In den letzten zwei Jahren während der Coronapandemie haben viele Menschen im Homeoffice gearbeitet. Einige Arbeitgeber*innen waren skeptisch, haben sich auch dagegen gestellt, auch einige Arbeitnehmer*innen vermissten die Kolleg*innen im Büro oder auf der Dienststelle. Viele aber haben es genossen, möchten es auch jetzt, wo sich die Krankheit ein wenig zurückgezogen hat, gerne weiter aufrechterhalten. Nicht nur spart man sich den – unter Umständen langen – Weg zur Arbeit, man muss sich auch nicht bürofein anziehen, kann in T-Shirt und Jogginghose oder bei Hitze in Shorts arbeiten. Es fällt niemandem auf, ist bequem. Dass wir uns für die Arbeit anders anziehen als für die Freizeit ist für uns so selbstverständlich, dass wir kaum darüber nachdenken. Aber Kleidung ist eben mehr als nur warm halten und die Blöße bedecken. Was wir anziehen, sagt etwas über uns aus, über unseren Geschmack, unser Alter, unsere Aufgabe, unseren Status, über unseren Glauben, ob wir uns zu Hause auf der Couch befinden oder auf der Arbeit.
Daran wurde ich erinnert, als ich den Predigttext für heute, den Sonntag Kantate, las. Denn hier im Kolosserbrief werden wir auch aufgefordert, uns neu anzuziehen, als Auserwählte, als Heilige Gottes. Nun gibt es Religionen, die genaue Kleidervorschriften haben – angeblich oder auch nicht direkt in den heiligen Schriften vorgegeben. Gerade hören wir, dass die Frauen in Afghanistan ihr Gesicht bedecken müssen, am liebsten auch noch die Augen durch ein Gitter verhüllen, wenn sie nach draußen gehen. Aber als Christen und Christinnen kennen wir so etwas kaum, nur aus unserer Vergangenheit, als Frauen im Gottesdienst einen Hut oder Kopftuch tragen mussten, in Italien sollen Frauen auch aufgefordert worden sein, bei Kirchenbesichtigungen nichts Ärmelloses anzuziehen. Ich habe es immer als besonderes Geschenk empfunden, dass wir so frei in der Auswahl unserer Kleidung sein dürfen.
Aber es geht dann doch nicht um unsere äußere Kleidung. Wir sollen etwas ganz anderes anziehen: herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld. Es geht um unser Verhalten, und so, wie man sich in Bürokleidung im Büro anders verhält als zu Hause vor dem Bildschirm, so sollen auch wir uns als Christen und Christinnen anders verhalten als wir es sonst tun würden. Das ist nicht nur äußerlich – man denkt ja gerne, Kleidungsstil wäre nur etwas äußerliches – sondern es verändert uns, den ganzen Menschen.
Es sind große Forderungen, die an uns gestellt werden. Wir sollen Erbarmen – herzliches Erbarmen – mit anderen Menschen haben. Das ist ein altmodisches Wort. Es meint nicht unbedingt Mitleid, sondern wenn man mit jemandem Erbarmen hat, dann sieht man den ganzen Menschen, sieht, warum er oder sie ist, wie er ist, kann verstehen, wo jemand anders handelt, ich kann es gutheißen und hoffentlich vergeben. Ich soll Freundlichkeit anziehen. „Harte Schale, weicher Kern“, so wird gern über Menschen gesagt, die bestimmend und unnachgiebigerscheinen. Das mag so zutreffen, aber im Kolosserbrief wird von uns gefordert, dass wir Freundlichkeit anziehen, dass nicht nur unser Kern weich ist, sondern alles, und dass es keine gespielte, unechte Freundlichkeit ist, sondern dass wir wirklich freundlich gegenüber anderen sind.
Demut ist auch so ein altmodisches Wort, das stark in Verruf und in Vergessenheit geraten ist. In einer Zeit der Selbstoptimierung und der Selbstvermarktung mag niemand demütig erscheinen. Wir sind es gewohnt, das Beste aus uns herauszuholen, und gut zu verkaufen. Demut ist da eher hinderlich, ebenso wie Sanftmut. Auch Geduld ist heute eher selten, möglichst alles gleichzeitig und sofort ist, was wir uns wünschen. In den Zeiten des Internets geht so vieles so viel schneller als früher, dass Geduld eher überflüssig zu sein scheint. Andererseits scheint dem Briefschreiber bewusst zu sein, dass wir das alles nicht immer schaffen. Sonst hätte er nicht extra erwähnen müssen, dass wir einander vergeben sollen. Denn wenn wir immer alle freundlich, demütig, erbarmungsvoll wären, dann gäbe es da nichts zu vergeben. Wir sollen uns auch nicht am Verhalten der anderen ausrichten, was sie uns angetan haben, sondern an Gottes Verhalten, der uns vergibt, wenn wir wieder einmal versagt haben.
Die Worte aus dem Kolosserbrief werden auch für einen Traugottesdienst ausgewählt, weil sie über die Liebe, die man anziehen soll, so gut für ein Ehepaar passen. Die Liebe ist das Band der Vollkommenheit, so wird es hier beschrieben. Das ist schon in einer Zweierbeziehung nicht immer durchzuhalten, und was einige Menschen für Liebe in einer Partnerschaft halten, ist für andere nicht zu begreifen. Liebe ist das, was wir vorher schon anziehen sollten: Demut – dankbar zu sein, dass es die anderen gibt – Sanftmut, Freundlichkeit, Empathie und Frieden. So sollten nicht nur Paare miteinander umgehen, sondern wir miteinander in unseren Gemeinden mit Worten und Taten. Aber es wird nicht nach unseren Absichten gefragt, ob wir vielleicht das Beste wollten, da wird nicht gefragt, ob es gut für den anderen ist, auch wenn es ihn schmerzt, es wird nicht gefragt, wie berechtigt unser Verhallten ist. Es wird verlangt, dass wir Liebe anziehen und Sanftmut, damit wir im Frieden Christi miteinander leben können. Und übrigens: Anders als wir es kennen mit unseren vollen Kleiderschränken und unserer Wegwerfmode – das Anziehen als Auserwählte Gottes soll für immer sein, nicht nur für den nächsten Auftritt.
Zum Zusammenleben im Frieden Christi gehört auch das gemeinsame Feiern des Gottesdienstes. Auch hier hat die Coronapandemie Vieles verändert. Mir ist erst in dieser Zeit bewusst geworden, wie sehr ich Gottesdienste vermisse, vorher waren sie einfach eine Selbstverständlichkeit. Fernsehgottesdienste waren kein Ersatz. Es fehlten die anderen in der Gemeinde, jemand, der auch mal hustete oder flüsterte, teilweise sogar die Konfirmand*innen, die ein wenig störten. Es fehlte der gemeinsame Gesang, auch der kleine Klönschnack vor oder nach dem Gottesdienst. Die Gemeinschaft macht den Unterschied.
Leben als Christ*in stellt hohe Ansprüche an mich. Jesus hat es uns nicht so leicht gemacht, er hat den Schwerpunkt auf unser Verhalten, auf unseren Umgang miteinander gelegt. Da ist nicht immer leicht zu erkennen, was richtig ist und was falsch. Trotzdem dürfen wir nicht aufgeben. Wenn wir den Predigttext beherzigen, und alles, was wir tun, mit Worten oder mit Werken, im Namen Jesu Christi tun, Gott dankbar sind, für das, was uns geschenkt ist, dann sind wir zumindestens auf dem richtigen Weg.