Nie wirklich darauf vorbereitet…
Wissen sind Fakten im Kopf - Bedenken, das passiert im Herzen
Predigttext | Psalm 91,12 |
---|---|
Kirche / Ort: | Melanchthon-Kirche / Bruchsal-Helmsheim |
Datum: | 24.11.2024 |
Kirchenjahr: | Letzter Sonntag des Kirchenjahres |
Autor: | Rebecca Hoek, Palliativfachkraft, z.Zt. in Ausbildung zur Prädikantin |
Predigttext: Psalm 90,12 (Übersetzung nach Martin Luther) Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.
Plötzlich und unerwartet. Nach langer schwerer Krankheit. Viel zu früh. Am Ende eines erfüllten Lebens. Die Formulierungen in Todesanzeigen sind vielfältig. Manchmal geben sie uns einen Einblick, wie der Tod in das Leben dieses Menschen gekommen ist.
I
Die Wenigsten formulieren ihre Todesanzeige zu Lebzeiten selbst. In der Ausbildung zum Hospizbegleiter ist das eine der Aufgaben. Die Teilnehmer bekommen ein weißes Blatt mit einem schwarzen Rahmen. Und dann sollen sie sich Gedanken machen, wie sie sich ihre eigene Todesanzeige vorstellen und dürfen sie gestalten. Im ersten Moment erscheint das seltsam. Aber es ist eine Möglichkeit, sich mit dem eigenen Sterben auseinanderzusetzen. Wir wissen um unser Sterben. Mit der Geburt steht fest, dass es irgendwann soweit sein wird und wir diese Welt wieder verlassen. Aber das wann und das wie, das wissen wir nicht.
„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ Um die Zwangsläufigkeit des Sterbens zu wissen, das ist das eine. Sie zu bedenken, etwas anderes. Wissen sind Fakten im Kopf. Bedenken, das passiert im Herzen. Wenn die Erkenntnis aus dem Gehirn nach unten in mein Herz rutscht, dann entstehen Gefühle. Der Gedanke, dass es irgendwann so weit ist, dass ich auch selbst gehen muss, ruft bei mir ambivalente Gefühle hervor.
Es gibt Tage, da werde ich überrascht davon, dass sich die Vorstellung in absehbarer Zeit zu sterben, leicht anfühlt. Ich bin dann ohne jeden Zweifel und zutiefst überzeugt, dass die, die zurück bleiben, trotz aller Trauer ihren Weg weiter gehen werden. Dass auf mich dann die Ewigkeit wartet. Ich fühle mich seltsam sicher in der Hoffnung, dass ich im Sterben und im Tod umfangen sein werde von der Gegenwart Gottes und seiner Liebe. Dann denke ich: Okay, Gott, wenn das Dein Plan ist, dann will ich nicht dagegen ankämpfen. Dann nehme ich es an. Auch wenn es jetzt schon so weit wäre.
Die Leichtigkeit hält nicht lang. Meist folgt ihr ein unmittelbares Erschrecken. Bekomme ich diese Leichtigkeit gerade von Gott geschenkt? Weil es tatsächlich jetzt oder in Kürze soweit ist? Und beinahe augenblicklich wandelt sich meine gesamte Gefühlswelt ins Gegenteil. Und ich bete: Nein, Gott, jetzt noch nicht, bitte. In der Zukunft liegen besondere Momente, auf die ich mich freue. Ich will noch eine Weile bei denen sein können, die mir so viel bedeuten. Ich habe Pläne, Ziele, Ideen, die ich noch umsetzen möchte. Die Vorstellung, dazu keine Gelegenheit mehr zu haben, schmerzt mich. Und ich gehe in Verhandlung: Gott, Du hast doch sicher auch noch Pläne mit mir hier. Bitte, schenk mir noch Zeit auf dieser Erde. Ich bin sicher, man kann mich hier noch gebrauchen. Tu das denen, die ich liebe, jetzt nicht an. Lass es heute noch nicht geschehen. Ich spüre deutlich, ich bin noch nicht wirklich bereit.
II
Und doch gibt es das: dieses Bereit sein für den Tod, das nicht nur einen Augenblick anhält, sondern zu einem festen Standpunkt wird. Ich habe es immer wieder erlebt. Wie gut muss es sein, wenn man erst dann gehen muss. Wie gut ist es, wenn man dann gehen darf. „Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur. Doch mit dem Tod der andern muss man leben“, so schreibt es Mascha Kaleko in ihrem Gedicht Memento. Allein beim Gedanken an den Tod derer, die ich liebe, verspüre ich eine tiefe Melancholie. Mir wird mein Herz so schwer, dass ich meine, es nicht mehr aushalten zu können. Nein, lieber gehe ich, als dass ich sie gehen lassen muss, schießt es mir dann durch den Kopf. Und doch, ich habe es ja selbst schon erlebt und weiß, so kann es kommen. Wir sind einander nur für kurze Zeit geliehen.
