Moral und Glaube

Wie lebt, glaubt, liebt man richtig?

Predigttext: Lukas 7,36-50 (mit Einführung)
Kirche / Ort: Hamburg
Datum: 20.08.2023
Kirchenjahr: 11. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pastor Christoph Kühne

Predigttext: Lukas 7,36 (eigene Übersetzung Christoph Kühne)

Es bat (s. V3+4) ihn aber einer von den Pharisäern, mit ihm zu essen; und er kehrte in das Haus des Pharisäers und legte er sich zu Tisch.
37 Und siehe: eine Frau, - die war in der Stadt „ein Sünder“ (s. V 34) -, die wusste, dass er zu Tische lag in dem Hause des Pharisäers, und die ein Alabastergefäß mit Myrrhe-Öl mitgebracht hatte,
38 und sich hinter ihn zu seinen Füßen gestellt hatte, die geweint hatte, die begann, mit den Tränen seine Füße zu benetzen, und mit den Haupthaaren trocknete sie sie ab, und küsste seine Füße (zärtlich) und salbte sie mit der Myrrhe.
39 Aber als der Pharisäer - sein Gastgeber - dies sah, sagte er zu sich:Dieser - wenn er (der) Prophet wäre, (dieser) hätte doch wohl erkannt, wer und was für eine die Frau ist, die ihn berührt und dass sie „ein Sünder“ ist.
40 Und Jesus antwortete ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Und der : Lehrer, sprich, sag an!
41 (Jesus sprach:) Zwei Schuldner (lat. debitores) hatte ein Gläubiger; der eine schuldete 500 Denare (also zwei Jahresgehälter), der andere aber 50 (das Einkommen eines Vierteljahres).
42 Dar  sie nicht genug hatten, um zurückzuzahlen, schenkte er es beiden. Wer nun von ihnen liebt ihn mehr?
43 Simon gab zur Antwort: Ich vermute, der, dem mehr geschenkt wurde. Er aber sprach zu ihm: Du hast richtig geurteilt.
44 Und mit einer Wendung zu der Frau sprach er zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen, Wasser für die Füße hast du mir nicht gegeben; sie aber hat mit Tränen meine Füße genetzt und mit ihren Haaren getrocknet.
45 Einen Kuss hast du mir nicht gegeben; sie aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht nachgelassen, meine Füße zu küssen.
46 Mit Öl hast du mein Haupt nicht gesalbt; sie aber mit Myrrhe hat meine Füße gesalbt.
47 Darum sage ich dir, ihre Sünden, die vielen, sind vergeben, ((deshalb hat sie viel geliebt; wem aber wenig vergeben ist, liebt wenig.))
48 Er sprach aber zu ihr: Vergeben sind dir deine Sünden.
49 Und die Gäste begannenunter sich zu reden: Wer ist der, der auch Sünden vergibt?
50 Er sprach aber zu der Frau: Dein Glaube hat dich gerettet; geh hin in (den) Frieden.

Anmerkungen zum Text

Der Text ist lukanisches Sondergut und gut erhalten.

37 Die Frau ist DIE Sünderin in der Stadt; Var: Sie ist irgendeine Sünderin

38 Sie begann die Füße … zu benetzen; Var: Sie benetzte …

Sie trocknete dauernd die Füße; Var: Sie trocknete ein für alle mal

39 Der Pharisäer, der ihn eingeladen hatte; Var: bei dem er eingekehrt war

Wenn dieser DER Prophet wäre - gemeint könnte Elia sein; Var: Wenn dieser ein Prophet wäre

45 Einen (Begrüßungs- ?) Kuss hast du mir nicht gegeben; Var: Einen Kuss der Liebe hast - vgl 1P 5,14

Seitdem ich eingetreten bin; Var: Seit sie eingetreten ist

47 Vergeben sind alle ihre Sünden; Var: Dieser ist alles vergeben

Darum sie hat viel geliebt; Var: 47b entf. - nicht: … weil sie viel geliebt hat

50 Geh in den Frieden; Var: Geh im Frieden

Erste Gedanken beim Lesen des Textes

Beim ersten Satz erstaunt mich, dass ausgerechnet ein Pharisäer Jesus zum Essen einlädt. Haben wir ein falsches Bild von den Pharisäern? Oder gehörte Jesus vielleicht auch zu ihnen? Jesus geht mit und lässt sich ein.

