Vor den Augen einer ganzen Stadt war er hingerichtet worden, verurteilt zu einem Tod, der über ihn Schimpf und Schande bringen sollte. Was er auf seinen Wegen im Land Menschen nahegebracht hatte als befreiende, lösende Worte und Taten im Namen Gottes und seiner Kraft, das sollten sich die Leute möglichst ganz schnell wieder aus dem Kopf schlagen. In der Geschichte, von der der heutige Tag seinen Namen hat – Christi Himmelfahrt – geschieht mit ihm erneut etwas vor den Augen von Menschen. Doch es ist fast paradox: vor den Augen der Jünger wird er jedem menschlichen Auge entzogen.
Die biblische Geschichte von der Himmelfahrt Christi ist keine Reportage, wie wir sie aus den Nachrichten kennen. Sie erzählt das Ihre vielmehr Zug um Zug im Gegensinn gegen jene Geschichte, die den Wegen Jesu mit seiner Kreuzigung in Jerusalem ein definitives Ende bereiten wollte. Sie lässt just dort einen neuen Weg anfangen. Auf dem ist Jerusalem nicht Endstation, sondern Ausgangspunkt. „Ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem, in ganz Judäa und Samarien, bis an das Ende der Erde.“ Ein neuer, offener Weg tut sich auf, auf den die Jünger berufen werden und mit ihnen auch wir. Ein Weg fängt an, der in sich noch unendlich viele neue Anfänge enthält. So offen ist er und frei. Für ihn wird uns ein besonderes Versprechen mitgegeben. Neue Kräfte sollen in uns frei werden. Zwar: mit beiden Beinen auf der Erde werden wir diesen Weg gehen. Aber uns wird zugesagt, dass uns eine Kraft begleitet, die wie aus dem schöpferischen Geist Gottes gespeist wird. Keineswegs völlig losgelöst von der Erde werden wir uns dann auf unseren Wegen fühlen. Aber doch so, dass unsere Kräfte nicht mehr nur wie von lauter Hamsterrädern gebunden werden und sich wie in endlosen Tretmühlen verzehren müssen.
Folgen wir also dem Weg, auf den uns die Geschichte weist. Station für Station führt er uns zunächst dorthin zurück, wo Jesus begann, öffentlich aufzutreten – in der nordöstlichsten Randprovinz des Landes. Von Jerusalem aus geht es über Judäa und Samaria auf diese Gegend zu, wo alles angefangen hatte. Eine erste Rückblende spielt sich in die Geschichte von seiner Himmelfahrt ein – eine Rückblende auf eine Begebenheit, die seinem öffentlichen Wirken im Land noch vorausging. Die Geschichte von der Himmelfahrt erzählt, wie er zuletzt seinen Weg in den Himmel antritt. Das erinnert daran, wie am Anfang seiner Wege durch das Land aus dem Himmel heraus etwas von Gott zu ihm gekommen ist.
Die Szene: Wir sehen, wie Jesus sich von Johannes taufen lässt. Er kommt zunächst wie einer von Vielen dorthin. Doch während er betet, tut sich der Himmel auf, und eine Stimme sagt: „Du bist mein geliebter Sohn. An Dir habe ich Gefallen.“ Diese Worte gelten nur ihm. Höchste Würde wird ihm aus allerhöchstem Mund unter den Vielen zugesprochen. Eine Berufung, wie sie nicht höher ausfallen könnte, wird ihm zuteil. Wohin wird er gehen, ausgezeichnet mit dieser Würde? Was wird er anfangen mit dieser einzigartigen Berufung?
Es passiert etwas Einzigartiges. Als ob anderes für ihn gar nicht in Frage käme, wendet sich Jesus immer wieder Menschen zu, die ihrerseits von einer auch nur annähernd vergleichbaren Würde nicht einmal von ferne hätten träumen können. Es sind z.B. arme und verelendete Leute, zu denen er geht. Es sind gebeugte und gezeichnete Existenzen, in denen er Kräfte weckt. Es sind Kranke, die er heilt und aus der Gemeinschaft ausgeschlossene Personen, mit denen er Kontakt pflegt. Es sind auch solche dabei, die in durchaus guten Verhältnissen leben und die dabei doch innerlich unglücklich sind wie kleine Kinder, wenn sie nach Zuwendung schreien. Ihnen allen schenkt er den vielleicht ersten wirklich gelösten Moment in ihrem Leben. In seiner Gegenwart gelingen ihnen erste neue Schritte auf eigenen Beinen in aufrechtem Gang.
Nein, für niemanden soll es am Ende bloß so gewesen sein, als ginge es in unserem Leben zu wie in einem Spielkasino oder an einer Börse. Man gibt seinen Einsatz. Man kann gewinnen, viel, sehr viel sogar aber auch verlieren, vielleicht sogar alles. Nein: davon soll keine Kraft irgendeines Menschen am Ende bloß gebunden und schließlich ganz verzehrt worden sein, dass es im Leben immer wieder nach dem Grundsatz zugeht: Zieh dein Los. Wenn du zu den Glücklichen gehörst, freu dich und habe deine Ruhe. Wenn du aber Pech hast und verlierst, dann wird man sicher tausend Gründe finden, warum du es nicht besser verdient hattest. Ein solches absurdes Theater soll es für kein Menschenleben am Ende bloß gewesen sein – an dem Ende, wenn der, der jetzt menschlichen Augen entzogen ist, einmal so wiederkommen wird, dass alle Augen ihn sehen, wie Gott ihn berufen hat. Denn die Geschichte von Christi Himmelfahrt deutet an ihrem Ende an: Er wird wiederkommen auf den Wolken des Himmels. Mit dem Stichwort von der Wolke spielt uns die Himmelfahrtsgeschichte eine weitere Rückblende auf den Weg Jesu vor seinem Tod in Jerusalem ein.
