Quasimodogeniti
Es ist alte kirchliche Tradition, dass wir es acht Tage nach Ostern mit diesem so pointiert benannten Sonntag zu tun bekommen. Aus dem 1.Petrusbrief 2,2 stammt der Name: Quasimodogeniti, damit auch schon so etwas wie das Leitthema: Quasi neu geboren oder auch neu gezeugt zu werden in der Begegnung mit dem lebendigen Gott. Eine Woche nach der Auferstehungsfeier: Weißer Sonntag. „Dominica in albis“. Das liturgische Weiß erinnert an das Strahlen der frisch Getauften – „als wären sie neu geboren“. Besonders sinnfällig in der katholischen Kirche: Die weißen Gewänder der Jungen und Mädchen bei der Feier der Erstkommunion – Tauferinnerungskerzen haltend – weisen auf die Taufgnade hin, eine Rettung durchs Wasser hindurch.
Im „dunklen“ Mittelalter, das so dunkel vielleicht gar nicht ist, blieb dieser Sonntag nicht weiß – jedenfalls nicht mehr, und zwar aus sehr hellen und klaren Gründen nicht: Die Taufe, in der Osternacht vollzogen, hatte Neuchristinnen und Neuchristen in großer Zahl zur Welt gebracht. Von ihrem weißen Gewande hieß die ganze Woche „in albis“ – eine Woche lang „ganz in Weiß“. An jedem Tag der Woche zog die Schar der Neugetauften in eine andere Kirche und machte „Station“ beim Gottesdienst. Am „sabbatum in albis“ legten sie die weißen Gewänder ab. Der darauffolgende Sonntag hieß dann auch in der Tat „post albas“ – so steht es noch in den alten liturgischen Büchern -, weil an ihm die an Ostern Neugetauften die weißen Taufgewänder wieder mit der Alltagskleidung vertauschten. Die Trägerinnen und Träger göttlicher Verheißung legen Alltagskleidung an; vom Himmel berührt sehen sie sich doch den Anfechtungen der Wirklichkeit ausgesetzt, in der sie leben – und müssen damit umgehen. Genau dies ist das Thema dieses Tages, genau hier kommt als eine überraschende Verstehenshilfe Jakobs Ringen am Fluss ins Spiel.
(Lesung des Predigttextes 1. Mose / Genesis 32,23-32)
Der alte Jakob soll uns eine Hilfe sein, dem Innersten der Botschaft am Tag des Neuwerdens nach Ostern näher zu kommen. Die erste Reaktion der altkirchlichen Gemeinde auf die Neuankömmlinge eine Woche nach Ostern, vom Taufwasser mindestens noch feucht hinter den Ohren – die erste Reaktion steht in den überlieferten liturgischen Worten des gottesdienstlichen Introitus am Sonntag nach Ostern: „Quasi modo geniti infantes …“ – „Wie neugeborene Kinder verlangt ihr nach der vernünftigen lauteren Milch, damit ihr durch sie zunehmt zu eurem Heil, da ihr ja geschmeckt habt, dass der Herr freundlich ist” (1Petr 2,2+3). Und nun ganz pointiert: Zum Petrusvers von den neugeborenen Kindlein tritt im altkirchlichen Introitus sofort der Ruf: „Exultate Deo adjutori nostro, jubilate Deo Jacob“ (Ps 81,2)! Lobt den Gott Jakobs! Ihr quasi Neugeborenen, der Gott Jakobs hat an euch gehandelt, der Gott Israels! Und was er getan hat, davon spricht Psalm 81: Befreiung aus der Knechtschaft, aus dem Sklavenhaus. Hier knüpft die alte Liturgie von Quasimodogeniti an. Tiefster Seinsgrund des Sonntags nach Ostern, der sich des befreienden Gottes vergewissert.
Besiegelung der Exodusfreiheit
Dieser Tag feiert die Besiegelung der Exodusfreiheit. Dieser Tag ist jüdisch begriffen das Beschlussfest zu Pessach eine Woche danach, wie er christlich die Oktav zu Ostern ist. Siegel, Unterschrift! Die Alte Kirche will nicht anders Weißen Sonntag feiern als in dieser zweifachen Blickrichtung: Die neugetauften Kindlein in Christus kriegen mit Psalm 81 das Lob auf den Gott des Exodus zu hören. Den befreienden Gott zu loben ist „Satzung für Israel und eine Ordnung des Gottes Jakobs“ (Ps 81,5), der sich an Israel erweist als der Befreier aus der Knechtschaft: „Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus Ägyptenland geführt hat: Tu deinen Mund weit auf, lass mich ihn füllen!“ (V11).