Mein Erstaunen setzt sich fort beim Lesen der folgenden Verse. Eine „Sünderin“ nähert sich Jesus. Kannten sich die beiden? Die Frau geht zielsicher auf Jesus zu - die Umstehenden und -sitzenden stören sie nicht. Und was jetzt folgt, ist von tiefen Gefühlen geprägt. Sie hat wohl Jesus sehr geliebt, wenn sie weint und ihn salbt. Und Jesus lässt es zu.

Und dann nehme ich an einem Gespräch zwischen Jesus und dem Pharisäer teil, das von einem Realismus zeugt, der Jesus zu eigen war.

Bislang hat Jesus der Frau den Rücken zugekehrt. Jetzt dreht er sich zu ihr um und spricht zu dem Pharisäer, konfrontiert ihn, der ihn vorher „Meister“ genannt hat.

Und dann der Abschluss mit dem Vorbild einer Sündenvergebung. Die Gedanken der Teilnehmer schlagen Purzelbäume. Aber sie reden nicht laut. Jesus bleibt bei der Frau und verstärkt seine Sündenvergebung, indem er ihre Zuversicht, ihren Glauben betont. Das gilt. Sonst nichts.

Wie gehen wir mit Menschen um? Was können wir aus dieser Geschichte lernen? Lust auf die

Literatur

Schalom Ben Chorin, Bruder Jesus, S. 17ff, 100ff, 14. Aufl. 1992
Eugen Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese Band I, S. 450ff, 4. Aufl. 1987
Martin Scherer, Hingabe, 2021
Das Neue Testament - jüdisch erklärt, 2017 / 2021
Luzia Sutter Rehmann, Wut im Bauch, 2014

 

Lieder

Eckard Bücken, Weil wir von Hilfe leben
Befiehl du deine Wege (EG 361)
Schönster Herr Jesu (EG 403)
Jürgen Werth, Wie ein Fest nach langer Trauer
Friedrich Karl Barth, Wir strecken uns nach dir

 

 

zurück zum Textanfang

Wie passen Moral und Glaube zusammen? Ich kann mir vorstellen, dass viele unter uns meinen, wer an Gott glaubt, hat eine bessere Moral als „gottlose Menschen“. (Schon der Begriff „gottlos“ zeigt ja schon den „bösen“ Charakter eines Menschen!?) Für unsere Zeit heute ist es interessant, dass sich Menschen in Zirkeln, kleinen Gemeinschaften und Clubs versammeln. Das gilt für den religiösen wie auch den politischen Bereich. Wir scheinen die große Offenheit und Freiheit der Demokratie und Vielfalt nur schwer ertragen zu können. In den Zirkeln gibt es klare Regeln, an die sich alle halten. Und diese Regeln lassen sich auch an der Kleidung oder an Symbolen erkennen. Manche wünschen sich, dass auch die Kirche etwas lauter sagen möge, was sich gehört und woran wir uns halten können. Ertragen wir unsere Freiheit nicht mehr?

I.

