I.
Jesus und die Jünger, da sitzen sie wieder an der langen Tafel beim Abendessen, nachdem Jesus seinen Freunden gerade die Füße gewaschen hatte. – So machte sich der Herr zum Diener aller. Ein Beispiel seiner Barmherzigkeit und Demut zum Vorbild für seine Gefährten und alle, die ihm nachfolgen. Plötzlich nimmt die Mahlfeier jedoch eine dramatische Wende. Von einem auf den anderen Augenblick weicht die friedliche Eintracht der verwirrten Erregung; die Stimmung im Abendmahlssaal kippt. Von Jesus selbst geht diese Erregung aus, als er den Jüngern seinen Verrat ankündigt und noch schlimmer durch einen von ihnen:„Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten.“ Eine schockierende Nachricht! Wie ein lodernder Funke springt die Aufregung sogleich auf die Jünger über. Entgeistert sehen sie einander an und fragen sich, wovon und von wem der Herr redet.
Was für eine dramatische Szene! Niemand hat sie so eindrücklich bildlich dargestellt wie das Malergenie Leonardo da Vinci in seinem Fresko „Das letzte Abendmahl“, entstanden 1493-1497, auf dem Höhepunkt der Hochrenaissance. Bis heute ziert es das Refektorium des Klosters Santa Maria delle Grazie in Mailand. Genau dieser Moment der Verratsankündigung und die Reaktion der Jünger darauf gerinnt bei Leonardo zu einem plastischen Bild.
Wie eine Momentaufnahme, die so lebendig auf den Betrachter wirkt, als sei man selbst mit dabei im Abendmahlssaal in Jerusalem, obwohl man in Wirklichkeit in Mailand in einem Klostersaal steht. Es ist, als stände man auf der anderen Seite, gegenüber von den Jüngern, am festlich gedeckten Tisch und würde alles aus der Nähe beobachten. Jede Regung auf den Gesichtern der Jünger nimmt man wahr: die Bestürzung und Angst, die Ratlosigkeit und Verwirrung, die abwehrenden Gesten und aufgeregten Gespräche und die bange Frage:
„Herr, wer ist‘s?“ Wieder einmal übernimmt Simon Petrus eine Führungsrolle innerhalb der Jüngergruppe. Er ergreift die Initiative und lässt denjenigen von ihnen sprechen, der augenscheinlich ein besonders herzliches Verhältnis zu Jesus hat, den sog. Lieblingsjünger Jesu. Vertrauensvoll schmiegt er sich an Jesu Brust und traut sich zu fragen – im Gegensatz zu den anderen Jüngern
II.
Erstmals im gesamten Evangelium taucht der sog. Lieblingsjünger Jesu, der rätselhafteste aller Jünger, hier auf. Genau in dieser dramatischen Szene, mitten in den Abschiedsreden Jesu, kurz vor seinem Tod, hat er seinen entscheidenden Auftritt. Auch hier bleibt er wie an allen späteren Stellen ohne Namen, anonym, geheimnisvoll. Aber genau er, der Inbegriff des Vertrauens in Jesus, findet den direkten Zugang zum Herrn! Dieses glaubende Vertrauen verlässt ihn bis zum Ende nicht und verleiht ihm einen ganz erstaunlichen Mut:
Johannes ist der einzige, der später bei Jesus am Kreuz steht; er ist der erste, der – noch vor Petrus! – am leeren Grab ankommt. Und der erste, der den Auferstandenen erkennt und sich zu ihm bekennt. So wurde der Lieblingsjünger zum Glaubensvorbild für die johanneische Gemeinde, an die sich das Johannesevangelium richtet. Und so wird er auch zum Glaubensvorbild für uns, die wir es heute lesen.
III.
Das Johannesevangelium, liebe Gemeinde, ist im Grunde genommen eine einzige Einladung zum Glauben an Jesus. Im Schlussteil wird diese Hauptabsicht klar ausgesprochen, wenn es dort heißt: „Diese (Zeichen) aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt seinem Namen.“ (Joh 20,31). Nur allzu gut weiß der johanneische Schreiber, dass sich die Geister an Jesus scheiden: da sind die, die ihn ablehnen, darunter die jüdische Obrigkeit; und da sind die, die an ihn glauben und ihm nachfolgen, so wie die Jünger.
