Offener Blick
Dem Menschen seinen Wert und seine Ehre (zurück)geben
Predigttext: Markus 8,22-26 (Uebersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Und sie kamen nach Bethsaida. Und sie brachten zu ihm einen Blinden und baten ihn, dass er ihn anrühre.
Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, tat Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn: Siehst du etwas?
Und er sah auf und sprach: Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen.
Danach legte er abermals die Hände auf seine Augen. Da sah er deutlich und wurde wieder zurechtgebracht, sodass er alles scharf sehen konnte.
Und er schickte ihn heim und sprach: Geh nicht hinein in das Dorf!
Vorbemerungen zum Predigttext
Bethsaida, zu deutsch „Haus der Jagd“, gemeint wohl „Haus des Fischfangs“, denn Betsaida liegt an der Mündung des Jordan in den See Genezaret. Eine profilierte Örtlichkeit also, die nach Ausweis des Johannesevangeliums Herkunftsort der Jünger Andreas, Simon Petrus und Philippus ist – und dies ausdrücklich mit Nennung des Ortes. Ja, Betsaida ist Ort von Wundern: Jesu Gang über das Wasser (Mk 6,45ff), die Speisung der Fünftausend (Lk 9,10ff) und eben die Heilung des Blinden. Nur: Was macht Betsaida zum Gegenstand von Fluch und härtester Gerichtsandrohung im Munde Jesu (Lk 10,13-15 und noch schärfer in Mt 11,21-24)? Worin mag die „Blindheit“ dieses illustren Dorfes am Rand des Kinneret bestehen, dass es so sehr in die Kritik gerät? Auch der blinde Mensch im Predigttext kann gesunden und gesund bleiben offensichtlich nur extra muros Bethsaidae.
Das Markusevangelium rückt neben die Geschichte in und um Betsaida alsbald die Szenerie um Caesarea Philippi – beides Orte, die in engem Zusammenhang mit dem Herodessohn Philippus stehen. Flavius Josephus nennt Bethsaida alias Iulias zehnmal als bevorzugten Ort des Tetrarchen Herodes Philippus, der eigentlich in Caesarea Philippi (Panaeas / Banias) am Fuße des Hermon residierte. Er habe, so die Chronisten, Bethsaida um das Jahr 30 n. Chr. von einer komē zur polis erhoben und ist letztlich dort sogar begraben. Zugespitzt gesagt: Caesarea Philippi und Bethsaida – Entscheidungsorte: am einen Ort entscheidet sich die Bekenntnisfrage („Du bist der Christus.“), am anderen die Frage nach dem angemessenen Handeln („sie brachten … er nahm … er führte … legte die Hände auf … schickte ihn …“). Beides, Bekennen und Handeln, im geografisch-ideellen Kontrast zum römischen Herrscherideal. Beides gut markinisch-jesuanisch nicht ohne Geheimnis auszusagen, nur in der Entzogenheit zu haben. Jedenfalls sehen die natürlichen Augen nicht von sich aus schon die ganze Wahrheit – sie müssen geöffnet werden. „Siehst du etwas?“
Jesu offener Blick heilt von den Blindheiten dieser Welt. Das ist das Wunder, dass in Jesu Gegenwart Augen aufgehen, Hände und Herzen sich öffnen. Das ist das Wunder, dass es nicht bei den Blindheiten bleiben muss – damals nicht und heute auch nicht. Das Wunder geschieht dort, wo wir durch diese alte Geschichte hindurchsehen können auf uns und unsere Welt heute und auf den Mann aus Nazareth, in dessen Gesicht sich das Augenlicht Gottes spiegelt. Nehmen wir also miteinander die Sehhilfe aus der Bibelgeschichte zur Hand, die uns zuallererst die Augen öffnet für den, der es nicht bei den Blindheiten belässt, Jesus selbst. Jesu offener Blick gegen die Blindheiten dieser Welt!
“Siehst du etwas?” Diese Frage im Munde Jesu! An einen Menschen, den sie alle kannten als den Blinden, dessen Leben durch Blindsein definiert war und bleiben sollte.
„Siehst du etwas?“ Schon die Frage selbst, so etwas wie Sehen überhaupt als Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, ist ungeheuerlich. Dass eine solche Frage, ernst gemeint, überhaupt existiert, war dem Blinden längst abhanden gekommen, längst aus dem Blick geraten. Jesus hält das für möglich. Reine Möglichkeit verträgt aber nicht die Kontamination durch Voyeure und Schaulustige. Die müssen weichen; bzw. die Beiden, die Erhellendes vorhaben, müssen ausweichen und die Stille suchen am Rande des Dorfes. O ja, „unser Dorf soll schöner werden“, sagte man bei uns in den 70ern und pflanzte Kübelblumen. „Unser Dorf soll attraktiver werden“, sagten die Bewohner von Bethsaida – und versuchten ein publikumsträchtiges Wunder ins Bild zu setzen, vollbracht durch jenen galiläischen Heiligen, den sie da vor sich hatten. Zu den Blindheiten der Bethsaidianer etwas später.