Der Tod eines geliebten Menschen reißt eine Wunde. Immer. Wir sind nie wirklich darauf vorbereitet. Auf diesen endgültigen Abschied kann man sich nicht vorbereiten, scheint es. Erinnerungen können Trost schenken. Gleichzeitig spüren wir im Erinnern sehr deutlich, was uns genommen wurde. Es tut weh, wenn uns bewusst wird, was mit diesem einen Menschen so unersetzlich aus unserem Leben verschwunden ist. Dieser Schmerz holt uns auch Jahre später und ohne Vorwarnung mitten im Alltag ein. Eine Stimme, ein Geruch, eine bekannte Bewegung aus dem Augenwinkel erspäht. Dem Tod und der Trauer wohnt immer wieder die Unberechenbarkeit inne.
Was macht es da für einen Unterschied, ob nun das Leben oder Gott mich das lehrt. Für den Psalmbeter macht es wohl einen. Und ich verstehe seinen Wunsch, diese Lektion nicht ohne Gott lernen zu müssen. Wenn Gott selbst mich lehrt, dass dieses Leben ein Ende haben wird, dann heißt das: Gott begleitet mich auf dem Weg zu dieser tiefen und manchmal erschreckenden Erkenntnis. Ich habe Gott an meiner Seite, um all die schweren Gefühle auszuhalten. Gott weiß um die Härte, mit der uns der Tod trifft, und lässt uns dabei nicht allein. An seiner Schulter dürfen wir klagen. Wir dürfen wütend sein auf das Schicksal, das uns so viel genommen hat. Wir dürfen Gott sogar anschreien, wenn der Schmerz zu groß ist und wir so gar kein Verständnis dafür aufbringen können, dass es so gekommen ist.
Ein guter Lehrer verlässt seinen Schüler auch dann nicht, wenn der an der Lektion verzweifelt. Dieser Lehrer ist so viel mehr. Er ist der Vater, der uns liebt. Er lässt sich berühren von der Verzweiflung seiner Kinder und steht ihnen bei. Darauf vertraue ich. Wenn wir wirklich verstanden haben, wie zerbrechlich dieses Leben ist, unser eigenes und das unserer Mitmenschen, dann haben wir die Chance, klug zu werden. Oder, wie es in einer anderen Übersetzung heißt: weise zu werden.
III
Vor einigen Jahren hat die Australierin Bronnie Ware ein Buch geschrieben. Sie hat Menschen begleitet, deren Lebenszeit klar begrenzt war. Und sie hat viele Gespräche mit ihnen geführt. Immer wieder klingt in den Lebensberichten dieser Menschen dasselbe Bedauern an. Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen, lautet deshalb der Titel. Ich weiß nicht, ob man aus den Fehlern anderer klug werden kann. Aber es ist ein Anlass, um über das eigene Leben nachzudenken.
Punkt 1. Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben. Die Betroffenen bedauerten, ihre Entscheidungen viel danach ausgerichtet zu haben, was andere für klug, sinnvoll oder vernünftig hielten. Selbst wenn ihre innere Stimme etwas anderes geraten hatte.
Punkt 2: Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet. Eine Arbeit, die man gerne macht, kann ein Leben bereichern, manchen mag sie auch reich machen, zumindest in finanzieller Hinsicht. Und doch ist auffallend, so stellt Bronnie Ware fest, dass fast alle Männer, mit denen sie sprach, sagten, sie hätten über der Arbeit, das was ihnen wirklich wichtig war, aus den Augen verloren.
Punkt 3: Ich wünschte mir, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden aufrechterhalten Sich im Alltag Zeit für die Freunde zu nehmen ist nicht immer ganz leicht. Es gibt so viele berechtigte Gründe, das Treffen doch nochmal zu verschieben. Die Arbeit bleibt sonst liegen, die Wohnung putzt sich nicht von allein… So fiel das Wichtige dem vermeintlich Dringenden zum Opfer.
Punkt 4: Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken. Viele bedauerten, nie wirklich sie selbst gewesen zu sein. Häufig um der Harmonie willen hätten sich nicht erlaubt, ihre Emotionen auszuleben oder auch nur in Worte zu fassen. Selbst ihre eigene Familie, so gestanden sie ein, hätte sie dadurch nie wirklich kennen gelernt.
Punkt 5: Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein. Die Erkenntnis, dass man sich glücklich sein nicht verdienen müsse, sei zu spät gekommen. Den gegenwärtigen Moment zu genießen, sich zu freuen, ohne eine Leistung vollbracht zu haben, die das rechtfertige, hätten sich viele versagt, so beschreiben es die begleiteten Menschen in ihrer letzten Lebensphase.
Das Bedauern dieser Menschen soll mir Hilfe sein, klug zu werden für dieses Leben. Einem Leben, das ich aus Gottes Hand empfangen habe. Dem Gott, der von Ewigkeit zu Ewigkeit ist. Meinem Schöpfer, zu dem ich eines Tages gehen werde. Dann wird es am Ende nicht wichtig ist, ob es plötzlich und unerwartet passiert oder nach langer Krankheit. Dann darf über meiner Todesanzeige stehen, selbst wenn ich nicht auf siebzig oder gar achtzig Jahre zurückblicken kann: Es war ein erfülltes Leben.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Lied 636 (Anh. Baden/Pfalz/Elsass-Lothrigen), Verse 1.4.7 “Ach lass mich weise werden…“