Die Szene diesmal: Erneut finden wir Jesus im Gebet. Plötzlich erscheint er ganz anders, als menschliche Augen ihn zu sehen gewohnt waren. Sein Gewand ist strahlend weiß. Zwei Männer treten hinzu und besprechen sich mit ihm. Die Jünger erleben das ganze nur noch halbbewusst, wie im Schlaf. Dann kommt eine Wolke und hüllt alle ein. Aus ihr heraus hört man wieder dieselbe Stimme: „Du bist mein geliebter Sohn. An Dir habe ich Gefallen.“ Der allerhöchste Mund spricht wieder. Es ist, als bestätige er die einzigartige Würde und Berufung für Jesus noch einmal und bestätige zugleich, auf welchen Wegen Jesus mit ihr ausgestattet unter Menschen unterwegs war. Von jenem Moment an führen seine Wege dann über Judäa und Samaria schnurstracks nach Jerusalem.
„Es begab sich aber“, so erzählt es das Lukasevangelium kurz darauf, „als die Zeit erfüllt war, dass er aufgenommen werden sollte, da richtete er sein Angesicht stracks nach Jerusalem zu gehen.“ Schon deutet sich die letzte Szene an, wie Jesus vor den Augen einer ganzen Stadt hingerichtet werden wird, und zwar so, dass es über ihn für immer Schimpf und Schande bringen sollte. Doch von der Himmelfahrtsgeschichte angeleitet finden wir an genau dieser Stelle auch schon, wie sich – den Augen von Menschen verborgen – ein ganz neuer offener Weg für ihn abzeichnet und auftut. Genauso wie er von Gott in der Geschichte seiner Himmelfahrt aufgenommen wird, so war es schon damals, nachdem man ihn einen Tod in Schimpf und Schande hat erleiden lassen.
Vor jedem menschlichen Auge verborgen war Jesus nach seinem Sterben vom Vater aufgenommen worden. Menschliche Geschichte hatte ihn zerschlagen und bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet Gott gleichsam vor die Füße geworfen. Doch Gott hat in keinem Moment davon abgelassen, ihn als seinen geliebten Sohn wiederzuerkennen und mit ihm seine allerhöchste Würde zu teilen. Einen tieferen Einblick in Gottes schöpferische Kraft, in der er wie aus allerhöchstem Munde zu uns redet, gibt es nicht. Aber unsere Wege in eine neue Zukunft tun sich an dieser Stelle auf. Denn daraufhin erhalten wir unsere eigene Berufung aus allerhöchstem Munde. Seine Zeugen sollen wir sein; Zeugen für alles, was wir von ihm gehört und erfahren haben. Zeugen dafür, wie sich bei diesem Gott ein erhabener sicherer Ort auftut für alles Leben, das unsere Geschichte nur auf ihre Weise traktiert und dann Gott gleichsam zerschunden vor die Füße legt.
Zeugen dafür, dass von diesem erhabenen sicheren Ort aus immer wieder neue Wege ausgehen, wo menschliche Augen nur Ende und „nichts geht mehr“ sahen.Etwas von der Kraft, die aus Gottes schöpferischer Hoheit stammt, ist mit dieser Berufung schon unterwegs zu uns und will in uns wirksam werden. Das beginnt damit, dass unsere Kräfte freier werden von manchen Hamsterrädern, in denen sie zuvor gebunden waren. Wo diese Kraft aus Gottes schöpferischer Hoheit einmal angefangen hat, auf ihre Weise an uns zu wirken, da wird sie wie von allein durch uns hindurch auch unter Menschen wirken. Durch uns gelangt etwas von ihr wie von selbst an andere Menschen, die unsere Nächsten sind, und von denen wieder weiter an Menschen, die deren Nächste sind und so weiter – ja, und so weiter bis ans Ende der Erde. Das kann so passieren, dass wir es selber nicht einmal bemerken oder registriert haben, was dabei von uns ausgegangen ist.
Es mögen Begegnungen, Begebenheiten, Situationen gewesen sein, die für uns einfach nur wie ein ganz normaler Alltag waren. Ja, vielleicht sind sogar Momente dabei gewesen, in denen wir uns gar nicht nur so gelöst fühlten. Die uns verheißene Kraft bleibt ja zuletzt Gottes alleinige Kraft, für die wir nur zu Zeugen genommen wurden. Doch an uns vorbei ist ihr Weg dann definitiv nicht gegangen. Er ist erst am Ende der Erde an seinem Ziel. Mit dem Tag dieser Erfüllung sind wir dann aber schon immer jetzt und hier verbunden, in allem, was wir tun, in allem, was an uns getan wird, in allem, was mit uns geschieht. Sogar mit dem, was wir einmal hinterlassen haben mögen wie ein Fragment, wie eine offene Frage, auf die wir keine Antwort fanden. Auch darin sind und bleiben wir dann verbunden mit dem Tag, an dem Gottes schöpferische Kraft ihr Ziel erreicht hat. Wir dürfen uns auf solche Wege rufen lassen. Denn eigentlich sollte dort, in Jerusalem, ja alles aus sein. Doch für uns hat dann dort ein Weg begonnen, für den Gott damals einen neuen Anfang gesetzt hat.