Aber selbst diese engsten Gefährten erliegen immer wieder krassen Missverständnissen. So auch hier in der Verratsszene, wo einige bis zum Schluss meinen, mit seiner Aufforderung an Judas „Was du tun musst, das tue bald!“ (13,27) würde sich Jesus auf den Festeinkauf oder auf eine Zuwendung an die Armen durch Judas beziehen, der soz. der „Finanzchef“ der Jüngergruppe war. Einzig der Lieblingsjünger weiß, dass Jesus meint, was er sagt: Verraten wird ihn der, dem er den Bissen reicht – Judas Iskariot. Im wahrsten Sinne des Wortes der Teufel, der Satan, so die Überzeugung des Schreibers, war es, der dem Judas diesen teuflischen Plan ins Herz gegeben hatte.
IV.
Wie ein Kammerspiel auf einer Theaterbühne oder wie eine lebendige Filmszene im Kino spielt sich dieser Predigttext beim Hören vor unserem inneren Auge ab. Die Rollen in diesem Theaterstück sind eindeutig besetzt: die Rolle des Verräters, Judas, der Jesus ans Messer liefert und die Rolle des Lieblingsjüngers, der Jesus folgt bis zu seinem Tod am Kreuz. Am Glauben an Jesus scheiden sich die Geister. Damals wie heute.
Einer wendet sich von Jesus ab; ein anderer ihm zu, voll innigem Vertrauen und herzlicher Liebe. Es geht im Glauben immer um die persönliche Entscheidung, die letztlich eine Entscheidung des Herzens ist. Bleibe ich bei Jesus oder kehre ich mich wieder ab? Was sagt mein Herz? Ich frage mich: Ist mein Glaube stark oder schwach? Und wie stark ist er, wenn er auf die Probe gestellt wird?
Wer ist Jesus für mich? Ich höre und lese: Es ist genau dieser Jesus, der seinen Jüngern die Füße wäscht, also die Rollen von oben und unten vertauscht, um der Barmherzigkeit willen. Will heißen: auch den niederen Dienst scheut er nicht, der normalerweise den Dienern obliegt, in der Antike Sklavenarbeit war. So macht sich der Herr zum Knecht und Diener aller; die Rollen von oben und unten vertauschen sich. Jesus ist gekommen, nicht um zu herrschen, sondern zu dienen und allen Menschen seine Barmherzigkeit zu erweisen. Und das gilt auch für mich, ganz persönlich!
Sogar seinem späteren Verräters Judas hat Jesus damals die Füße gewaschen, ausgerechnet ihm. So groß ist die Liebe Jesu und seine Vergebung, stärker als aller Hass in der Welt! Mit seiner barmherzigen Tat gibt er uns ChristInnen ein Vorbild der Menschlichkeit gegenüber unseren geringsten Brüdern und Schwestern und sagt: „Denn ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.“ (Joh 13,15). Die brüderliche, geschwisterliche Liebe legt der johanneische Christus uns ans Herz. Wie ein roter Faden zieht sie sich durch alle johanneischen Schriften.
V.
Lassen wir uns einladen oder sind wir abgeschreckt von dieser Einladung zur Barmherzigkeit auch gegenüber den geringsten unserer Brüder und Schwestern? Wollen und können wir diesem Beispiel Jesu folgen? Auf welcher Seite stehen wir? Geht es uns vielleicht oft wie den Jüngern und unser Glaube stolpert auf Schritt und Tritt über Missverständnisse, die ihn hindern? Wo haben wir andererseits schon solche innigen Glaubensmomente erlebt wie der Lieblingsjünger, solche Sternstunden gläubigen Vertrauens, in denen wir uns mit dem Herzen ganz nah beim Herrn gefühlt haben, bei Jesus geborgen?
