivation und Methode der Christusverkündigung andere Vorstellungen als Paulus selbst haben, werden aktiv (1,15-17; konkurrierende Verkündigungsformen und -Personen sind – ganz abgesehen von der Häresieproblematik – immer wieder ein Thema in den Paulusbriefen; vgl. z.B. 1 Kor 1,10-17). Doch Paulus kann sowohl in konkurrierenden Verkündigungsformen und -Motivationen als auch in seiner Inhaftierung das Positive sehen: Hauptsache Christus wird verkündigt (vgl. zu diesem Gedanken, wenn auch anders akzentuiert, 1 Kor 9,19-23)! Wenn das geschieht, ist das für Paulus Grund zur Freude. Paulus ist zuversichtlich: „Der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird’s auch vollenden“ (1,6). Paulus weiß, dass Gott durch und in ihm wirkt, egal in welcher Lebenssituation. „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht“ (4,13).
Gerade in Bedrängnis kann Christus wachsen, was Paulus am eigenen Leib erfährt (1,12-14): Sein Martyrium wird zum Christuszeugnis und zur Förderung des Evangeliums (1,12-13.20). „Christus ist mein Leben und Sterben mein Gewinn“ (1,21). Weil das so ist, kann selbst aus dem Bösen Gutes wachsen und Christus verherrlicht werden. Entscheidend ist für Paulus das „Dass“ der Christusverkündigung (1,18), auch wenn das „ Wie“ und „Warum“ nicht seine Zustimmung findet, ja selbst wenn Paulus bestimmte Formen der Christusverkündigung als fehlerhaft oder zweifelhaft ansieht („aus Neid und Streitsucht“; „ aus Eigennutz und unlauter“: 1,15.17). Methode und Motivation erscheinen letztlich als zweitrangig. Diese Toleranz gilt indes nicht für den Inhalt. Hier kennt Paulus wie gewohnt keine Kompromisse (vgl. z.B. Gal 1,6-9; 2 Kor 11,4). Für die judenchristlichen Gegner findet Paulus im Philipperbrief deutliche Worte (z.B. 3,2f).
II.
Phil 1, (12-14)15-21 bietet viele Ansatzpunkte für eine Predigt, z.B. die Freude auch im Leiden, weil in Christus das Leben ist (1,21; vgl. auch die Epistellesung 2 Kor 1,3-7). Ich entscheide mich für einen anderen Skopus. In unserer Gemeinde und Region herrscht zur Zeit Bedrängnis, weil einschneidende Strukturreformen anstehen. Wir sind gefangen in Sparzwängen, alte Traditionen sterben. Da ist Pauli Brief an die Philipper wie für uns geschrieben: Der Aufruf zur Freude (1,4.18; 2,29; 3,1; 4,1.4-6) und die Mahnung zur Einheit (1,27; 2,2) treffen ins Schwarze. Am 18. März ist bei uns zudem Kirchenvorstandswahl, was die Diskussion um die aktuellen Strukturreformen anheizt. Das Thema liegt sozusagen oben auf. Einige sind angesichts der aktuellen Lage frustriert und gelähmt, aber andere engagieren sich gerade weil Bedrängnis herrscht und Not am Mann ist. Die Situation führt zu Konflikten und Diskussionen; die Frage nach den Rahmenbedingungen der Christusverkündigung wird laut: In welchen kirchlichen Strukturen kann Christus in der Zukunft verkündigt werden? Hier ist Phil 1,18 für mich ein Schlüssel: Solange nur Christus verkündigt wird, sind wir alle Gewinner. Und weil das so ist, gibt das Grund zur Freude: Lätare!
Für die Predigt wähle ich einen narrativen Rahmen (fiktive KV-Sitzung / Gemeindefest), um dann den Gedanken von Phil 1,18 auf dem Hintergrund unserer Gemeindesituation zu entfalten. Was die narrative Konkretion betrifft: Meine Gottesdienstgemeinde ist Selbstironie in Predigten gewöhnt, das ist vielleicht nicht überall übertragbar!