In unserem heutigen Predigttext treten „die Pharisäer“ auf. Wir kennen sie als Feindbild Jesu und der neuen Bewegung, die sich später Christentum nennt. Doch wer sind diese (Männer). Der jüdische Philosoph Schalom Ben Chorin beschreibt in seinem Büchlein „Bruder Jesus“ die Pharisäer als Schriftgelehrte, die das ganze Leben „einheiligen“ wollten. Er schreibt: „Nichts lag ausserhalb dieser einzuheiligenden Sphäre: Essen und Trinken, Arbeit und Ruhe, Geschlechtsleben und Hygiene, Kleidung und Haartracht, und nichts war zu gering, um nicht mit letztem Ernst in den Dienst Gottes mit hineingenommen zu werden“ (Ben Chorin 17). Sie waren also die Frommen, die mit Gott Ernst machen wollten. Und da sollte es keinen Bereich des Lebens geben, der nicht unter Gottes Schutz und Blick liegt. „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt“, dichtet Paul Gerhardt, und jeder von uns wird diese Zeile und auch das ganze Lied mitsingen. Könnten wir uns vorstellen, dass Jesus zu solchen Menschen gehört hat, dass er mit ihnen gebetet hat: Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name – im Himmel wie auch auf Erden!? Ein solcher frommer Mensch lädt Jesus zum Essen ein. Ich lese unsere heutige Predigtperikope Lk 7,36-50.

(Lesung des Predigttextes)

II.

Welche Gedanken, Bilder gehen Ihnen jetzt durch den Kopf? Ich muss sagen, dass ich diese Geschichte unerhört erotisch finde, dass sie mich anrührt und bewegt. Und dass sie eine typische Jesus-Geschichte ist – mit ihrer Auflösung. Und wie so oft möchte ich Ihnen diese Geschichte erzählen, den einzelnen Schritten nachgehen, die etwa diese Frau in unserer Geschichte geht.

Beginnen wir bei dem Pharisäer. Er lädt Jesus zum Essen ein. Wenn uns auch Lukas oft von Gastmählern erzählt, so hören wir niemals vom Kochen oder Schmausen. Wir hören keine Lieder, sehen niemanden tanzen. Die Menschen liegen zu Tische, auf Polstern vermutlich, die Beine nach hinten gestreckt. Gab es Gespräche? Gab es einen Anlass? Vermutlich Männer unter sich. Der Pharisäer wollte den berühmten Prediger und Heiler bei sich haben. Woher kannte er ihn? War Jesus auch ein Pharisäer, ein Schriftgelehrter, ein Frommer?

Unsere Gedanken werden plötzlich gestört. Eine Frau tritt auf. Nein – DIE Frau des Ortes bricht in diese Männerwelt ein. Sie war gut informiert, wusste, dass sie Jesus hier treffen würde. Sie hat in ihren Händen ein Alabasterfläschchen mit Myrrhe-Öl. An anderer Stelle wird über den Wert dieses Öl spekuliert – hier nicht. Vielleicht, weil alles so schnell ging. Wir hören sie weinen und sehen, wie sie ihre Tränen mit ihren Haaren trocknet. Wir nehmen teil an intimen Küssen der Füße. Und dann salbt sie diese Füße mit Öl.

Noch können wir nicht fassen, was geschieht. Der Pharisäer ist berührt – und fassungslos: Weiß Jesus nicht, was hier geschieht? Weiß er nicht, dass sie DIE Frau der Stadt ist? Er meinte, mit Jesus einen Propheten bei sich eingeladen zu haben, also einen, der in die Tiefe blicken kann, der den Menschen kennt. Manche sagen sogar, er sei DER Prophet, ja sogar der Messias …

Unsere Geschichte verläuft bis jetzt stumm und ohne Worte. Aber jetzt hört man eine Stimme: Jesus spricht den Pharisäer an – er hat im Gegensatz zu der Frau einen Namen: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er: Gerne. Jesus erzählt die kleine und gewaltige Geschichte von den beiden Schuldnern. Der eine hat große, der andere kleine Schulden bei einem Gläubiger. Beide können nicht zahlen. Das bedeutet Pfändung oder Gefängnis. Auf jeden Fall, eine Sanktion. Doch der Gläubiger erlässt beiden ihre Schuld. Wie auf einem Transparent leuchtet über der Szene auf: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Wer von den Beiden wird den Gläubiger mehr lieben? Die Antwort des Frommen ist klar.

III.

