Hört mich denn niemand? Alle mal herhören! „Auf, alle Durstigen, kommt zum Wasser!“ – Nur zum Wasser?, schallte es der Stimme entgegen. Davon haben wir hier an den Wasserflüssen Babylons mehr als genug. Auch fehlt es uns nicht an Brot und dem täglichen Lebensmittelbedarf, sogar auf den Genuss von Wein und Milch müssen wir nicht verzichten. Außerdem haben wir das Geld dafür aus eigener Tasche, unserer Mühe Lohn, wir haben es schließlich sauer verdient und brauchen darum keine Almosen. Wir haben uns im fremden Land eingerichtet. Die siegreichen Machthaber gaben uns Land, um es zu bebauen und von den erwirtschafteten Erträgen zu leben, und wir können davon sogar unsere Steuern bezahlen. Hast du uns nichts Anderes anzubieten?
I
Die Stimme verstummt nicht, sie lässt sich nicht abhalten, auch wenn sie es schwer hat, sich Gehör zu verschaffen. „Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes zu essen haben und euch am Köstlichen laben.“ Sie wird nicht müde, noch und nocheinmal zu rufen: „Hört und kommt her zu mir! Hört, so werdet ihr leben!“
Wir leben doch!, schallte es der Stimme wieder entgegen, jetzt aber schon etwas verhaltener und ein wenig nachdenklicher. Denn für die hebräischen Ohren der Adressaten damals im sechsten Jahrhundert vor Christus klang in dem Höraufruf etwas von einem Leben an, das mit Geld und Gut nicht zu bezahlen ist: Euer Herz wird aufleben, euer ureigenes Fühlen und Wünschen nach erfülltem Leben, nach Lebenssinn und Verstehen. Innere Sättigung. Seelennahrung. Lebensbrot. Ströme lebendigen Wassers. Um daran teilzuhaben, braucht ihr kein Geld. Nur ein offenes Ohr. „Hört!“
II
Der Ruf, der sich zunächst vordergründig wie marktschreierisch anhörte und für die täglichen Lebensmittel warb, die durch eigener Hände Arbeit besorgt werden konnten, wurde überraschend transparent für etwas, das wirklich menschlichen Durst und Hunger stillen kann, den Hunger und Durst nach Leben in seiner wesensmäßigen Fülle. Für die Deportierten in Babylon war ein solches Leben aus dem Blick geraten. Zu Beginn ihres erzwungenen Aufenthaltes in der Fremde hatte sie noch Hoffnung beseelt, als sie sich an den Wasserflüssen Babylons zu den Gottesdiensten versammelten und sich vor Gott unter Tränen nach ihrer Heimat sehnten: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten“ (Psalm 137).
Aber bald hatten viele ihren Traum, bald zurückzukehren, aufgegeben. Ihr Gottvertrauen schwand. Sich resigniert dem Schicksal fügen? Ihre Harfen hängten sie in die Weiden. Ihr Gesang verstummte. Nur nicht jene Stimme. Sie wurde umso lauter. „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“ Jetzt kündigt sie an, wozu sie so eindringlich geworben und eingeladen hatte. „Hört doch auf mich!“ Es war, wie wir aus dem biblischen Zusammenhang wissen, die Stimme eines Propheten, der mit seinem Volk im Exil lebte. Weil sein Name nicht überliefert ist, wird er der „Zweite Jesaja“ („Deuterojesaja“) genannt. Denn mit seiner Einladung zu hören, schöpfte er aus der Botschaft des früheren Propheten Jesajas.
„Hört doch auf mich!“ Die Worte des unbekannten Propheten werden in seinem Mund zur Stimme Gottes, „des Heiligen Israels“: „Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen“. Galt diese Verheißung einst dem König David, wird sie aktuell dem Volk im Exil zugesprochen und mit ihm auf ganz Israel. Ein ewiger Bund, nach Katastrophen und Zusammenbruch eine bleibende und unverbrüchliche Gemeinschaft mit einem rettenden und segnenden Gott. Hoffnung blüht auf, Vertrauen in das Leben und in die Zukunft: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen“ (Jesaja 42,3).
Kraft zum Durchhalten. Aus der Quelle des Lebens schöpfen. Sich „am Köstlichen laben“. Weitergehen unter dem Segen des Heiligen Israels. „Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder bei dir Zuflucht haben“ (Psalm 36,8). War einst König David zum Zeugen für Gott unter den Völkern berufen, wird es in bedrängter und für Viele hoffnungsloser Gegenwart Israel.
III
„Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meiner Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Welt“, antwortet ein halbes Jahrtausend später der auferstandene Jesus seinen Jüngern auf ihre Frage nach der Zukunft Israels (Apostelgeschichte 1,8). Die Stimme jenes unbekannten Propheten war Jesus aus seiner Bibel, den Heiligen Schriften Israels, vertraut, wenn er in der Bergpredigt die Menschen „selig / glücklich“ preist, „die hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit“, „denn sie sollen satt werden“ (Matthäus 5,6). Wie die prophetische Stimme so nimmt auch Jesus in Kauf, eine Stimme unter vielen anderen zu sein und im Stimmengewirr überhört zu werden – wie heute seine Einladung im Wochenspruch: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken“ (Matthäus 11,28). Aber der prophetische Ruf bleibt. Hört ihn heute jemand? Alle mal herhören! „Auf, alle Durstigen, kommt zum Wasser!“ – „Hört, so werdet ihr leben!“