Nötige Geistesgegenwart – Kraft, Liebe, Besonnenheit
Einander erinnern an das, was gut tat, und einander stärken
Predigttext: 2. Timotheus 1,6-11 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
6 Aus diesem Grund erinnere ich dich daran, dass du erweckest die Gabe Gottes, die in dir ist durch die Auflegung meiner Hände.
7 Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.
8 Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener bin, sondern leide mit für das Evangelium in der Kraft Gottes.
9 Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Ratschluss und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor der Zeit der Welt,
10 jetzt aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium,
11 für das ich eingesetzt bin als Prediger und Apostel und Lehrer.
Exegetische und homiletische Einführung
Die Verse 6-11 ergeben eine in sich geschlossene Einheit. Vers 7 wurde zu Beginn des Lockdowns oft als Ermutigung zu Durchhaltevermögen (Kraft), Solidarität (Liebe) und Abstandnahme von aller Panikmache (Besonnenheit) zitiert. Bei steigenden Infektionszahlen und ebenso steigender Sehnsucht nach Normalität tut es gut, diesen Vers wieder zu hören – vielleicht auch als Konfirmationsspruch (ohne Handauflegung!) bei den vielerorts jetzt nachgeholten Festlichkeiten.
Im Kontext des Briefs gilt die Zusage aber speziell einem kirchlichen Amtsträger und bezieht sich auf das Stehen zum Evangelium. Ich habe mich gefragt, warum die freundschaftliche Ermutigung vom Anfang in so eine steile theologische Aussage wie in V. 10f mündet. Meine Antwort: Genau deswegen ist die Furcht so groß, weil Timotheus nichts anderes in den Händen hält als das Evangelium – und weil er dessen Kraft nicht mehr spürt. Darum ruft Paulus diese Kraft in Erinnerung.
Das Evangelium hat eine starke Botschaft: Es bringt das Ganze des menschlichen Lebens ans Licht - alles, was von Gott her über menschliches Leben zu sagen ist und was darum gegen alle furchteinflößenden Beeinträchtigungen und Anfechtungen aufhilft.
Grammatikalisch vertrackt aufgebaut ist der überlange Vers (er endet erst nach V. 12!) ja schon: Wie verhält sich die Offenbarung der Gnade (V. 9f) durch Jesus Christus zum ans-Licht-Bringen des Lebens und des unvergänglichen Wesens durch das Evangelium (V. 10)?
Ein Blick in den Urtext zeigt, dass mit V. 9 ein geprägtes poetisches Stück beginnt. Die Kraft, die aller Furcht widersteht, ist die Kraft aus Gott, die aus der Gewissheit kommt, einerseits selig und andererseits berufen zu sein. Seligkeit und Berufung ruhen allein in der Gnade Gottes, oder anders herum: Gottes Gnade besteht darin, dass er die Seinen rettet und selig macht – Gottes Gnade schenkt Leben! Jesus Christus hat dieses Leben ans Licht gebracht und dadurch Gottes Gnade offenbart. Nur eben: durch das Evangelium.
Dieses Evangelium ist und bleibt die gepredigte Botschaft von Kreuz und Auferstehung! Leben und unvergängliches Wesen stehen auch durch Jesus nicht taghell vor Augen, sondern seine Strahlen sind gebrochen durch das Kreuz. Leben ist immer gerettetes Leben. Ans Licht gebracht werden kann es darum allein durch das Wort, das heißt aber durch Menschen, die im Vertrauen auf Gott dieses gekreuzigte und auferstandene Leben predigen.
Darum werden in V. 9 „Seligkeit“ und „Berufung“ (zur Predigt) parallel geführt. Predigen aber heißt unter anderem, niemals beweisen zu können. Das Evangelium ist immer stark und schwach zugleich, nicht nur wegen seiner Boten, sondern schon wegen seines Inhalts, der eben in dieser Wirklichkeit noch nicht sichtbar zu machen ist.
Timotheus hat die Aufgabe, vom Jenseits im Diesseits zu reden. Das Evangelium ist nicht attraktiv. Es verheißt kein vollkommenes Diesseits, verkündet durch außergewöhnliche Menschen, sondern ein Jenseits, für das selbst dem Klügsten die richtigen Worte noch fehlen. Aber es ist und bleibt das einzige Medium. Darum brauchen die, die dazu berufen sind, so dringend Gottes Geist – und, z.B. in der Handauflegung, verlässliche Zeichen dafür.