Die Alte Kirche füllt den Mund der österlichen Milchbabies mit Exodusgeschichte, mit der Kunde von Gott, der aus den Todeskammern befreit. Die frühe Christenheit hat etwas verstanden von der Analogie der göttlichen Befreiungstaten, die gründet in der Selbigkeit Gottes. Die Alte Kirche empfängt „post albis“ die Neugeborenen, die es mit dem Osterleben zu tun bekommen haben, mit Israels Lob des Gottes, der immer schon unendliches Interesse am Leben hat und nicht am Tod, am Exodus und nicht an knechtenden Verhältnissen, an Neuschöpfung aus dem Chaos, am Neuaufbruch aus der Lethargie – eben am Neuwerden durchs Wasser hindurch.
Jakob am Fluss, am Grenzfluss, geographisch und mental. Es braucht den Fluss, Wasser, Meer, es braucht den bewussten Übergang, den Durchzug, den Schritt durch die Krisis hindurch. Ob Jordan oder Jabbok, ob Schilf- oder Galiläisches Meer – es braucht den Ort der Bewährung, der Besiegelung einer gelingenden Zukunft durch die Krise hindurch. Durch die inneren Verstrickungen hindurch. Mit der ganzen Ambivalenz seiner Existenz tritt er auf den Plan. Jakob kommt als der von Gott und den Menschen reich Gesegnete, geradezu überschüttet mit Verheißungen und Zusagen, reich an geistlichen und irdischen Gütern.
Jakob hat seine Woche der „Stationen“ abgefeiert, er hat seinen Traum von der Himmelsleiter geträumt und sein Bet-El erfahren, ist längst Stammvater geworden eines großen Volkes, vermählt mit Frauen, deren man bis heute im Lobspruch gedenkt. Doch er kommt auch als der notorische „Überlister“ (27,36), als der „Fersenhalter“ von Mutterleibe an, belastet mit erschlichenem Erbe und ergaunertem Segen. Er kommt mit übergroßer Schuld beladen. Esau wartet. Es bedarf da noch einer Klarstellung, einer Bereinigung von Schuld. Die Krisis ist nicht zu umgehen, auch nicht wie Jona weiland versuchte zu umschiffen. Es geht nur durchs Wasser hindurch. Drüben wird dann so Gott will verheißenes Land sein.
Es geht nicht kampflos ab
Krisen der Alltäglichkeit, auch nach dem Ostertag. Sie sind nicht zu umgehen und nicht zu negieren. Es geht nicht kampflos ab: „Jakob“, „Jabbok“ – beide sind verschlungen ineinander. Jakob ist Krise in Person, ist Existenz auf der Kippe. Es, ein Etwas, ein Jemand ringt mit und in ihm am Grenzfluss. Eine Macht, eine innere oder äußere. „Mann“, sagt ganz nüchtern der biblische Text, weil es wohl am ehesten der Mann Esau ist, der getäuschte Bruder, der Jakob nicht aus dem Sinn kommt.
Sie ringen durch die Nacht, Jakob am Jabbok, sich ineinander verhakend, wie die hebräischen Worte an dieser Stelle sich ineinander winden. Sie kommen nicht voneinander los. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Dieses Mal ist der Segen nicht zu erschleichen sondern zu erringen. Schließlich doch noch Segen. Doch der Gesegnete ist der Lädierte, der Gezeichnete. Der Sieger ist der Geschlagene.
Wer bist du? Aus dem nächtlichen Ringen geht Jakob als neuer Mensch hervor. Am Fluss versinkt der „Fersenhalter“ und taucht der „Gottesstreiter“ empor. „Wie neu geboren“. ISRA-El. Nun kann der Morgen anbrechen. Von nun an trägt er die Gottheit im Namen. Oder auch sie trägt ihn. Das ist das Zeichen des Neuwerdens am Fluss – der neue Name, der die Neuheit der Existenz vor Gott verbürgt. Das ist die neue Existenz im Angesicht Gottes. Dieser verquere und unheimliche Jabbokfluss wird zum Ort des Gottesgesichts – pnu’el. Jakob kann aufrecht gehen – wie neu geboren, aber hinkend an der Hüfte. So bist du, Jakob, so wirst du bleiben – das verbindet uns heute, acht Tage nach Ostern: „vom schweren Engel über uns zu Gott verrenkt wie du“ (Nelly Sachs).
So wird Jakob auf seine alten Tage der Held von Quasimodogeniti – wie neu geboren. Und dieses „wie neu“ ist keine verquaste Angelegenheit, sondern eine Metapher, die das Zeug hat, Realität zu stiften, wehrt aber auch jedem magischen Denken. Das Neugeborenenwerden ist ein strikter Relationsbegriff, kein physisch-biologistischer. Relationen, Beziehungsstrukturen, Machtverhältnisse ändern sich – dies allerdings sehr real – für die, die wie neu auf die Welt gekommen sind. Die Verhältnisse sind neu geworden. Jakob hat Gottes Antlitz geschaut am Fluss des Übergangs und kann nun auch im Gesicht seines Bruders Esau das Antlitz Gottes wiedererkennen. Das ist das Wunder.