Zur Liturgie
Psalm 84
Epistel: 2 Kor 1,3-7
Evangelium: Joh 12,20-26
Lieder
„Tut mir auf die schöne Pforte“ (EG 166, 1.4-5)
„Sonne der Gerechtigkeit“ (EG 263,1-2.4-5)
„In dir ist Freude“ (EG 398)
„Vertraut den neuen Wegen“ (EG 395)
„Wer nur den lieben Gott lässt walten“ (EG 369,1-2.7)
Lernbereit
Mir schräg gegenüber sitzt Herr D. Er ist einer von denen, die sich nicht zurückhalten, sondern stets an vorderster Front kämpfen. Die 73 Jahre merkt man dem Mann mit der stattlichen Statur nicht an. Herr D. weiß genau, was richtig und was falsch ist. Seit 40 Jahren ist er im Kirchenvorstand und haut schon mal mit der Faust auf den Tisch. Vor allem dann, wenn es modern wird. Das mag Herr D. nämlich gar nicht. Disziplin und Tradition sind ihm wichtig, im Schützenverein und in der Kirche. Alles Neumodische ist ihm ein Dorn im Auge, und das sagt er auch laut und deutlich. Stille Töne sind nicht seine Sache, englische schon gar nicht. Unseren Gospelchor mag er nicht. Lieber den Kirchenchor, denn die singen deutsch. Manche halten Herrn D. für unbelehrbar, aber man kann von ihm lernen. Heute zum Beispiel. Wir haben eine schwierige Kirchenvorstandssitzung. Die Fusion mit den Nachbargemeinden steht auf der Agenda. Dabei geht es auch um den Abbruch alter Traditionen bis hin zum Abriss des Gemeindehauses.
Weil viel auf dem Spiel steht, wird es kontrovers. Da sind die „jungen Wilden“, dynamisch und progressiv, die voran preschen und sich als Architekten neuer Strukturen inszenieren. Da sind die Skeptiker, die das Gewohnte bewahren wollen, die abwägen, Bedenken formulieren und Ängste äußern. Und da ist Herr D. Der ist weder ängstlich noch progressiv. Der ist ein alter Kämpfer. Heute ist Herr D. ungewöhnlich still, obwohl die Strukturdebatte um ihn herum tobt und wütet. Ich frage mich: Wird unser alter Kämpfer etwa müde oder kommt da die Altersmilde durch? Weder noch. Plötzlich wischt er mit einer dynamischen Handbewegung all die Papiere zur Strukturreform in die Mitte des Tisches, weit weg von sich. „Alles Mist, aber was soll’s? Solange es nur weitergeht mit der Kirche, ob ihr das nun falsch oder richtig macht, solange keiner den lieben Gott vergisst, bin ich zufrieden!“
Christusbezogen
Herr D. weiß, worauf es ankommt. So wie Paulus. Ein bisschen erinnert mich Herr D. an diesem Abend an Paulus in der Gefangenschaft. Paulus sitzt irgendwo in einem Kerker und schreibt einen Brief an die Gemeinde in Philippi. Er jammert nicht und klagt nicht, er beschwert sich auch nicht über die, die ihn in Fesseln gelegt haben. Alles, was er über sich schreibt, ist auf Christus bezogen. Darum ist die Freude der herrschende Ton, nicht die Klage. Gerade weil er gefangen ist, verkündigen andere mutig das Evangelium. Natürlich sind auch solche darunter, die sich freuen, dass Paulus weg ist und dass sie nun an die Reihe kommen. Paulus macht keinen Hehl daraus, dass ihm diese Leute nicht passen. Aber sie verkünden das Evangelium. Darauf kommt es letztlich an. Paulus fragt nicht: Sind es richtigen Leute, die sich nun Raum verschaffen? Was für eine Motivation haben sie? Wer ist mir gegenüber loyal? Sondern seine Leitfrage heißt: Wird Christus verkündigt? Weil das so ist, ist Paulus‘ Bilanz positiv: Das Evangelium wird verkündet, Christus wächst und das ist Grund zur Freude. Paulus schreibt:
(Lesung des Predigttextes).
Ein bisschen geht es uns allen zurzeit wie dem eingekerkerten Paulus. Es scheint, dass auch unserer Kirche Fesseln angelegt sind. Wir sind gefangen in Systemzwängen, der finanzielle Spielraum wird enger, die Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt. Signalworte wie verbundenes Pfarramt, Aufgabe von Gemeindehäusern, Sparrunden oder Gemeindefusion geistern durch unsere Köpfe, bewegen unsere Herzen und sind Thema in Gemeindegruppen, auf Konferenzen, in Gesprächen auf der Straße. Aus dem Vollen schöpfen wir in der Kirche schon lange nicht mehr. Es ist klar, dass unsere kirchliche Landschaft in Zukunft anders aussehen wird. Das tut weh: Wovon müssen wir Abschied nehmen? Was wächst da Neues? Allerorts werden strategische Erwägungen angestellt: Stärken wir die Starken oder machen wir gerade die Schwachen stark? Aber auch ganz persönliche Fragen werden laut: Welche Gemeinde gewinnt durch den Reformprozess und welche verliert ihr Gesicht?