Das kann auch in einem Moment großer Angst und Traurigkeit geschehen, wo uns trotz allem unser Vertrauen nicht verlässt. Wie damals den Lieblingsjünger, der sich an Jesus schmiegt, als um ihn herum alle in Panik und Verwirrung geraten. Mag unser Glaubensleben mitunter ein Auf und Ab sein oder manchmal sogar einer Achterbahn der Gefühle gleichen.
Wohl dem, den sein Glaube trotz allem nicht verlässt. Dessen Herz beim Herrn bleibt, mit Jesus verbunden auch in solchen Momenten der ängstlichen Bangigkeit, was werden wird. Dieses gläubige Vertrauen kann einem vermeintlich schwachen Menschen unerwarteten Mut verleihen. So wie damals dem Lieblingsjünger im Johannesevangelium, der tapfer bei Jesus bleibt, als die anderen Jünger wankelmütig werden, aber der Lieblingsjünger nicht.
Beherzt wird Johannes den ganzen Weg mit Jesus bis unter das Kreuz gehen und an sein Grab. Dort darf er erfahren, dass sein Glaube nicht enttäuscht wird.; dass der auferstandene Herr bei ihm bleibt und er bei ihm. Seine Geschichte mit Jesus geht weiter, auch nach Karfreitag und Ostern. Jesus ist da und bleibt beim Lieblingsjünger, aber genauso bei allen Menschen, die Jesus ihr Herz zuwenden. Das gilt auch für jeden von uns heute, die wir uns in Jesu Namen versammelt haben. Es gilt, egal wie stark oder schwach mein oder dein Glaube gerade ist. Der auferstandene Herr will bei uns sein in jedem Moment unseres Lebens; und er will bei uns bleiben, was auch immer geschieht. Er will uns nahe sein mit seiner Barmherzigkeit und Liebe, die von Gott kommt, der die Liebe in Fülle ist.
VI.
Das ist der Weg des Glaubens, dieser österliche Weg, den wir in diesen Wochen vor Ostern auch kirchenjahreszeitlich miteinander gehen. Wir gehen durch die Passionszeit der Karwoche entgegen, also der Zeit der „cara“, mittelhochdeutsch der Klage und Trauer um Jesus. An Aschermittwoch haben die Passionswochen begonnen, die uns Raum und Zeit geben, das Leiden Jesu in den Blick zu nehmen und damit verbunden auch das Leid in der Welt.
So wie Jesus sein Herz barmherzig den geringsten seiner Brüder und Schwestern zugewandt hat, so sollen auch wir uns vom Leid unserer Mitmenschen berühren zu lassen, von der körperlichen, seelischen oder materiellen Not aller Leidenden unserer Tage. Seien sie ganz nah bei uns, in unserer unmittelbaren Nähe, in der eigenen Familie, dem Freundeskreis oder der Nachbarschaft. Oder sei es die Not unsere ferneren Nächsten in der Welt, wo Hunger, Krieg, Gewalt, Krankheit und Not herrschen.
Die Passionszeit öffnet uns den Blick dafür, was wir haben und wo es fehlt an dem, was Menschen brauchen zum Leben und Überleben. Die Passionszeit, eine nachdenkliche, leise Zeit. Kirchlich gesehen ist es darum eine Buß- und Fastenzeit. Wir gehen durch 7 Wochen der Selbstbesinnung und Selbstbeschränkung, um dann an Ostern wieder die Fülle aller Güter in österliche Freude zu genießen.
Heute, am ersten Sonntag der Passionszeit, starten wir in diese nachdenklichen Wochen vor Ostern. Unser Predigttext aus dem Johannesevangelium hat uns schon mitten hineingeführt in das Passionsgeschehen, in den Hass, der Judas ins Herz gefahren ist und in das innige Vertrauen des Lieblingsjüngers zu Jesus, von dem es im Johannesevangelium heißt: „…den hatte Jesus lieb.“ (Joh 13,23) Was sagt unser Herz? Worauf setzen wir unser Vertrauen?