Zurück zum Wichtigsten, seiner Frage an den Abgeschriebenen: „Siehst du etwas?“ Ist das Fragen mit Heidegger gesprochen die Frömmigkeit des Denkens, so ist das Fragen mit Jesus gesprochen Ausdruck tiefster Menschlichkeit und Wertschätzung des Gegenübers, des Gottesgeschöpfes. Noch nie hatte ihn einer so gefragt. Alle hatten sie es immer besser gewusst, was gut ist für einen Blinden. Zu fragen gab es da wenig. Fragen können aber ist Machtverzicht, Zeichen persönlicher Souveränität, die in sich selbst begründet ruht und nicht nach Anerkennung heischt. Zu der einen Frage, die Jesus stellt, passt darum das zweite Sätzchen, das er sagt: „Geh heim und nicht zu den Anderen ins Dorf.“ Jesus sieht den Einzelnen, widmet sich ihm und schirmt ihn ab vor dem geilen verblendeten Blick der Vielen.
„Siehst du etwas?“ – in den fragenden Augen Jesu spiegelt sich der Blickkontakt Gottes zu seinen Geschöpfen. Wo der geschlossen wird – der Blickkontakt Gottes zu seinen Geschöpfen –, bahnt sich bereits die Heilung an. Die Beziehung ist gestiftet, die Isolation ist durchbrochen, das Leben kann noch einmal beginnen: „Siehst du etwas?“ Jesus stellt seine Frage nicht kontextlos, er stellt sie im Licht der Schöpferkraft Gottes. Jesus sieht den Menschen nicht isoliert für sich allein genommen, sondern als Geschöpf des Gottes, dessen schöpferische Kraft sich nicht erschöpft hat mit der Erschaffung der Welt. Das wirkt heilsam, über unsere konkrete, vorfindliche Erfahrung hinaus den Blickkontakt Gottes zum Menschen wahrzunehmen. Die Heilige Schrift sieht unsere vermeintliche Wirklichkeit nie einfach so, wie sie uns erscheint, sondern aus der Perspektive Gottes. Sie hebt damit unsere Augen über das Vorfindliche hinaus. Gottes Augen sprechen: „Du bist sehr gut“. „Ich habe dein Elend gesehen in deiner Knechtschaft.“ „Ich ging an dir vorüber und sah dich und schloss mit dir einen Bund, dass du solltest mein sein. „Und siehe, ich mache alles neu.“
Jesus unterstellt dem Leben des Menschen, auch des blinden Menschen vor Bethsaida, den Sinn, die verändernde Kraft Gottes zu erfahren. Dazu sind wir da. Dazu ist die gefährdete Schöpfung da: wieder näher gebracht zu werden einem Zustand, von dem gesagt werden kann: und siehe da, sehr gut! Dazu sind die knechtenden und unterdrückenden Verhältnisse in unserer Welt da: verwandelt zu werden in Freiheit. Dazu sind die spröde gewordenen und zerbröckelnden Beziehungen der Menschen untereinander da: wieder erfüllt zu werden mit dem Geist der Liebe, des Bundes in gegenseitiger Verantwortung. Dazu ist das Alte, Altbekannte, Mühsame und Eingefahrene da: etwas mitzubekommen von dieser schöpferischen Vision „Siehe, ich mache alles neu.“ Da gibt es etwas zu erwarten, da geht es den Blindheiten an den Leib, wo Jesu offene Augen sind, wo er nach dem Menschen fragt und ihn im Horizont der Schöpferkraft Gottes sieht. Jesu offener Blick heilt von den Blinheiten, Borniertheiten und Fixiertheiten dieser Welt. … von den Blindheiten der Menschen in Orten wie Bethsaida, die den Menschen von seinen Defiziten her bestimmen als „Blinden“, als „Behinderten“ und ihn nicht als Menschen im Horizont der Schöpferkraft Gottes sehen. Und sollten sie doch einmal etwas Außergewöhnliches für möglich halten, dann bitteschön muss es aber das Spektakuläre sein, das dem Image eines aufstrebenden Kleinstädtchens gut zu Gesicht steht – immerhin ist man auf dem Sprung Polis zu werden von Herrschers Gnaden. Man muss schließlich konkurrieren können. Wie dem auch sei – Jesus wird gewusst haben, dass Bethsaidas Bürger nicht das rechte Pflaster abgeben für ein Tun, das in Wahrheit Heilung und Heil und Erleuchtung bringt.