Jetzt erst wendet sich Jesus der Frau zu – und spricht zu dem Pharisäer, hat also BEIDE im Blick. Es sind einfache Tatsachen, die Jesus feststellt und die den Unterschied zwischen dem Frommen und „dem Sünder“ aufzeigen: Der Gastgeber hat Jesus nicht die Füße gewaschen. Eine Verletzung der Etikette. Er hat ihm nicht die gebührende Begrüßung zuteilwerden lassen. Jene Frau aber hört nicht auf, seine Füße zu küssen. Auch eine Salbung hat nicht stattgefunden, die DIESE Frau mit kostbarem Öl an ihm vollzogen hat.

Und jetzt kommt die tiefste Stelle der Geschichte. DIESE Frau hat um die Vergebung gewusst, darum konnte sie lieben. Wem viel vergeben ist, der liebt viel und tief. Aus der Vergebung leben – das ist vielleicht der innigste Gedanke des Vaterunsers. „Weil wir von Liebe leben“, singt ein neues Kirchenlied. Und vielleicht ist Vergebung das Licht gewesen, das Jesus immer umgeben hat, sodass Menschen wieder lebendig geworden sind, wieder reden konnte, wieder sehen und laufen und ins Leben gehen konnten. Weil sie die Kraft und den Schein der Vergebung bei Jesus gesehen haben. Darum ist auch DIE Frau zielsicher und unbeirrt durch den Pharisäer in das Haus gegangen, zu Jesus. Vielleicht wollte sie sein Haupt salben, ihn zu ihrem König salben, ihrem König der Liebe. Und vielleicht hat sie seine „Vergebung“ erschüttert, sodass sie zusammengebrochen nur noch weinen konnte …

Durch ihre Tränen mag sie die Stimme „ihres Königs“ gehört haben: Deine Sünden sind dir vergeben. Dein unglaublicher Glaube hat dich gerettet. Geh in deinen Frieden! Es ist ein Segenswort, das wir am Ende des Gottesdienstes hören: Geht in den Frieden des Herrn – wie in einen Raum, eine neue Welt, die Euch stark macht, mündig und froh. Und wisst euch von Vergebung getragen. Das ist der ganze Gottesdienst. Mehr braucht es nicht.

Aber brauchen und wollen wir nicht wenigstens ein paar kleine Anleitungen für unser Leben? Wie liebt man richtig? Wie lebt man richtig? Vielleicht beginnt richtiges Leben mit einer Einladung. Zum Essen. Und dann erleben wir, dass wir IHN zu uns eingeladen haben. Können wir uns öffnen? Können wir bereit sein für eine Störung, die  uns „Vergebung“ spüren lässt? Wer ist schon ohne Sünde? Und was ist eine große, was eine kleine Schuld? So viel es an uns ist, lasst uns einander vergeben. Vielleicht brechen wir unter der Last unserer Sünden zusammen, sodass Angst und Schwermut uns zu erdrücken scheinen. Jene Frau konnte weinen und das Kostbarste, was sie hatte, weitergeben. Und so fühlte sie sich gesandt in einen Frieden, der sie hat leben lassen. Vielleicht erkennen wir uns in dieser Frau wieder und nahen uns dem, der die Vergebung und das Leben ist. Und vielleicht fangen wir dann an zu singen, unseren Glauben zu singen, wie uns Martin Luther empfohlen hat. Anfangen können wir mit Paul Gerhardts Lied: Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt!

 

 

 

zurück zum Textanfang

Ein Kommentar zu “Moral und Glaube

  1. Pastor i.R. Heinz Rußmann

    Nach der sehr gründlichen und lebendigen Exegese und den Predigtüberlegungen von Pastor Kühne folgt eine sehr lebendige Predigt. Sie enthält gründliche Überlegungen und aktuellen Thesen zur Freiheit unseres Glaubens bei Jesu Umgang mit einer frommen Prostituierten und einem streng gesetzlichen Pharisäer. Die Predigthilfe von Pastor Kühne ermutigt, über den gewagten Text lebendig und aktuell zu predigen.

Ihr Kommentar zur Predigt

Ihre Emailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert.