Palmsonntag - Perspektivwechsel
Heilsame Verbindung zwischen Gott und Mensch
Predigttext | Jesaja 50,4-9 |
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Kirche / Ort: | Ev. Kirche / Herringhausen, 32051 Herford |
Datum: | 13.04.2025 |
Kirchenjahr: | Palmsonntag (6. Sonntag der Passionzeit) |
Autor: | Pfarrer Christian Rasch |
Predigttext: Jesaja 50,4-9 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 2017)
4 Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. 5 Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. 6 Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. 7 Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. 8 Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! 9 Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen.
Erwartungen an den einziehenden König
Was haben sie von ihm erwartet? Dem König, der in niederen Hüllen unter sie tritt und das angebrochene Gottesreich erfahrbar macht? Was haben sie von ihm erwartet, als sie sich an der Straße versammelten und als das erste Mal „Palmsonntag“ geschah?
Die aufgekratzte Menge, die Palmzweige von den Bäumen reißt und sie mit ihren Gewändern im Staub vor Jesus ausbreitet. Jesus auf dem Esel, sanftmütig lächelnd und winkend, den beschwerlichen Weg zum Stadttor von Jerusalem hinauf. Sie erwarteten den Messias, den neuen David, den Friedenskönig, der der Stadt und dem Land den dringend notwendigen Frieden bringt.
Auch ich selbst ertappe mich immer wieder bei dem Wunsch, genau das wäre geschehen, die ganze Geschichte hätte ein Happy End gehabt. Und jedes Mal muss ich wieder mit hindurch: Durch das Leiden, das Zittern und Zagen, das bittere Sterben, die Verzweiflung der alten müden Welt, bevor mir das Licht der Auferstehung einen neuen Morgen zeigt. Eine neue Welt mit neuen, anderen Realitäten. Nehmen wir diesen seltsamen König auf seinem Esel, der durch Spott und Hohn durch den Tod zur Auferstehung schreitet, genauer in den Blick:
Der einziehende König als Gottesknecht
Das taten auch die ersten Christen, indem sie auf Gottes Wort hörten und für sich fündig wurden. In der Rückschau sahen sie in Jesus den leidenden Gottesknecht aus dem Jesajabuch. Speziell im dritten Gottesknechtslied (Jesaja 50,4-9) heißt es (V. 6): Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.
Wer ursprünglich gemeint war mit dieser sanftmütig-mutigen Person, die die Menschen zur rechten Zeit tröstet und wie ein Friedenskönig dem gequälten und unterdrückten Volk Hoffnung und neue Perspektive gibt, bleibt auch für die moderne Wissenschaft ein Geheimnis. Manche halten ihn für den Perserkönig Kyros, der dem Volk im Exil die Freiheit geschenkt hat („Siehe, dein König kommt zu dir…“). Andere sehen in ihm den Propheten, der zeichenhaft für Recht und Gerechtigkeit eintritt („Er ist gerecht, ein Helfer wert…“). Die neueste Forschung identifiziert den Gottesknecht häufig mit dem Volk Israel, das durch sein Leiden, aber auch durch die Beständigkeit im Glauben die Friedensperspektive ermöglicht, die der Knecht Gottes der aus den Fugen geratenen Welt schenkt. Was haben sie von ihm erwartet? Die Antwort ist so einfach, dass sie schon wieder schwer ist.
Sie erwarteten einen König, der Recht und Gerechtigkeit aufrichtet. Für uns gewöhnungsbedürftig: Warum benötigt man dazu einen König? In dieser Erwartung steht die Erkenntnis, dass sich Recht und Gerechtigkeit nicht von selbst machen. Sie müssen durchgesetzt werden. Zu Jesu Zeiten hatte nur ein König die Macht dazu. Und Jesus – der Friedenskönig auf dem Esel – greift in seiner Botschaft auf ein damals wie heute ungewöhnliches Mittel zurück, Recht und Gerechtigkeit durchzusetzen. Er geht scheinbar programmatisch den Weg der Gewaltlosigkeit.
Der Gottesknecht als gewaltloser König?
Wie der Gottesknecht in unserem Predigttext hält Jesus seine Wange denjenigen hin, die ihn schlugen. Mehr noch, in der Bergpredigt rät uns Jesus: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin“ (Matthäus 5,39b). Damit sind wir mitten im Einzug nach Jerusalem und auch mitten im Gottesknechtslied bei uns selbst.
Wir können im Nachhinein die Frage nicht beantworten: „Was haben sie von ihm erwartet?“. Aber wir wissen, was uns erwartet, wenn dieser König einzieht. Es kommt ein Friedenskönig, der die weltlichen Werte umwertet, die menschlichen Sichtweisen in eine neue Perspektive einordnet und uns predigt, dass wir diesen Perspektivwechsel mitvollziehen.
Kaum einer, auch nicht der leidende Gottesknecht, wird seinen Rücken gerne hingehalten haben. Kaum jemand wird es für einen Spaß halten, nach dem ersten Schlag auch noch die andere Wange hinzuhalten. Warum also, über die Jahrtausende der biblischen Überlieferung, immer wieder diese Empfehlung, wenn es um Frieden und Gerechtigkeit geht?
Mit dem gewaltlosen Widerstand der Bergpredigt streifen wir ein heikles Thema, das in unzähligen Interpretationen eine praktikable Lösung gesucht hat. Neuere Interpretationen fassen das Hinhalten der linken Wange als Aufforderung zu sozialem Ungehorsam auf. Der Schlagende musste sich entweder für den rechten Handrücken entscheiden, der in der Antike für Schläge gegen Gleichgestellte im Familienbezug vorbehalten war, oder für die unehrenhafte linke Hand, was ihn dann selbst entwertete. Zudem erfordert das Hinhalten der linken Wange eine Drehung des Kopfes und beinhaltete somit in sich schon einen Blick- bzw. Perspektivwechsel.
Von all dem zunächst unberührt bleibt weiter die Frage: Was haben sie von ihm erwartet? Die Antwort ist so schwer wie einfach. Sie haben einen Menschen erwartet, der Frieden bringt. Frieden ist ein seltsames Phänomen. Wir erleben es gerade in unserer seit dem Mauerfall friedlich geglaubten Welt. Wenn Frieden da ist, ist er selbstverständlich und niemand „kümmert“ sich um ihn. Daraus entsteht eine Haltung, als ob man für den Frieden nichts tun müsse. Daraus entsteht der Glaube, andere würden den Frieden schon nicht aufs Spiel setzen. Daraus entsteht die Verblendung, dass der Friede schon nicht gefährdet wäre – und zur Not könne man ja auf Gewalt verzichten, dann ist der Friede automatisch da.
Gewalt als prophetische Zeichenhandlung
Die biblisch-prophetischen Traditionen, nachzulesen z.B. bei Jesaja und Jeremia, beweisen das Gegenteil. Gewaltverzicht ist keine Ideologie, sondern eine prophetische Haltung, die einen Perspektivwechsel herbeiführen will. Darum sprechen wir in Deutschland z.B. nach dem Verlust des Zweiten Weltkriegs auch nicht von „Niederlage“, sondern von „Befreiung“.
Möglicherweise müssen wir, auch in der christlichen Kirche, lernen, den Unterschied zwischen „falscher“ Gewalt und „richtigem“ Eingreifen zu erkennen. Alle holprigen Erklärungsversuche und Verlautbarungen der Kirchen zur Aufrüstung der Ukraine und Westeuropas insgesamt zeigen aktuell eine seltsame Hilflosigkeit. In diese aktuellen Lebensbezüge spricht uns die Geschichte vom Friedenskönig an, der auf dem Esel in seine Stadt einzieht.
Im Grunde ist sie eine „Initial-Geschichte“. Eine Geschichte, die den Auftakt bildet für das folgende Leiden, für Tod und Auferstehung Jesu. Sie eröffnet dieses Geschehen durch ihre eigene berechtigte Perspektive: Denn die Erwartungen sind ja unübersehbar: Jemand soll für Recht und Gerechtigkeit sorgen. Jemand soll Unterdrückung und Leid beenden. Jemand soll politische Fairness herstellen.