Wir wissen nicht so recht, was Jesus später dann zu derart harten Gerichtsworten gegen Chorazin und Bethsaida veranlasst hat, wie sie die Evangelien überliefern. Worte, die wir in ihrer Härte Jesus kaum zugetraut hätten, und die von daher zweifelsfrei dem Munde Jesu entsprungen sein müssen. Um dieses Noch-Dorf und Spielstätte des Herodessohnes rankt sich etwas Böses, etwas Abgründiges, das wir nicht weiter ergründen können. Nur hier, ein einziges Mal in den Evangelien, braucht Jesus zwei Anläufe, um das Wunder zu wirken. Aber: Jesus kann nicht nur helfen, er kann auch nachhelfen! Die verblendeten Gedanken der Voyeure und Zeichendeuter. Im selben Kapitel lässt sie Jesus schon einmal stehen. Da will sich selbst er nicht weiter „verkämpfen“.
Doch noch einmal zurück zum Blinden selbst, immerhin Hauptfigur – aber zunächst jedenfalls mit Blindheit geschlagen. Es geht auch hier um mehr als das körperliches Blindsein – und dass es um mehr geht, ist wichtig für uns heute, weil wir doch durch diese Geschichte hindurchsehen wollen auf uns heute. „Wer bin ich schon?!“, mag dieser Mensch zu sich sagen und hat dieses Urteil schon so sehr verinnerlicht, dass man glauben könnte, er sei schon als eine Null auf die Welt gekommen. „Wer bin ich schon?!“, sagt er verschlossen in sich selbst, ohne Perspektive, ohne große Aussichten auf Veränderung im Leben, ohne Mumm und Energie für irgendwas, ohne einen Funken Selbstvertrauen. „Wer bin ich schon?!“, sagt er, in den Augen der Anderen; ein Nichts, ein Schmarotzer ohne gesellschaftlichen Nutzen, liegt der Krankenkasse auf der Tasche und beschwert die öffentliche Steuerlast! „Wer bin ich schon in den Augen Gottes!“, sagt er, „es reicht gerade noch dazu von den Anderen am Arm in Richtung auf irgend einen Hokuspokus geschleppt zu werden!“
Der offene Blick Jesu lässt diesen Blinden nicht wie er war. Zum ersten Mal spricht ihn einer an, ja fragt ihn allen Ernstes. „Siehst du etwas?“ Und zum ersten Mal seit Langem möchte da einer hören, was ich zu sehen meine, in aller Verschwommenheit und Vorläufigkeit. Da hat Einer unendliches Interesse an mir. Ist das das Entscheidende an Jesu Therapie – dieses Partizipieren am Anderen, dieses Anteilnehmen am Mitmenschen – noch wichtiger als Spucke und Speichel? Jesu offene Augen geben diesem Menschen den Wert und die Ehre eines Menschen zurück und zum ersten Mal den Blick frei für sich selbst. Wo das einmal passiert ist, braucht es nicht die Enge des Dorfes zur Bestätigung – er, der eine Hilfreiche, hat es schließlich zugesagt – und das reicht, dass er das Licht der Welt ist für unsere Augen gegen alle Blindheiten dieser Welt.
Jesus hat unendliches Interesse an dem Blinden. Das ist “das Entscheidende an Jesu Therapie – dieses Partizipieren am Anderen, dieses Anteilnehmen am Mitmenschen”. In den beiden Schlussabschnitten seiner Predigt kommt Pfarrer Dr. Klaus Müller zum schönen Ziel seiner Predigt. Beim Blindsein geht es nicht nur um körperliches, sondern auch um seelisches Blindsein. Die Frage “Wer bin ich schon?” kann Menschen zu einem blinden Nichts machen. Jesus aber wirft nach dem Schlusskapitel der Predigt den Blick auf den Wert und die Ehre des Einzelnden: Jesus ist das Licht der Welt gegen alle Blindheiten der Welt. Ausführlich und tiefsinnig spricht Pfarrer Dr. Müller vorher ausführlich darüber, dass Jesu offener Blick Menschen heilt gegen die Blindheiten der Welt. “Siehst Du etwas?” , fragt Jesus den Blinden mehrfach und öffnet ihm die Augen für den Blickkontakt Gottes zu ihm. Eine tiefsinnige Predigt, welche auch den großen Philosophen Heidegger einbaut. Hinweisen möchte ich auf die Perspektive von Eugen Drewermann in seinem Markus-Kommentar: Viele Menschen werden blind, weil sie so verbittert sind, dass sie die ganze Welt und alle Menschen nicht mehr sehen mögen. Niemand schaut sie dann als grimmig Verbitterte noch an. Jesu Liebe mit mütterlich, zärtlichen Gesten mit Speichel, wie eine Mutter bei ihrem Kind, heilt sie. “Das unendliche Interesse Jesu für uns ist das Entscheidende von Jesu Therapie,” so sehr einfühlsam Pfarrer Dr. Müller.