Die Temperaturen sinken, und jetzt ist er da: der Corona-Herbst. Wir wussten ja, dass er kommt. Von der zweiten Welle haben wir lang genug geredet. Ob die deutlich gestiegenen Infektionszahlen jetzt diese zweite Welle sind oder nicht, darüber ist es müßig zu spekulieren. Tatsache ist: Die Ausblende-Taktik funktioniert nicht. Corona bleibt eine Wirklichkeit unseres Lebens, nicht nur am Rande, sondern mitten drin, ziemlich massiv. Da tut es gut, den Vers heute noch einmal zu hören, der vor einem halben Jahr öfters durch die sozialen Medien geschickt wurde – oder auch von Mensch zu Mensch zugesagt: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.
I.
Er klingt ja auch schön. Und er passt oft. Kraft, Liebe und Besonnenheit sind allgemein gute Wünsche. Darum hören diesen Spruch manche Jugendliche, die in diesen Wochen ihre Konfirmation nachholen, und manche Täuflinge. Ich vermisse es, dass ich ihnen zu Corona-Zeiten nicht die Hand auflegen darf – so wie damals Timotheus die Hände aufgelegt bekam. Bei Täuflingen machen es jetzt manchmal stellvertretend die Eltern – das ist auch ein schönes ergreifendes Zeichen. Es berührt, nicht nur wörtlich und sichtbar, auch im übertragenen Sinne, wenn ich die Hände aufgelegt bekomme oder jemandem die Hände auflegen darf. Die Geste strahlt so viel aus. Schutz und Stärkung. Und man hat, jedenfalls in Ansätzen, das Gefühl, dass man wirklich tut, was Gott tut. Schützen und stärken mit dem, was man wesentlich braucht.
II.
Kraft, Liebe und Besonnenheit sind ein ähnlich starker Dreiklang wie „Glaube, Hoffnung, Liebe“. Glaube, Hoffnung und Liebe sind die innersten Seelenkräfte des Menschen – die innersten Gottesgeschenke. Kraft, Liebe und Besonnenheit sind genau diese innersten Seelenkräfte auch, aber gewendet in den Alltag mit all seinen Herausforderungen. Die Liebe ist in beiden Dreiklängen genannt. Sie ist auch beides, Gefühl und Handlungsimpuls. Oder Alltagsbewältigungsstrategie. Glaube formt sich in Kraft und Hoffnung in Besonnenheit. Der Glaube, von keinem anderen als von Gott getragen zu sein, stärkt mich; die Hoffnung gibt mir langen Atem und Gelassenheit. Und Freiheit, mich nicht verrückt machen zu lassen, von welcher Seite auch immer. Ich lasse mich nicht ver-rücken. Ich bleibe bei dem, was trägt.
Die beiden Dreiklänge passen also gut zueinander. Aber so ungetrübt ist die Harmonie nicht. Weder Glaube, Hoffnung und Liebe noch Kraft, Liebe und Besonnenheit sind Charakterstärken, auf die wir jederzeit zurückgreifen könnten. Sie haben es an sich, dass sie in uns immer wieder zum Leben erweckt werden müssen. Sie sterben ab und müssen auferstehen. Darum sagt Paulus zu Timotheus: Erinnere dich. Wie dir damals die Hände auferlegt wurden. Das war das Zeichen, dass Gott dir seinen Geist geschenkt hat. Dieser Geist hilft dir jetzt. Er lässt Kraft, Liebe und Besonnenheit auferstehen in dir. Jetzt und immer dann, wenn du es brauchst.
Ja, das gehört auch dazu, wenn ich jemandem die Hände auferlege oder selber die Hände auferlegt bekomme. Nicht nur Schutz und Stärkung. Sondern Gabe des heiligen Geistes. Aus diesem Grund erinnere ich dich daran, dass du erweckest die Gabe Gottes, die in dir ist durch die Auflegung meiner Hände, schreibt Paulus. Das ist das Schöne daran, wenn einem einmal die Hände aufgelegt worden sind. Man kann sich daran erinnern. Und diese Erinnerung kann Kräfte aufwecken.
III.
Timotheus, der diese Worte als erste hörte, musste allerdings keine Pandemie bewältigen. Er sollte einfach seinen Job gut erledigen. Sein Job war, das Evangelium zu verkünden. Mit Überzeugung, anders geht es nicht. Timotheus war Prediger, er trug die Verantwortung für eine Gemeinde. Um das Evangelium überzeugt zu verkünden, muss man selber daran glauben. Muss es selber als Kraft in sich spüren. Die frohe Botschaft muss mich selber froh machen, sonst bleibt die Predigt blass und leer. Aber genau das ist eben nicht ganz so einfach. Auch der so genannte normale Gläubige, der das Evangelium nicht predigen muss, sondern einfach nur daran glauben – aber natürlich nicht muss, sondern will! – kann das nachvollziehen.