Es liegt in der Natur dieser Auftakt-Geschichte, dass sie zu Palmsonntag letztlich nur eine Perspektive beleuchtet und damit nicht abschließend in der Lage ist, zu beantworten, wer da kommt „im Namen des Herrn“. Dazu müssen die Folgekapitel der Geschichte in den Blick genommen werden. Eine überaus aufschlussreiche Folgeerzählung zeigt uns, wie dieser König denn gewesen sei. In seiner neuen „integralen Dogmatik“ analysiert Tilman Haberer[1] die Nachfolgeszene des Einzugs in Jerusalem als Schlüsselszene des Selbstverständnisses Jesu:
„Bevor er sich mit seinen Schülerinnen und Schülern zum traditionellen Festmahl versammelte, suchte er den Tempel auf. Doch nicht etwa, um zu beten oder ein Opfer zu bringen. Vielmehr zettelte er einen Aufruhr an. Das Markusevangelium erzählt nüchtern: Er fing an, alle hinauszuweisen, die dort Handel trieben oder etwas kauften. Er warf die Tische der Geldwechsler und die Sitze der Taubenverkäufer um und duldete auch nicht, dass jemand etwas über den Tempelhof trug […]. Das später entstandene Johannesevangelium schmückt den dürren Bericht nur ein kleines bisschen aus, indem es erwähnt, dass Jesus sich eine Geißel aus Stricken anfertigte und wohl auch einsetzte. Mit diesem Auftritt knüpft Jesus unmittelbar an eine kultkritische Tradition an, die Propheten wie Amos oder Hosea begründet hatten […]. Diese Propheten, deren Vorbild Jesus folgte, haben grundsätzlich nichts gegen den Gottesdienst im Tempel, sie werfen den Menschen jedoch vor, dass sie den Tempelkult als eine Art Ersatzhandlung betreiben. Statt sich an Gottes Gebot der Barmherzigkeit zu halten, etwa gegenüber den Witwen und Waisen, den sozial Schwächeren in der damaligen Zeit, bringen sie lieber Opfer dar…“
Gewaltlosigkeit als prophetische Zeichenhandlung
Aus dieser Perspektive wird ein konkretes Bild des einziehenden Friedenskönigs gezeichnet. Jesus stellt sich in die prophetische Tradition, indem er eine „wohlkalkulierte politisch-religiöse Zeichenhandlung[2]“ begeht. Dieser Aufruhr stellt diesen als von ihm als herzlos empfundenen Opferkult in Frage. Damit zieht er den Zorn der religiösen Führungsschicht auf sich und das bringt ihn letztlich ans Kreuz. So wird aus dem prophetischen Kultkritiker der leidende Gottesknecht. Die Tempelreinigung ist somit nicht bloß eine „jähzornig-emotionale Schockreaktion[3]“.
Wenn der Gottesknecht seinen Rücken hinhält, dann ist das kein (masochistisches) Einknicken vor der Obrigkeit, auch kein weichherziges und weltfremdes Gutmenschentum, sondern ebenso eine prophetische Zeichenhandlung. Diese geißelt Unrecht und Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung. Sie weist auf den Menschen hin, wie er von Gott gewollt ist, losgelöst aus hohlen Riten und hingewandt zur leidenden Kreatur. Ein Friedenskönig der Frieden bringt, indem er Gott und Menschen versöhnt und damit auch den Menschen befähigt, seinen Nächsten zu lieben.
Der Einzug in Jerusalem kann also nur bedingt beantworten, wer denn dieser Friedenskönig ist. Dieser gewinnt in der Tradition des prophetischen Gottesknechtes Kontur in der Zwischenstation der sogenannten „Tempelreinigung“. Er beantwortet die Frage nach dem „rechten Opfer“, der heilsamen Verbindung zwischen Gott und Mensch, in der Folgestation des Gründonnertags durch die Einsetzung des Abendmahls: Christus gibt sich selbst als Opfer hin. Er erlebt die letzte Gottverlassenheit durch Folter und Kreuzestod und wird am dritten Tag auferweckt von den Toten. Was haben sie an Palmsonntag von ihm erwartet?
Eins ist sicher. Sie haben den Richtigen erwartet. Den Gottesknecht und den König, der Frieden bringt, nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt (Joh 14,27), sondern Gottes Frieden. Darum können wir zurecht miteinstimmen, wenn Menge ruft: „Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn“!
[1] Haberer, Tilman. Von der Anmut der Welt. Entwurf einer integralen Theologie. Gütersloh und München, 2021. S.106ff. [2] Ebd. [3] Ebd.