Verunsicherung, Verlustängste, Konkurrenzkampf, aber auch Innovationslust, persönliche Eitelkeit und Reformeifer beherrschen die kirchliche Landschaft in unserer Region. Was für die einen ein spannendes Strategiespiel darstellt und sich für die anderen als riskanter Deal anfühlt, ist für viele wirklich bitter, gerade hier bei uns auf dem Land: Gibt es in Zukunft noch Gottesdienste in meiner Ortskirche, die ich ohne Auto erreichen kann, auch wenn ich schlecht zu Fuß bin? Was wird aus dem Jugendkeller, wo ich tolle Abende verbracht habe, wenn unser Gemeindehaus verkauft wird? „Wie lieb sind mir deine Wohnungen, Gott Zebaoth!“ (Psalm 84,2). Wie weh tut es, aus dem Vertrauten und Liebgewonnenen ausziehen zu müssen! Das ganze Szenario kann sich schon wie ein Martyrium anfühlen und einen lähmen.
Von Paulus lernen
Paulus lenkt unseren Blick weg von unseren Ängsten und Wunden, von unserer Eitelkeit und unseren Strategiespielen hin auf den, auf den es wirklich ankommt: auf Jesus Christus. Solange wir auf Christus sehen und ihn verkündigen, sind wir auf dem richtigen Weg. Diese Botschaft kann befreiend sein und Druck von uns nehmen. Denn von einem ist Paulus überzeugt: Was Gott begonnen hat, bringt er zu Ende. Es hängt nicht alles von uns ab. „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.“ (Phil 4,12) Auch wenn die Umstände bitter sind, auch wenn ich in Fesseln liege, so gilt doch: Das Evangelium wird verkündigt und Christus wächst und wird in Zukunft wachsen. Darauf kommt es an. „ Aber ich werde mich auch weiterhin freuen; denn ich weiß, dass mir dies zum Heil ausgehen wird durch euer Gebet und den Beistand des Geistes Jesu Christi!“ (Phil 1,18b-19)
Auch aus unserer Krise kann Neues und Gutes wachsen. Vielleicht schrumpfen wir uns ja gerade gesund? Der Heilige Geist kommt als Pleitegeier – so hat es jemand formuliert. Wer weiß? „Wenn sie durchs dürre Tal ziehen, wird es ihnen zum Quellgrund, und Frühregen hüllt es in Segen. Sie gehen von einer Kraft zur anderen und schauen den wahren Gott in Zion!“ (Psalm 84,7f) Wir brauchen Offenheit und vor allem die richtige Vision. Das ist weder die alte Tradition noch die neue Idee, sondern die Verkündigung des Evangeliums. Zu sehen und zu prüfen, was der Christusverkündigung dient – das ist der richtige Kompass in unserem Reformprozess.
Viele Wege führen hier zum Ziel. Christusverkündigung kann in alten Traditionen geschehen oder mit ganz neuen Ideen, sie kann zur Bestandssicherung bewährter Strukturen oder auch zu innovativen Reformen führen. Das kann uns persönlich passen und unseren Geschmack treffen oder auch nicht. „Was tut’s aber? Wenn Christus nur verkündigt wird auf jede Weise, es geschehe zum Vorwand oder zur Wahrheit, so freue ich mich darüber.“ (Phil 1,18) Darauf kommt es an, und das können wir von Paulus lernen. Seine Worte reißen uns aus unserem Ineinanderverbissensein und den quälenden Fragen, mit denen wir nacheinander schnappen wie verwundete Tiere: Wer ist Gewinner? Wer ist Verlierer? Solange nur Christus verkündigt wird, sind wir alle Gewinner. Wenn das so ist, gibt es Grund zur Freude: Lätare! Freut euch!
Die Spielkreiskinder toben zwischen den Tischen. Stimmengewirr und Lachen erfüllt den Gemeindesaal. Die Stimmung ist gut. Auch für das leibliche Wohl ist reichlich gesorgt. Unser Gospelchor singt und improvisiert mit Lust und Leidenschaft, während die jungen Wilden ihre Köpfe zusammen stecken und schon an den neuen Strukturen feilen. Wir feiern Gemeindefest. Und Herr D. ist mittendrin. Das vom Weltgebetstag der Frauen inspirierte malaysische „Jeder-bringt-was-mit-Büfett“ ignoriert er demonstrativ und bleibt seiner deutschen Bratwurst treu. Bei der Zugabe des Gospelchores drückt er beide Ohren zu, und auch den wieder mal viel zu kurzen Rock der Pastorin übersieht er geflissentlich. Das alles ist nicht mehr seine Welt. Aber Herr D. fühlt sich nicht als Verlierer, solange es nur weitergeht. „Was tut’s aber? Wenn Christus nur verkündigt wird auf jede Weise, es geschehe zum Vorwand oder zur Wahrheit, so freue ich mich darüber.“ (Phil 1,18)