An das Evangelium glauben kann ich nur, wenn ich etwas davon in mir spüre. Aber das tue ich nicht immer. Denn das Leben ist eine Herausforderung an den Glauben. Mein Leben, so wie es ist, kann den Glauben jeden Tag infrage stellen! Jedenfalls dann, wenn dieser Glaube wirklich Freude heißt. Und damit all das andere auch: Kraft, Liebe und Besonnenheit.
Aber es war noch mehr. Timotheus spürte nicht nur wenig Glaubenskraft in sich, spürte sich seiner Verantwortung nicht gewachsen. Er schämte sich des Evangeliums auch. Darum schäme dich des Evangeliums nicht, schreibt ihm Paulus. Timotheus schämte sich des Evangeliums, genauso wie er sich seines schwachen Glaubens schämte – und dessen, dass sein eigener Lehrer Paulus gerade elend und ohnmächtig im Gefängnis saß. Er schämte sich des Evangeliums, genauso wie wir uns manchmal unserer leeren Kirchenbänke schämen – oder unserer Pfarrerin, die es nicht schafft, sie voller zu kriegen.
Oder wie wir uns unserer Kirche schämen, wenn sie manchmal so weltfremd daher kommt und für manche Dinge so unnötig Geld ausgibt – oder wie sich katholische Schwestern und Brüder ihrer Kirchenvertreter schämen für die sexuellen Missbrauchsfälle, die letzte Woche auf der katholischen Bischofskonferenz thematisiert wurden. Auch in der evangelischen Kirche ist das vorgekommen, Grund uns zu schämen haben wir allemal. Immerhin, schämen ist besser als ärgern, schämen ist näher dran, ist immer noch ein Hauch von mitleiden. Genau das braucht Paulus von Timotheus: Sei solidarisch, schreibt er ihm, leide mit mir mit.
IV.
Paulus tut jetzt das einzig richtige – ja das einzig mögliche. Er hört auf zu mahnen und über Timotheus’ oder auch seine eigene Situation zu reden. Er tut einfach das, was er von Timotheus auch braucht: Er verkündet ihm das Evangelium! Mit Worten, die Timotheus wohl selber schon kennt – er zitiert ein altes Bekenntnis, oder ein Lied, so wie wir in der größten Hilflosigkeit manchmal auf die Worte eines alten Kirchenlieds zurück greifen, und spüren, wie es unmittelbar das Gefühl von Vertrauen in uns auslöst. Er hat uns selig gemacht, sagt Paulus, und berufen.
Gott traut das Evangelium zu, weil er weiß, dass dessen Kraft in uns wirken kann. Nicht aus Werken, schreibt Paulus, nicht um unser eigenes Vermögen, unsere eigenen Gefühle geht es. Sondern um diese Quelle, aus der wir leben. Gnade. Leben. Ewiges Leben. Unvergängliches Wesen. Das Ganze und der Kern von allem. Die strahlende Sonne hinter allem Nebel. Sie ist da. Aber sie schiebt sich durch die Nebelwand eben nur so: durch das Evangelium. Durch Worte. Worte, die nicht meine Kraft zum Vorschein bringen, sondern die Kraft eines anderen.
Wir stehen im Dienst, meint Paulus, und das ist das Größte, das uns passieren kann. Denn darum stehen wir nicht allein. Einer stärkt uns den Rücken. Jesus hat dem Tod die Macht genommen – allem was uns beschwert und betrübt. Es ist zwar noch da. Aber es ist nicht das einzige. Und es ist nicht das Wichtigste. Es hat keine Macht über uns. Macht über uns hat – ganz schlicht – der, der am Kreuz hing. Ein Mensch wie wir. Aber ein Bote von Gott. Jesus Christus. Gottes Sonnenstrahl, der den dichtesten Nebel am Ende zerreißen wird. Jesus Christus hat dem Tod die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium.
Sehr ermutigend predigt Pfarrerin Krumm über einen etwas dogmatischen Text. Sie beginnt mit dem andauernden, weltweiten Problem Corona und setzt dagegen die christliche Hoffnung und Kraft. Ein Vers aus dem Predigttext ist ja ein häufiger Komfirmationsspruch. Er spricht innere positive Seelenkräfte an. Jede Predigt sollte ja im Innersten froh machen, damit wir die gegenwärtigen Probleme der Kirche kraftvoll bewältigen können. Paulus verkündigt zentriert das Evangelium: Jesus ist Gottes Sonnenschein. Eine aufbauende, selsorgerliche Predigt für uns.